Ein Fußball-Buch mit dem Titel: „Warum verliert Deutschland?“ würde hierzulande kein Verkaufsschlager werden. Zum einen geht diese Frage an unserer Nationalmannschaft vorbei. Sie hat bei den zehn Weltmeisterschaften seit 1970 sieben Mal mindestens das Halbfinale erreicht, was selbst dem Rekord-Titelträger Brasilien nicht gelungen ist (siehe Abbildung 1). Zum anderen ist uns nicht die nötige Selbstironie zu eigen, die für einen Engländer typisch ist. So ist es nicht verwunderlich, dass das lesenswerte Werk “Why England lose & other curious football phenomena explained“ kürzlich ausgerechnet im Mutterland des Fußballs erschienen ist, das seit 1966 auf eine Weltmeister-Trophäe wartet.
Abbildung 1: Erfolgsbilanz bei Weltmeisterschaften
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Quelle: Fifa, eigene Darstellung.
So abgedroschen die sportliche Bezeichnung des Inselstaates auch ist und so platt der Titel von den beiden Autoren Simon Kuper und Stefan Szymanski – einem Sportjournalisten und einem Sportökonomen – gewählt wurde: Das Buch ist keine wirre Ansammlung von Plattitüten, sondern ein (meistens) strukturierter Versuch, das Phänomen Fußball ökonomisch zu erklären, auch wenn die verwendeten ökonometrischen Methoden nicht immer konsistent sind. Was also ist die wichtigste Erkenntnis der beiden Autoren wenige Monate vor der mit Spannung erwarteten Weltmeisterschaft in Südafrika? Für die Engländer ganz sicher, dass ihre Nationalmannschaft nicht so schlecht dasteht wie vermutet, sondern eben nur die entscheidenden Spiele bei den WM-Turnieren verloren hat, davon dreimal im Elfmeter-Schießen.
Einwohner, Erfolg und Erfahrung
Für den gemeinen Leser hingegen, dass Fußball-Resultate keineswegs bloße Zufallsprodukte sind, sondern zu einem großen Teil erklärt werden können: Mit der Größe des Landes (gemessen an der Einwohnerzahl), dem Erfolg der Volkswirtschaft (gemessen am BIP pro Kopf) und der Erfahrung der Nationalelf (gemessen an der Zahl der Länderspiele). Zudem wird bei den ökonometrischen Berechnungen noch ein etwaiger Heimvorteil berücksichtigt. Als Regressand dient die Tordifferenz, was nicht ganz schlüssig ist: Denn warum soll ein 6:2-Sieg das Vierfache eines 1:0-Erfolges wert sein, wo letzterer doch auch drei Punkte einbringt oder das Weiterkommen sichert?
Die überraschende Rangfolge der erfolgreichsten Nationen auf der Welt – Honduras vor Irak und Syrien – legt aber noch ein weiteres Problem offen, das auch Kuper/Szymanski ins Grübeln geraten ließ. Die vermeintlichen Titanen spielen meist gegen Fußballzwerge aus ihrer jeweiligen Region. So macht es durchaus Sinn bei den Überlegungen nur die europäischen Nationalmannschaften zu berücksichtigen, gehören sie doch einem relativ homogenen Wirtschaftsraum mit seriös ausgewiesenen Daten und einer langen Fußball-Tradition an.
Georgien an der Spitze
Die erfolgreichsten Länder zwischen 1980 und 2001 waren – gemessen an der überdurchschnittlichen Tordifferenz bei allen innereuropäisch ausgetragenen Spielen – Georgien (plus 1,167 Tore), Serbien (1,099) und Kroatien (0,901, siehe Abbildung 2). Das Spitzentrio profitiert allerdings von seiner noch jungen Vergangenheit und den wenigen Länderspielen, für die mittels der Erfahrungsvariablen kontrolliert wird. Eine deutlich bessere Performance als erwartet weisen auch Portugal (0,55), die Niederlande (0,486) und Spanien (0,241) aus, erwartungsgemäß schneiden Frankreich (0,029) und Belgien (minus 0,004) ab, weit unter der Benchmark liegen Russland (-0,39) und die Türkei (-1,044). Der Rückstand dieser bevölkerungsreichen Nationen wird sich aber nach Meinung der Autoren in Zukunft ändern: “[…] Russia and Turkey […] were all beneficiaries of the spread of football know-how to marginal countries. When all countries have about the same football information, and converging incomes, the countries with the most inhabitants usually win. (p. 330)“
Abbildung 2: Erfolgsbilanz ausgewählter europäischer Länder zwischen 1980 und 2001
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Quelle: Kuper/Szymanski (2009, S. 309f.), eigene Darstellung.
Ausländerquote und Spillover-Netzwerke
Ob es in Bälde wirklich soweit kommt, dass afrikanische Länder, die USA und China die Weltmeistertitel unter sich ausmachen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass die Integration von Kapital und Arbeit im Fußball weit fortgeschritten ist. Während nur etwa zwei Prozent der Europäer außerhalb ihres Heimatlandes leben und arbeiten, sind Vereinsmannschaften häufig eine Ansammlung von Arbeitnehmern aus den unterschiedlichsten Nationen – und das ist auch gut so: Denn eine hohe Ausländerquote macht die Ligen attraktiver und die eigene Nationalelf nicht zwangsläufig schwächer, sondern aufgrund der gestiegenen Konkurrenz womöglich sogar stärker.
