Die öffentliche Meinung der schweigenden Mitte fehlt

Klimapolitik, Trump, Gendersternchen – in vielen Bereichen gilt die öffentliche Meinung als polarisiert. Allerdings entspricht die Polarisierung der öffentlichen Meinung selten einer Polarisierung der gesamten Gesellschaft. Eine Mehrheit in der Mitte beteiligt sich nicht am Diskurs, um nicht in eine bestimmte Ecke geschoben zu werden.

Präferenzverfälschung im öffentlichen Diskurs

Im öffentlichen Diskurs äußern die Bürger nicht immer ihre tatsächlichen Präferenzen und privaten Wertungen. Schon im Jahr 1995 wies der politische Ökonom Timur Kuran in seinem Buch „Private Truths, Public Lies: The Social Consequences of Preference Falsification“ auf das Phänomen der Präferenzverfälschung hin. Sie ist aus autoritären Staaten wohlbekannt – die öffentlichen Huldigungen gegenüber den Herrschern entsprechen selten den unausgesprochenen, privaten Ansichten der Bürger. Selbst in der liberalen Demokratie kann Präferenzverfälschung nicht ausgeschlossen werden, vielmehr ist sie zu erwarten.

Ob der einzelne Bürger seine privat gehaltenen Präferenzen öffentlich kundtut und am Prozess der kollektiven Willensbildung teilnimmt, hängt vom Zusammenspiel dreier Abwägungen ab. Einerseits kann der Einzelne einen direkten Nutzen daraus ziehen, sich besonders expressiv zu verhalten und seine Position vehement zu vertreten. Darüber hinaus spielt der intrinsische Nutzen eine Rolle, den ein Bürger dann hat, wenn eine seinen tatsächlichen Präferenzen entsprechende politische Entscheidung aufgrund der vorangegangenen öffentlichen Meinungs­bildung zustande kommt. Zuletzt spielt im öffentlichen Diskurs insbesondere die soziale Anerkennung oder soziale Ächtung eine Rolle, die einem Bürger widerfährt, wenn er eine bestimmte Ansicht öffentlich vertritt.

Der einzelne hat im Regelfall einen vernachlässigbar kleinen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die öffentliche Meinung führt – wenn überhaupt – nur mit großer Verzögerung zu Politikentscheidungen. Daher spielen bei der Abwägung sich öffentlich zu äußern vor allem eine mögliche soziale Ächtung sowie der Wunsch sich expressiv zu verhalten, eine relevante Rollen. So wird sich der durchschnittliche Pendler derzeit eher hüten, öffentlich für niedrigere Belastungen für den Automobilverkehr einzutreten, selbst wenn dies seine private Meinung oder sein Wunsch ist. Er kann die öffentliche Meinung kaum beeinflussen. Öffentlich möchte er nicht als „Umweltsau“ dastehen, nur weil er weiter mit dem Auto pendeln möchte. Um der Gefahr öffentlicher Ächtung zu entgehen, wird er entweder schweigen oder sogar behaupten, er wäre für den ÖV, wenn dieser denn regelmäßiger aufs Dorf käme und günstiger wäre. Aus Angst vor sozialer Ächtung nimmt er davon Abstand, seine Präferenzen wahrheitsgemäß kundzutun. Ähnlich mögen manche Bürger gewisse Elemente der U.S. Politik, wie zum Beispiel die Steuersenkungen, auch in Deutschland als wünschenswert betrachten. Als die USA ihre Steuern senkten war die öffentlich geäußerte Meinung in Deutschland eher wenig wohlwollend und die Steuersenkungen wurden öffentlich kritisiert. Dabei ist mittlerweile realistisch anzunehmen, dass insbesondere die Senkung der Steuern auf Unternehmen in den USA dazu beigetragen haben, dass zeitverzögert jetzt auch hierzulande ernsthafter über eine Senkung der Körperschaftssteuer diskutiert wird. Die U.S. Steuersenkungen oder nahezu irgendeine Politik der derzeitigen U.S. Aministration öffentlich als vorbildlich zu loben, dürfte trotzdem eher nicht zu sozialer Anerkennung führen.

