1. Die Idee
Krisenzeiten sind regelmäßig Blütezeiten der Protektionismus. Die Covid-19-Krise ist keine Ausnahme. Als es nach dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 in vielen Ländern zu einem Lockdown kam, wurden zahlreiche Lieferketten unterbrochen. Gleichzeitig entstanden aufgrund eines deutlichen Nachfrageanstieg nach medizinischen Gütern erhebliche Lieferengpässe. Schnell wurde daraufhin auf den Nachteil von Importen insbesondere aus regional weiter entfernten Ländern und auf Nachteile der Abhängigkeit von ausländischen Produkten hingewiesen. Kurzfristig wurde in einigen Ländern auf Lieferengpässe mit provisorischen Lösungen reagiert. So kam es dazu, dass heimische Textilunternehmen ihre Produktion teilweise auf Schutzmasken u.ä. umstellten.
In Zuge dieser Entwicklungen wurde rasch der Ruf nach einem Ersatz von Importen durch heimisch produzierte Güter zur Erzielung geringerer Abhängigkeit vom Ausland laut. Besonders laut wurde dieser Ruf bei medizinischen und pharmazeutischen Produkten, angefangen bei Masken über Arzneien und Schutzausrüstungen bis hin zu medizinischen Geräten. Bald schon wurde auch das Anlegen von staatlich administrierten Beständen entsprechender Produkte – manchmal auch „strategische Bevorratung“ oder „Notvorräte“ genannt – zur Vermeidung von Versorgungsengpässen ins Gespräch gebracht. Nicht selten war der Hinweis zu hören, dass bei einem Zurückholen der Produktion der entsprechenden Güter ins Inland das jeweilige Knowhow nicht verloren gehe. Darin liege ein zusätzlicher Vorteil für das Inland, um für eine nächste Krise vorbereitet zu sein. In Europa war zudem das Argument zu hören, dass mit der Rückverlagerung der Produktion sichergestellt werden könnte, dass hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards eingehalten würden und man auch entsprechende Anforderungen an die verwendeten Materialen durchsetzen könnte. So wäre z.B. darauf zu achten, dass die Produkte – wenn es sich etwa um Einwegprodukte handele – recycelt werden könnten, damit die Umwelt geschont und die Mentalität des Wegwerfens nicht unterstützt würde.
Ein weiteres Argument für den Ersatz ausländischer durch heimische Produktion wird vielfach in der „Ankurbelung der Wirtschaft“ – insbesondere in Krisenzeiten – gesehen. Hiermit werden gleichzeitig Argumente der Widerstandsfähigkeit von Volkswirtschaften (sog. „Resilienz“) und Autarkievorteile verbunden. Margarete Schramböck, die österreichische Ministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, argumentierte sogar, die EU brauche „eine Renaissance der europäischen Produktion, um neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen“ (Das Wirtschaftsstudium, WISU, Vol. 2/2020, S. 454). Auch die EU
Auf den ersten Blick klingen die vorgetragenen Argumente plausibel. Wenn etwa keine Masken verfügbar sind, kann auch keine Maskenpflicht verordnet und damit der beabsichtigte Schutz der Bevölkerung gewährleistet werden. Unterzieht man die Argumente allerdings einer näheren Prüfung, so wird deutlich, verlieren sie schnell an Überzeugungskraft. Aus ökonomischer Sicht sind jeweils die direkten und die indirekten Wirkungen zu prüfen und es ist ein Blick auf die kürzere und die längere Frist zu werfen. Solche Prüfungen sind wichtig, weil sich bei den aufgeführten Forderungen nicht selten unter dem Deckmantel des unbedingten Erforderlichen rein protektionistische Anliegen verstecken.
2. Die Probleme
Worin könnten die Probleme des Vorschlags eines „Reshoring“ bestehen? Die wesentlichen seien hier aufgeführt:
1. Es wäre zunächst festzulegen, mit welchem Argument Maßnahmen für ein „Reshoring“ begründet werden. Bei Prüfung der Argumente, die hierfür angebracht werden, erscheinen die Argumente aus ordnungspolitischen Überlegungen sehr problematisch. So kann es nicht Aufgabe des Staates sein, Arbeitsplätze in bestimmten Bereichen zu schaffen oder ein ganz spezifisches Knowhow von Industrien aufzubauen. Auch die Abwendung der Unterbrechung bestimmter Lieferketten ist nicht notwendigerweise überzeugend. Immerhin müsste man administrative festlegen, für welche Lieferketten eine Unterbrechung eher zu erwarten ist und für welche dies nicht nur kurzfristig und erstmalig, sondern kontinuierlich und mittel- bis längerfristig gilt. Sollen hier etwa bestimmte Länder auf eine Art schwarze Liste gesetzt werden, bei denen diese Gefahr als besonders groß eingeschätzt wird? Tatsächlich ist in diesem Zusammenhang häufig die Vermutung zu hören, dass Lieferketten innerhalb der EU unproblematischer sind als jene von geographisch entfernteren Ländern. Die Entwicklung der Covid-10-Pandemie zeigt aber, dass Lieferketten auch innerhalb der EU unterbrochen werden können, wenn einzelne Länder besonders hart getroffen werden. Das gleiche gilt selbst für inländische Lieferketten.