Gleiches gilt für Spillover-Effekte. Die geografische Isolation ist für die Autoren der Hauptgrund, warum sich der englische Fußball vor der Globalisierung und der Entwicklung der IuK-Technologien schwächer präsentierte als Zentraleuropa: “Networks are key to the latest thinking about economic development. Better networks are one reason why some countries are richer than others. As it happens, networks also help explain why some countries have done better in football than England. (p. 26)“
Es dreht sich in dem Buch aber nicht alles um den Nabel der Fußballwelt. Manche Kapitel mögen für den an wirtschaftlichen Zusammenhängen interessierten Leser weniger spannend sein wie die Charakterisierung eines alltagstauglichen Fußballfans oder die Lebensgeschichte des holländischen Tausendsassas Guus Hiddink. Andere Abschnitte sind hingegen hochgradig ökonomisch.
So haben die Autoren herausgefunden, dass sportlich und damit auch wirtschaftlich ausgeglichene Ligen – Spielergehälter, nicht aber die Transfersummen erklären den Erfolg der Mannschaften hinreichend genau – von den Konsumenten keineswegs gewollt sind. Kuper/Szymanski liefern hierfür verschiedene Erklärungsansätze, beispielsweise ist die Zahl der Stadionbesucher in den letzten Jahren nach oben geschnellt, obgleich die Dominanz der großen Teams gestiegen ist. Auch haben Psychologen herausgefunden, dass Fußballfans gewöhnliche Niederlagen ihrer Mannschaften gut verdauen.
Fußballvereine sind resistent
Das liegt womöglich auch daran, dass Klubs quasi eine Bestandsgarantie für alle Ewigkeiten haben so wie Schnee auf dem Mount Everest. Sie überstehen Kriege, Rezessionen und Korruption. Während die Hälfte der größten englischen Unternehmen aus dem Jahr 1912 pleite gegangen ist, verstaatlicht oder übernommen wurde, haben die Vereine fast alle überlebt; die meisten sind sogar in den Spitzenligen geblieben.
Eine Erklärung hierfür ist, dass das Verschwinden eines Fußballklubs für die Konkurrenz in der Regel kein Grund zur Freude ist, sondern sogar ein Verlustgeschäft sein kann, beispielsweise weil traditionsreiche Derbys wegfallen. Moral-Hazard-Verhalten wird auch noch durch eine andere Entwicklung gefördert: Zahlungskräftige Investoren – die in der Premier League im Gegensatz zur Bundesliga vollständige Klub-Eigentümer werden dürfen – retten die Vereine im worst case vor dem Bankrott.
Wer bei alledem die Sozialromantik amerikanischer Sportligen herbeisehnt, der sei vertröstet: Mannschaften aus den sieben größten Metropolen Europas – Istanbul, Paris, Moskau, London, St. Petersburg, Berlin und Athen – haben noch keinen einzigen europäischen Titel gewonnen, während Nottingham, Glasgow, Dortmund, Birmingham oder Rotterdam längst zu solcherlei Ehren gekommen sind. Dem Aufschwung sind in diesen Regionen häufig starke Arbeiterwanderungen vorausgegangen, etwa im Ruhrgebiet zu Beginn des letzten Jahrhunderts und in Nordengland während der Industriellen Revolution.
Fazit
Aber auch diese Statistik dürfte nach Ansicht von Kuper/Szymanski nicht mehr lange Bestand haben: Denn (sportlichen) Erfolg haben in Zeiten offener Märkte zunehmend die Städte, in denen das Kapital sitzt und das sind mehr und mehr die wirtschaftlich diversifizierten Ballungsräume. Es sind auch solche Gedankenspiele, die das Interesse am Phänomen Fußball bei der Lektüre anregen. Nur an einem ungeschriebenen Gesetz wagen die beiden Autoren nicht zu rütteln: Dem Erfolg der deutschen Nationalelf in weltmeisterlichen Elfmeter-Schießen. Ihre Bilanz: 4:0.
Jörg Rieger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik an der Bayerischen-Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
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- 3. Mai 2013
Eine kleine Fußballerische Korrektur muss der Richtigkeit halber hier erlaubt sein. Von den oben genannten Metropolen haben sowohl Paris als auch London mit Paris St. Germain, dem FC Chelsea London, und FC Arsenal London Europapokalsieger vorzuweisen. Auch wenn diese „nur“ im (seit dem Jahr 2000 mit dem Uefa-Cup, heute Europa-League, zusammengelegten) Pokal der Pokalsieger zu Stande kamen.
So gesehen hat dies Galatasaray Istanbul im Jahre 2000 durch den Gewinn des UEFA-Cups auch geschafft.
Also noch ein weiterer Fehler?