Dwight D. Eisenhower, vormals General und Präsident der Vereinigten Staaten, soll einmal gesagt haben: „Ich habe zwei Arten von Problemen, die dringenden und die wichtigen. Die dringenden sind nicht wichtig, und die wichtigen sind niemals dringend.“ Solche Probleme sind leichter lösbar, da sie das Zusammentreffen von Dringlichkeit und Wichtigkeit vermeiden. Gerade dieses Zusammentreffen erschwert in der gegenwärtigen Corona-Krise gute und richtige Entscheidungen. Hinzu kommt noch, dass das Wissen über das neue Virus sowie die dadurch ausgelöste Krankheit und Pandemie nicht sehr groß sind. Weder gibt es erprobte Behandlungsmethoden noch eine vorbeugende Impfung. Zudem kann man sich extrem leicht anstecken. Wie schwer die Erkrankung – bezogen auf die Zahl der tatsächlich infizierten Personen – ist, kann momentan niemand genau sagen, da gerade deren Zahl wegen der großen Menge nahezu symptomloser Infekte unbekannt ist.
In einer solch dringlichen und höchst brisanten Situation Entscheidungen für die Bevölkerung zu treffen, ist sehr schwer. Der Fehler erster Art besteht darin, durch Unterlassung von Schutzmaßnahmen eine zu schnelle Ausbreitung des Virus zuzulassen, die zu einer Überforderung des Gesundheitswesens mit vielen vermeidbaren Todesfällen führt. Dieser Fehler wurde in Deutschland vermieden; der sogenannte Shutdown der Wirtschaft, das „Social Distancing“ und die Kontaktsperren (neben den allgemeinen Hygienemaßnahmen) waren in dieser Hinsicht das vermutlich einzig richtige Konzept.
Nicht zu unterschätzen ist allerdings auch der Fehler zweiter Art, der hier im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll. Von einer gesundheitsökonomischen Perspektive aus gesehen hat dieser Fehler viele Gesichter. Innerhalb des Gesundheitswesens tritt dieser Fehler in Gestalt von Gesundheitsschädigungen und selbst Todesfällen infolge nicht mehr adäquat behandelter Erkrankungen (Schlaganfälle, Herzinfarkte, Krebserkrankungen etc.) auf. Dies ist der Umwidmung von Behandlungskapazitäten in Kliniken für Corona-Fälle, dem Stillstand von Kliniken sowie der Lähmung der Behandlungsmöglichkeiten in niedergelassenen Praxen geschuldet. So notwendig diese Umstellungen auch waren und sind, so darf keinesfalls vergessen werden, dass hierfür bereits im Bereich der Medizin Opfer zu verzeichnen sind, deren Zahl unbekannt ist.
Der Shutdown führt zur ökonomischen Seite des Fehlers zweiter Art. Bei einer Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP) in Höhe von rund 3,5 Billionen Euro im Jahr 2019 kostet ein Totalausfall der gesamten Wirtschaftsaktivität pro Tag rund 9,6 Milliarden Euro. Beträgt der Ausfall nur zehn Prozent der Aktivität, kostet dies pro Tag fast eine Milliarde Euro. Selbstverständlich sind Menschenleben nicht mit Einbußen der Wirtschaftsleistung aufzuwiegen. Der Ausfall von Wirtschaftsleistung an Sonn- und Feiertagen zeigt, dass dieser kurzfristige Ausfall durchaus ohne schwerwiegende Folgen zu verkraften ist. Etwas anders ergibt es sich, wenn der Shutdown länger andauert und sich daraus eine schwere oder sogar sehr schwere Rezession entwickelt. Nach Berechnungen des ifo Instituts kostet ein Shutdown von zwei Monaten in Deutschland bereits zwischen 255 und 495 Milliarden Euro an verlorener Wirtschaftsleistung (das sind rund 7,3 beziehungsweise 14,1 Prozent des BIP 2019) und jede weitere Woche 25 bis 57 Milliarden Euro (0,7 beziehungsweise 1,6 Prozent des BIP 2019). Damit verbunden wären nach den ifo-Berechnungen vermutlich ein Verlust von 1,8 Millionen Arbeitsplätzen und sechs Millionen Personen in Kurzarbeit.
Selbst diese Zahlen sagen noch nicht alles. Legt der Shutdown die Betriebe und Unternehmen für längere Zeit lahm, drohen Liefer- und Abnehmerketten auseinanderzubrechen. Anders gesagt: Eine schwere Rezession wäre die Folge, mit stärkeren und womöglich länger andauernden Einbrüchen der Wirtschaftsleistung von sieben bis zu 20 Prozent. Ob und wie dann selbst die Versorgung mit medizinisch notwendigen Geräten, Materialien und Medikamenten dauerhaft gesichert werden könnte, ist schwer vorauszusagen. Die schon jetzt zu beobachtenden Panik- und Hamsterkäufe bieten einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte.