Bei alledem ist niemals ausgeschlossen, dass einzelne sich expressiv verhalten und ihre private Meinung ohne große Berücksichtigung sozialer Anerkennung oder Ächtung bekannt geben: Für manche*n geht es ohne Gender* absolut nicht – für andere verhunzt es die geschriebene Sprache und Exponenten beider Gruppen stehen auch öffentlich zu ihrer Meinung.

Die schweigende Mehrheit

Soziale Ächtung einer öffentlich vertretenen Meinung hängt davon ab, wie viele andere Gesellschaftsmitglieder diese Meinung ebenfalls öffentlich vertreten. Viele Bürger schätzen eine intakte Umwelt, aber sie wollen auch günstig, flexibel und ungehindert mobil sein. Dabei ist für sie das Auto außerhalb von Großstädten oft dem ÖV im Regelfall überlegen, denn sonst würden sie bereits jetzt den ÖV nutzen. Ebenso schätzen die meisten den Wert der Gleichberechtigung von Frau und Mann als sehr hoch und sie sind sich bewusst, dass es nicht nur entweder „weiblich“ oder „männlich“ gibt. Sie verstehen aber nicht, wie das Gendersternchen spezifisch zu Gleichberechtigung beitragen soll oder ob es gar Unterschiede akzentuiert, wo gar keine sind. Sie alle tendieren dazu, im öffentlichen Diskurs zu schweigen und ihre wahren Präferenzen zu verfälschen. Interessanterweise „gendern“ manche Proponenten des Gendersternchen in der Praxis nur neutral und positiv: Man liest selten von Straftäter*innen oder Mörder*innen.

Wie stark der öffentliche Meinungsdruck zu Präferenzverfälschung und sogar Faktenverfälschung führen kann, zeigen auch die Experimente des Sozialpsychologen Solomon Asch aus den 50er Jahren: Er legte Probanden mehrere unterschiedlich lange Linien vor und wollte wissen, welche in der Länge einer Referenzlinie entsprach. Die Aufgabe war denkbar einfach und einzeln befragt wählten fast alle Probanden die Linie aus, die in der Länge der Referenzlinie entsprach. Waren aber neben dem eigentlichen Probanden auch Schauspieler als Scheinprobanden in einer Gruppe und wählten die Scheinprobanden absichtlich die zu kurze oder zu lange Linie, änderte sich das Ergebnis fundamental. Dann behaupteten die echten Probanden im Regelfall ebenfalls öffentlich, die zu kurze oder zu lange Line wäre die richtige. Sie bevorzugten es also, offensichtlich falsche Fakten widerzugeben – ein Befund, der bedenklicher stimmen sollte als die Widergabe „alternativer“ Fakten.

Ein hoher Grad an allgemeiner Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit muss nicht bestehen bleiben. Einzelne Vorkommnisse können dazu führen, dass bestehende öffentliche Meinungsmonopole brechen, insbesondere wenn für größere Gruppen echte Kosten drohen. Die Gelbwestenbewegung in Frankreich formierte sich wegen einer geplanten höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe. Die private Präferenz vieler Franzosen ist, nicht zu tief für Treibstoff in die Tasche greifen zu müssen. In Deutschland sammelte die Gruppe „Fridays for Hubraum“, die sich für den automobilen Individualverkehr einsetzt, innerhalb weniger Tage bei Facebook ein Vielfaches der Mitglieder von „Fridays for Future“. „Fridays for Hubraum“ mag für die Klimabewegung ein interessantes Beispiel sein: Wirksame Klimaschutzmaßnahmen dürften vor allem dann in der breiten Bevölkerung Rückhalt gewinnen, wenn sie effizient und folglich möglichst günstig durchgeführt werden können. Teure Klimaforderungen könnten auch in anderen Ländern zu ähnlichen Protesten wie jene der Gelbwesten führen. Immerhin haben heutzutage alle Fahrer eine derartige gelbe Weste im Auto und jeder sieht gut, wie viele andere sich bereits eine übergezogen haben. Die öffentliche Meinung kann sich also durchaus schnell ändern.

