Rentenkommission (1)
Die Rentenkommission hat bessere Vorschläge gemacht als es den Anschein hat

Es sei vorab gesagt, dass der Autor dieses Beitrags befangen ist, wenn es um die Interpretation der Ergebnisse der Regierung-Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ geht: der Autor war eines der 10 Mitglieder der „Rentenkommission“ der Bundesregierung.[i] Diese Kommission hat Ende März 2020 ihren vielkritisierten Bericht vorgelegt. Kernpunkte der Kritik sind, dass keine neue Rentenformel  empfohlen wird, die bestimmt wie Beitragssatz, Bundeszuschuss und Rentenniveau sich bei gegebener wirtschaftlicher und demographischer Entwicklung bestimmen[ii], und dass insbesondere keine Formel für die weitere Erhöhung der Altersgrenze über das 67. Lebensjahr hinaus erarbeitet wurde.[iii] Im folgenden wird argumentiert werden, dass die Korridore für Beitragssatz (20 bis 24 Prozent) und Rentenniveau (44 bis 49 Prozent), die von der Kommission vorgeschlagen werden, keineswegs ein Nicht-Ergebnis darstellen; dies gilt insbesondere auch für die Reform der Altersgrenze, die die Kommission vorschlägt. Die Kommission hat eine Reihe von Verfahrensregeln und Indikatoren vorgeschlagen, die große Wirkungen entfalten würden, wenn  Politik und Gesetzgeber sich durchringen könnten, diese Vorschläge umzusetzen.

Das vielleicht wichtigste Ergebnis ist, dass spätestens 2026 ein Vorschlag zur weiteren Entwicklung der Altersgrenze auf den Tisch gelegt werden soll – das heiße Eisen  wäre damit nicht mehr vom Tisch zu wischen. Außerdem empfiehlt die Rentenkommission den Einkommensabstand des „Eckrentners“ zur Grundsicherung (also Hartz IV)  zu einem offiziellen Indikator zu machen, den die Regierung und der Gesetzgeber im Auge haben müssen. Damit würde über eine Haltelinie für das Rentenniveau hinaus das sture schauen auf die Beitragsäquivalenz der Rente, also der Orientierung der späteren Rente an den zuvor gezahlten Beiträgen, aufgebrochen. Und schließlich schlägt die Rentenkommission vor, dass der bislang unbedeutende Sozialbeirat zu einem Alterssicherungsbeirat ausgebaut werden soll, der insbesondere die Pflicht hat der Bundesregierung und dem Gesetzgeber Empfehlungen zu den Haltelinien und der Altersgrenze zu machen. Damit könnte sich keine Regierung mehr um unangenehme rentenpolitische Entscheidungen herumdrücken.

Klar: wer glaubt, dass man Rentenpolitik mit dem Rechenschieber machen kann, der muss enttäuscht sein. Aber gerade in diesen Wochen erleben wir wie wenig die Zukunft über Jahrzehnte hinweg planbar und in Formeln gießbar ist. Das wird bei der Kapitalverzinsung, auf die viele akademische Rentenreformer ja lange Zeit als Wundermittel gesetzt haben, durch die COVIT-19-Krise wieder einmal besonders  sichtbar: was angespartes Kapital wert ist, weiß man nicht im vorhinein, sondern erst, wenn man anfängt vom Kapital zu leben, es also auszugeben.

Alles worauf man sich bei Kapitaldeckung verlassen kann ist – zumindest in halbwegs normalen Zeiten und in einem Rechtsstaat –, dass man nicht vom Staat direkt enteignet wird (Enteignung durch Inflation ist freilich möglich und rechtlich zugelassen!). Kapitaldeckung setzt also nur eine Verfahrensregel fest, macht aber keineswegs eine  fixe oder formelmäßige Versprechung. Der reale Unterschied zur Umlagefinanzierung von gesetzlichen Rentenversicherungen ist kleiner als die ökonomischen Verfechter der Kapitaldeckung gerne suggerieren und als Juristen, die die Umlagefinanzierung verteidigen, glauben.

Die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ spricht mit ihren Vorschlägen zu Verfahrensregeln und Haltelinien im Grunde nur die einfache (ökonomische) Wahrheit aus, dass es kein Rentensystem auf dieser Welt gibt, dass genau sagen kann wie sich die Renten real entwickeln. Das wird bei kapitalgedeckten Renten besonders deutlich:  private Renten oder Lebensversicherungen werden aus dem Kapital gezahlt, dass die Versicherung angespart hat. Wie viel dieses Kapital allerdings wert ist, wenn eine Rente gezahlt wird oder eine Lebensversicherung ausgezahlt wird, weiß man erst, wenn es soweit ist.  Die  reale Verzinsung von Kapital ist nicht im vorhinein bekannt, insbesondere Aktienkurse sind nicht bekannt.  Insofern ist der 7-Jahres-Horizont, den die Rentenkommission für die Gültigkeit von Haktelinien empfiehlt, gar nicht so etwas sehr besonderes. Scheinbar für die Ewigkeit angelegte Renten-Formeln sind hilfreich, aber scheingenau. [iv] Die Erfahrung lehrt, dass keine einzige Rentenformel seit 1957 auch nur 20 Jahre gehalten hätte. Es gab immer wieder, durchaus auch überraschende Änderungen. Die Kommission räumt endlich mit dem Mythos ewig gültiger Rentenformeln auf! Langfristig schaffen Prozeduren für Flexibilität mehr Sicherheit als mathematische Scheingenauigkeit von Formeln.