Wenn Dringlichkeit und Wichtigkeit zusammentreffen, ist guter Rat teuer, und die Schäden sind groß. Nur den Fehler erster Art bei den anstehenden Entscheidungen zu berücksichtigen, müsste man wohl als grob fahrlässig bezeichnen. Das gilt gleichermaßen auch für den Fehler zweiter Art. Aus den Fehlern erster und zweiter Art ergeben sich drei unterschiedliche Zielkonflikte. Der erste Zielkonflikt ist ein epidemiologischer. Je länger der Shutdown anhält, desto flacher verläuft die Kurve der Infektionen; damit verbunden ist aber, dass die erforderliche Herdenimmunität (die bei einer Epidemie ohne Prävention unerlässlich ist) verzögert wird. Bis tatsächlich eine Impfung gegen das SARS-CoV-2 Virus verfügbar ist, dauert voraussichtlich zu lange, als dass diese Zeit mit einem Shutdown zu überbrücken wäre. Der zweite Zielkonflikt besteht zwischen der gesamten Wirtschaftsleistung und der Zahl der COVID-19-Fälle. Je höher und je früher diese Erkrankungen eintreten, desto stärker fällt das BIP allein schon krankheitsbedingt. Dafür kann die Wirtschaftsaktivität aber auch wieder nach einer kürzeren Pause hochgefahren werden. Der dritte Zielkonflikt besteht zwischen der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistung und der Dauer des Shutdown. Je länger der Shutdown dauert, desto stärker und auf desto längere Zeit sinkt die Wirtschaftsleistung und geht mit zunehmender Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit einher. Hinzukommen würden Unternehmensinsolvenzen.
Für den Bereich der Medizin gilt schon sehr lange die Maxime, dass man wenigstens keinen Schaden anrichten soll, wenn man schon ein gesundheitliches Problem nicht lösen kann. Für eine Volkswirtschaft gilt, dass Disruptionen (schwere Brüche), verbunden mit großer Unsicherheit, zu starken Störungen und hohen gesamtwirtschaftlichen Verlusten führen. Daher scheint das sogenannte „piecemeal social engineering“ (Karl R. Popper) der geeignete Denkansatz zu sein, um wirtschaftliche, soziale und gesundheitsökonomische Probleme zu lösen. Das Drehen an vielen kleinen Rädchen, wie man das „piecemeal engineering“ übersetzen könnte, ist regelmäßig „großen Lösungen“ überlegen.
Was also ist zu tun? Verbindet man die Maxime des „nicht Schadens“ mit dem „Drehen an vielen kleinen Rädchen“, so kommt man am ehesten zu Maßnahmen, die einerseits den Fehler erster Art angemessen berücksichtigen, ohne den Fehler zweiter Art zu vernachlässigen. Anders ausgedrückt, ein Ausgleich der beiden Fehler ist das Ziel. Das heißt allerdings auch, dass sowohl der gesundheitliche als auch der wirtschaftliche Bereich Opfer tragen müssen. Bei den vorliegenden Zielkonflikten wäre jede andere Lösung illusorisch.
In der normativen Wirtschaftswissenschaft kommt man dabei zur Empfehlung, die medizinisch-gesundheitlichen Grenzerträge der Dauer des Shutdown und die wirtschaftlichen Grenzkosten dieser Shutdown-Dauer auszugleichen. Dies ist in Abbildung 1 dargestellt.
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Die zusätzlichen wirtschaftlichen Kosten einer Woche Shutdown werden – wie oben erwähnt – auf 25 bis 57 Milliarden Euro geschätzt. Die große Frage lautet, wann dieser Wert dem Grenzertrag im Gesundheitswesen entspricht. Mit anderen Worten, für das Gesundheitswesen müssen die Grenzerträge in Relation zur Shutdown-Dauer ebenfalls geschätzt werden. Dies ist zugegebenermaßen eine sehr schwierige Aufgabe. Abbildung 1 zeigt daher auch nur schematisch das Lösungskonzept der normativen Wirtschaftswissenschaft.
„Zudem kann man sich extrem leicht anstecken.“
Extrem ansteckend sind Masern und Windpocken. Die Wuhan-Grippe spielt nicht in dieser Liga.
Massenhafte Ansteckungen gab es wohl nur beim Singen, Jubeln und Schreien auf engstem Raum:
https://quillette.com/2020/04/23/covid-19-superspreader-events-in-28-countries-critical-patterns-and-lessons/