Es kann also unter Umständen sogar reichen, dass die öffentlich geäußerten Meinungen nur weniger Bürger dazu ausreichen, weitere Bürger zu überzeugen sich ebenfalls gemäß ihren wahren Präferenzen zu äußern. Diese Sichtweise entspricht der Einsicht, die dem bekannten Märchen von Hans Christian Andersen zugrunde liegt: Es bedurfte nur eines Kindes, das wahrheitsgemäß äußerte, der Kaiser wäre nackt, damit alle Bürger öffentlich das äußerten, was sie insgeheim wussten – der Kaiser ist nackt. Wenn es in manchen Fällen nur wenige Bürger braucht, um eine bestehende öffentliche Unwahrhaftigkeit zum Kippen zu bringen, wird auch verständlich, warum es extrem schwierig ist, öffentliche Meinungsumschwünge vorauszusagen.

Die Anreize sich öffentlich zu äußern sind leider für jene besonders hoch, die sich sehr expressiv verhalten wollen, stark eindimensional denken oder bewusst polarisieren. Wer ohnehin extremere Positionen vertritt, wagt es eher, sich überhaupt zu äußern. Die Polarisierung der öffentlichen Meinung kommt oft zustande, weil die Mehrheit in der Mitte ihre wahren Präferenzen verfälscht oder schweigt. Die Gesellschaft selbst ist aber nicht polarisiert, sondern jene, die sich eher äußern, sind diejenigen, die oft polarisierende Positionen einnehmen.

Etablierte Medien tragen indirekt zur Polarisierung bei. Zum einen sind extreme Positionen oft spannender und damit berichtenswerter als moderate Positionen, die versuchen der Komplexität und Vielfalt der Präferenzen in der Gesellschaft irgendwie Rechnung zu tragen. Zu anderen äußern sich wenige von denen, die in der Mitte stehen, genau weil sie Angst haben zu pointiert dargestellt und falsch verstanden zu werden. Lieber schweigen viele, als nach ihrer öffentlichen Meinungsäußerung ein „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ hinzuzufügen. Die öffentlich geäußerte Meinung erscheint daher von extremen Positionen geprägt. Durch die Filterblasen der sozialen Medien, wird die Polarisierung der öffentlichen Meinung weiter verstärkt. Wiederum nehmen große Teile der Bevölkerung an politischen Diskursen in den sozialen Medien deshalb überhaupt nicht teil. Sie posten Urlaubsbilder oder Videos von Katzenbabys.

Private Entscheidungen stärken

Um das Auseinanderfallen von privaten Präferenzen und lügenhafter, polarisierter Öffentlichkeit zu vermeiden, ist die Forderung nach einem „freien öffentlichen Diskurs“ leider unfruchtbar. Öffentliche Aussagen werden immer kategorisiert werden. Dies gilt selbstverständlich auch für diesen Artikel, der, obwohl im Fundament strikt wissenschaftlich, von der Leserschaft auch eingeordnet wird – hoffentlich neutral.

Daher baucht es institutionelle Arrangements, die es jedem einzelnen Bürger erlauben, gesellschaftswirksam für das einzustehen, was er privat für richtig hält, ohne soziale Ächtung zu erfahren. Geheime Wahlen in der Demokratie sind ein solches Arrangement. Sie sind immer wieder für Überraschungen gut. Ein weiteres Arrangement ist Bürgerbeteiligung im Sinne echter, bindender Bürgerentscheide. Die schweigende Mehrheit erhält dadurch eine Stimme bei Sachentscheidungen und es wird rentierlicher, Kompromisse in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs selbst und die Informationsbeschaffung darüber werden rentierlicher, da eine echte Politikentscheidung ansteht und es nicht nur um „Schönreden“ geht. Aber Vorsicht! Manche, die heute allzu gerne die öffentliche Meinung machen und polarisieren, werden gegen Bürgerentscheide argumentieren, diese könnten zu politisch inkorrekten Ergebnissen führen. Das ist in der Tat so. Solche Ergebnisse sind dann gesellschaftlich erwünscht und es war inkorrekt sie als „politisch inkorrekt“ zu bezeichnen.

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