Stellen Sie sich vor, Ihr Traum vom Eigenheim droht zu platzen. Eigentlich ist alles genau durchgeplant – und das Fundament bereits ausgehoben. Doch von heute auf morgen scheint kein Rädchen mehr ins andere zu greifen. Kurze Zeit später herrscht auf Ihrer Baustelle absoluter Stillstand. Wie würden Sie in einer solchen Situation reagieren, damit Ihr (Lebens-)Werk zu keiner Bausünde wird? Pauschal lässt sich diese Frage kaum seriös beantworten, weil jeder Hausbau anders ist und es keine Patentrezepte für kompliziertere Problemlösungen gibt.
Regelrecht komplex wird es, wenn man sich anstatt eines gewöhnlichen Hauses ein Unternehmen mit seinen vielfältigen Strukturen, Prozessen und individuellen Mitarbeitern vorstellt. Die Rolle eines Managers ist meist noch deutlich komplizierter als die eines Bauherrn. Und doch hat Dr. Christian Abegglen den (erfolgreichen) Versuch unternommen, ein Buch zu konzipieren, das Führungskräfte pragmatisch anleiten will, ein Unternehmen auf Vordermann zu bringen. Und zwar auch jene Betriebe, in denen es an vielen Stellen zwickt und zwackt.
Das Buch verfolgt das Ziel, „eine prozess- und beziehungsorientierte Routine zu gewinnen, das Unternehmen in ein neues, ganzheitliches, sich ständig aktualisierendes Licht zu rücken. So verhindern wir ein Verlieren in Symptome und Einzelaktivitäten und machen uns frei für das kreative Schaffen einer neuen Welt.“ Der Autor konnte dabei zwar auf einen stabilen Rohbau zurückgreifen. Der Innenausbau aber ist genau wie die Außenfassade häufig nicht weniger bedeutend und herausfordernd. Welche Heizung bauen wir ein? Welches Material wählen wir für unser Dach? Wie soll unsere Küche genau aussehen? Und so weiter und so fort …
Paradigmenwechsel in der Unternehmensführung
Das sogenannte Denk- und Arbeitsbuch gegen den organisierten Stillstand ist für Unternehmer und Manager konzipiert, die erfolgreich gegen eben diesen Leerlauf ankämpfen und sich der Komplexität ihres Betriebes stellen wollen. Es trifft den unternehmerischen Zeitgeist, auch weil es mitten ins digitale Zeitalter fällt, das nach einem Paradigmenwechsel in der Unternehmensführung verlangt – ja, ihn sogar notwendig macht. Das Ausmaß dieser digitalen Revolution – im produzierenden Gewerbe bezeichnet man sie meist als Industrie 4.0 – wird in diesem Buch zu Recht mit der Erfindung des Buchdrucks und der Dampfmaschine gleichgesetzt.
Aufgrund des technologischen Wandels werden lange bewährte Zukunftsvisionen plötzlich obsolet; das eigene Unternehmen kann, häufig noch unbemerkt, auf bestem Wege zur Bausünde sein, sodass unternehmerische Architekten und Bauherrn – im Buch selbst werden sie in einer Person als Archibuilder (Architect & Builder) bezeichnet – sich selbst und Ihre Geschäftsmodelle neu aufstellen, wenn nicht ganz neu erfinden müssen. Wohlgemerkt und selbstverständlich bei laufendem Betrieb.
Einnahme der Heli-Perspektive
Es ist wichtig – auch das wird beim Lesen schnell deutlich –, dass man dabei Unternehmensentwicklung als stetigen Prozess begreift, denn ein Spatenstich macht bekanntlich noch keinen Sonnenhof. Die Irrwege der Unternehmen rühren häufig daher, dass künftige Ziele gleichermaßen wechselnd und unbekannt sind; wenn der alte, vielleicht längere Zeit richtige Kurs trotzdem beibehalten wird, droht ein Unternehmen in die Binsen zu gehen. Deshalb soll mit diesem Buch eine Routine, allen voran eine Erfahrungs- und Vermittlungskompetenz, erarbeitet werden, das eigene Unternehmen zukunftsfest zu machen – und zwar immer und immer wieder. Den Gesamtzusammenhang können die Führungskräfte dabei nur im Blick behalten, wenn sie von oben auf das komplexe Gebilde hinunterblicken (Heli-Perspektive).