Ein Eckstein der Empfehlungen der Rentenkommission ist ein neu zu schaffender (oder aus dem Sozialbeirat weiterentwickelter) „Alterssicherungsbeirat“. Er soll durch Empfehlungen, zu der der Beirat verpflichtet wird, der Politik helfen unangenehme Entscheidungen auf die Agenda zu nehmen.[v]

Der vorgeschlagene Alterssicherungsbeirat bringt gegenüber dem Sozialbeirat nur dann einen Vorteil, wenn er nicht nur die ganze Breite der Alterssicherung betrachtet (und nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung) sondern nach meiner festen Überzeugung ist es auch notwendig, dass das Gewicht der Wissenschaft in diesem Beirat gegenüber deren marginaler Bedeutung im Sozialbeirat gestärkt wird. Nur dann sind Vorschläge zu erwarten, die auch für Politik, Sozialpartner und Entscheidungsträger unbequem sind.  Davon haben alle etwas, da dann zum Beispiel ein zentrales, aber unbequemes Thema wie die  eventuell weitere Erhöhung der Altersgrenze rechtzeitig im Detail durchdacht wird; wozu auch ein vernünftiger Umgang mit erwerbsgeminderten Menschen gehört – was alles im Detail kompliziert macht.

Es geht mit einem Alterssicherungsbeirat  nicht darum der Politik und dem Gesetzgeber Entscheidungen abzunehmen – wie das etwa Zentralbanken machen! – sondern es geht um „Agenda Setting“ wie das heutzutage gerne genannt wird. Das Zentralbank-Modell scheidet aus, da Alterssicherungs- und Sozialpolitik derart viele Ziele verfolgt, dass eine Delegation von Entscheidungen vom Gesetzgeber hin zu einem unabhängigen Organ nicht sinnvoll ist.

Wie ein solcher Beirat funktionieren könnte kann man beim  „Wissenschaftsrat“ studieren, der mit seinen Empfehlungen die Forschungspolitik in Deutschland unterstützt. Die „Wissenschaftliche Kommission“ des Wissenschaftsrats besteht aus 32 Mitglieder, von denen 24 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind.[vi] Sie werden auf Vorschlag der einschlägigen Forschungsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und etwa der Max Planck Gesellschaft berufen. Hinzu kommen acht „anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“, die auf Vorschlag der Bundesregierung und der Landesregierungen berufen werden; darunter sind regelmäßig zwei  von den Sozialpartnern nominierte  Persönlichkeiten.

Diese Zusammensetzung der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates hat sich bewährt: die deutsche Forschung steht international ja gut da. Aber die Belange der Praxis und die Interessen der Beschäftigten  werden nicht vergessen.

Es  ist sicherlich nicht notwendig, dass ein Alterssicherungsbeirat aus 32 Mitgliedern besteht, wie das bei der wissenschaftlichen Kommission  der Fall ist. Derart viele Mitglieder sind bei der Forschung wegen der vielen verschiedenen Disziplinen sinnvoll, nicht aber bei der Alterssicherung.

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[i] Der Autor ist auch Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Er weist  hier ausdrücklich darauf hin, dass die von der Rentenkommission vorgeschlagene Weiterentwicklung des Sozialbeirats zu einem „Alterssicherungsbeirats“ nicht seine Idee war, da  ihm die Phantasie fehlte, dass  eine solche Weiterentwicklung, auf die im Text ausführlich eingegangen wird, möglich sein könnte. Er wird sich nun gerne eines Besseren belehren lassen falls die Empfehlung der Kommission wirklich sachgerecht umgesetzt werden sollte.

[ii] Vgl. für Viele den Kommentar von Thomas Kreutzmann, ARD-Hauptstadtstudio, „Das ist zu wenig“ (https://www.tagesschau.de/kommentar/rentenkommission-kommentar-101.html).

[iii] Der Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Hubertus Pellengahr, behauptet: „Das heiße Eisen ‚Renteneintrittsalter‘ wurde feige umschifft und wie eine heiße Kartoffel an einen Arbeitskreis weitergereicht (https://www.presseportal.de/pm/39474/4558405).

[iv] Dies schließt nicht aus, dass man die bestehende und ad-hoc entwickelte Rentenanpassungsformel vereinfacht und verständlicher macht. Denn  neben Haltelinien für Beitragssatz und Rentenniveau ist nach wie vor eine Rentenanpassungsformel notwendig. Für einen von Axel Börsch-Supan und dem Autor dieses Beitrags entwickelten Vorschlag vgl. den Anhang  des Papiers „Lassen sich Haltelinien, finanzielle Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit miteinander verbinden?“ von Axel Börsch-Supan und Johannes Rausch (https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/MEA_DP_03-2020_final_neu.pdf). In diesem Papier (S. 26-29) wird auch darauf hingewiesen, dass Hans-Jürgen Krupp bereits im Jahr 2003 einen wirkungsgleichen Vorschlag gemacht hatte.

[v] Zur theoretischen und empirischen Fundierung dieser Empfehlung wird in Heft 4/2020 des „Wirtschaftsdienstes“ ein Beitrag von Stefan Voigt (Universität Hamburg) erscheinen.

[vi] Vgl. Artikel 4  des Verwaltungsabkommens zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Wissenschaftsrates (https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/Verwaltungsabkommen.pdf?__blob=publicationFile&v=2).

Gert G. Wagner

2 Antworten auf „Rentenkommission (1)
Die Rentenkommission hat bessere Vorschläge gemacht als es den Anschein hat“

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