Das sogenannte „Lehrstellengerüst für Sinnvolles“ bildet der St. Galler Management Ansatz, welcher zu Beginn der 1970er Jahre vom Schweizer Ökonomen Hans Ulrich ins Leben gerufen worden ist. Er stellt einen systemischen Bezugsrahmen für ein gesamthaftes Durchdringen aller Facetten des normativen, strategischen und operativen Managements her. Ulrichs Nachfolger Knut Bleicher schuf auf Basis dieses Ansatzes ein Modell, das Unternehmen in komplexen Situationen beleuchtet – mit Fokus auf der normativen und strategischen Ebene.
Viel Leben auf operativer Ebene
Abegglen wiederum entwickelte im Denk- und Arbeitsbuch das St. Galler Management HAUS dergestalt weiter, dass es den bisherigen Ansätzen auch in operativer Hinsicht viel Leben einhaucht und eine sukzessiv-permanente Neuausrichtung des Unternehmens ermöglicht. Der Ansatz bietet der Unternehmensleitung die Verknüpfung theoretisch-wissenschaftlicher Grundlagen mit praktikablen Führungselementen. Dabei steht nicht das Bekämpfen bloßer Symptome und damit ein Fokus auf das Sichtbare im Vordergrund, sondern es sollen die darunterliegenden Ursachen, also das zunächst Unsichtbare, effektiv angegangen werden (Eisberg-Metapher). Dies ist essentiell, um ein Unternehmen wieder konkurrenzfähig zu machen.
Das Buch gliedert sich in einen „Leseraum“ (S. 28-111) und einen „Arbeitsraum“ (S. 112-195). Dabei werden die Dimensionen Raum (S. 43-90), Zeit (S. 91-104) und Mensch (S. 105-111) aufgespannt. Die sinngebenden Werkzeuge auf der Baustelle „Unternehmung“ sind der St. Galler Denk- und Wissensnavigator und das St. Galler Management HAUS. Im Rahmen des Denk- und Wissensnavigators wird nach Einrichten eines „Operations Room“ die aktuelle Lage des Unternehmens anhand von vier Themenfeldern (Produkt/Technologie, Markt, Human Resources und Finanzen) analysiert. Zuvor wird geprüft, in welcher Lebenszyklusphase sich das Unternehmen befindet (Phasenanzeiger) und, ob es sich einem chronischen Trott gegenübersieht (Stillstandsbarometer).
Neu erfinden oder optimieren?
Durch die Lagebeurteilung werden notwendige Kursänderungen und Zielkorrekturen schnell offensichtlich. Außerdem kommt der sogenannte „Rapid Scanner“ zum Einsatz, der das Sichtbare anhand des St. Galler Tableaus unter die Lupe nimmt. Im Ergebnis dieses Blitz-Checkups hat man eine hervorragende Entscheidungsgrundlage für die Frage: „Reinvent“ oder „Optimize“? Übertragen auf den Hausbau könnte sie so lauten: Komplette Entkernung und Neurenovierung oder nur leichte Veränderungen, beispielsweise an der Fassade?
Nun kann im sogenannten Ziel- und Kursbereich die Unternehmenslage im Detail analysiert werden. Hierbei wird mit Hilfe des „3D-Scanners“, welcher die gesamte Firma durchleuchtet, das Unsichtbare des Unternehmens sichtbar gemacht. Auch für das „Soll-Screening“ der Zukunft kann man den 3D-Scanner wirksam einsetzen. Durch einen Abgleich zwischen Realität und Vision gelingt es, bis dato unbekannte Ziele zu definieren und passende Optionen für deren Erreichung zu ermitteln. Vom Autor selbst stammt das Zitat: „Wer den künftigen Kurs nicht kennt, kann sein Unternehmen auch nicht manövrieren.“
Unternehmensweiter Masterplan
Doch nun ist die Richtung festgelegt, sodass im Fahr- und Manövrierbereich die angepeilten Strecken mittels eines unternehmensweiten Masterplans in Angriff genommen werden können. Direkt daran anknüpfend und bereits zuvor durchdacht, folgt die Optimierungsphase, in welcher verschiedene Bereiche im Detail ausgefeilt oder nachgebessert werden, um die Unternehmensabläufe zu optimieren. Je nach Bedarf können dann die einzelnen Phasen wiederholt angewendet werden, um ein immer klareres Bild vom eigenen Unternehmen zu erhalten.
Am Ende wird mit Hilfe des St. Galler Management HAUS das Unternehmen funktionstüchtig gemacht. Mit diesem Denkansatz lässt sich die Komplexität eines Unternehmens in neun miteinander verbundenen Räumlichkeiten darstellen, planen, weiterentwickeln und umbauen. Dabei verkörpert das Fundament des Hauses die Vision und Strategie des Eigners. Die darauf aufbauenden drei Etagen setzen sich aus der operativen Etage (untere Etage), der strategischen Etage (mittlere Etage) und der normativen Etage (obere Etage) zusammen.
Vermeidung von Silodenken
Die untere Etage beinhaltet Handlungen, Aufgaben und Prozesse. Die mittlere Etage besteht aus dem Führungsverständnis, Stoßrichtungen und der Organisation, die oberste Etage umfasst die Räume Kultur, Politik und Verfassung. Auf jeder dieser Etagen befinden sich also jeweils drei Raum-Module, die grob voneinander abgrenzende Themenfelder darstellen. Die Etagen werden nicht nur mittels Türen in der Horizontalen, sondern auch durch eine Verhaltens-, Aktivitäten- und Strukturentreppe miteinander verbunden, um „Silodenken“ zu vermeiden.
Im St. Galler Management HAUS werden darüber hinaus vier farbig codierte Bausteintypen unterschieden, die sich aus den Anfangsbuchstaben des Wortes „HAUS“ zusammensetzen. Dabei bilden sie Extremvarianten und spiegeln die Vielfalt der Unternehmenswelt wider. Das „H“ steht für sachorientiert, das „A“ für traditionsorientiert, das „U“ für intuitionsorientiert und das „S“ für gefühlsorientiert.
Arbeitsraum zum Handanlegen
Im Arbeitsraum des Buches kann man schließlich selbst tätig werden. Das Unternehmen soll hier in den einzelnen Phasen des St. Galler Denk- und Wissensnavigators bewertet, konfiguriert und bei Bedarf neu ausgerichtet werden. Der Arbeitsraum beinhaltet diverse Informationen, Tests und Auswertungen für das eigene Unternehmen. Dabei spielt das iterative und rekursive Vorgehen eine wichtige Rolle, denn durch das fortwährende Wiederholen der gleichen Fragestellungen in unterschiedlichen Dimensionen erhält man nicht nur einen besseren Überblick über das Unternehmen und dessen Problemzonen, sondern auch erfolgsversprechende Lösungsansätze und nicht zuletzt die avisierte Vermittlungs-/Erfahrungskompetenz.
Ausklappbare Spickzettel und digitales Bonusmaterial helfen, während des iterativen Prozesses den Überblick zu behalten. Garniert ist das Werk mit Aussagen erfolgreicher Unternehmer und kurzweiliger Anekdoten, Definitionen sowie Erläuterungen in den Marginalspalten. „Unternehmen neu erfinden – Das Denk- und Arbeitsbuch gegen den organisierten Stillstand“ ist im Frühsommer dieses Jahres als Frankfurter Allgemeine Buch im gleichnamigen Verlag erschienen.
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