Hinzukommt, dass ein Lieferengpass, den es im Frühjahr 2020 bei medizinischen Produkten gab, nicht primär Folge von unterbrochenen Lieferketten war. Eine neue Untersuchung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeigt, dass bei medizinischen Produkten nicht die Unterbrechung der Lieferketten das Problem war, sondern die erheblich gestiegene Nachfrage der Industrieländer nach solchen Produkten. Chinesische Exporte von Desinfektionsmitteln und Masken sind nicht etwa zurückgegangen oder gar zusammengebrochen, sondern sie stiegen sogar (durch gestiegene Preise und Mengen) im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 1.000%. Für Thermometer, Schutzkittel und Beatmungsgeräte war der Anstieg der chinesischen Exporte nicht ganz so groß, aber immer noch im deutlich dreistelligen Prozentbereich. Mehr noch: Deutschland gelang es, entsprechende Güter aus China trotz der Lieferengpässe in erheblichem Umfang zu beziehen, weil zu China bereits gute Handelsbeziehungen vor der Covid-19-Pandemie bestanden. Die untenstehende Tabelle zeigt, wie sich die Importe kritischer Medizinprodukte aus China 2020 im Vergleich zu 2019 entwickelt haben.
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2. Eng verbunden mit dem voranstehenden Problem ist die Definition von sogenannten Schlüsselindustrien, die es unbedingt im Inland zu halten gilt. Es ist kaum vorstellbar, dass hierzu klare und auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzende Kriterien definiert werden können. Ohne eine solche Definition besteht aber die Gefahr, dass allzu leicht mehr und mehr Produkte und Industrien in diese Gruppe einbezogen werden.
Ferner wäre hierbei zu klären, ob sich die Definition der hierbei als wichtig erachteten Güter nur auf die Endprodukte oder auch auf alle darin enthaltenen Vor- und Zwischenprodukte bezieht und wo ggfs. die Trennungslinie zu ziehen ist. Wird man hier konkret, zeigt sich, wie problematisch jede Abgrenzung sein kann. Sind z.B. Unternehmen, die für Schutzmasken die elastischen Bänder herstellen, ebenfalls Schlüsselindustrien?
3. Sofern es das Ziel ist, für bestimmte Produkte ein Zurückholen der Produktion ins Inland zu erreichen, wären die Maßnahmen festzulegen, mit denen dies erfolgen soll. Ist hier an ein Einfuhrverbot bestimmter Produkte gedacht, an eine Abnahmegarantier der Regierung für inländische Produzenten oder an Subventionen, die zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Produktion führt. Wenn letzteres gilt, dann müsste zusätzlich festgelegt werden, wie auf eine später entstehende Veränderung der inländischen Wettbewerbsfähigkeit – etwa aufgrund von veränderten Produktionskosten in Inland relativ zum Ausland– zu reagieren wäre. Aus anderen Bereichen der staatlichen Aufsicht ist bekannt, dass die Beurteilung von Produktionskosten durchaus komplex sein kann.
4. Maßnahmen, die in die beschriebene Richtung gehen, wären in jedem Falle zeitlich zu befristen, damit zum einen auf eine Veränderung der Entwicklungen hinsichtlich der Lieferketten und der Produktarten reagiert werden kann und zum anderen kein Gewöhnungseffekt entsteht, der zu einer Verfestigung unangemessener Strukturen führt.
5. Wenn an Abnahmegarantien oder auch eine Vorratshaltung bestimmter Produkte gedacht ist, dann entstünden entsprechende zusätzlich Kosten. Die EU-Landwirtschaftspolitik bietet für die damit verbundenen Probleme vielfältige Anschauungsbeispiele.
6. Bei den Vorschlägen eines auf größere Autarkie abzielenden Vorschlags dürfen die negativen gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte, die von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen ausgehen, nicht übersehen werden. Die entsprechenden Produkte werden unter Einbezug der staatlichen Förderungen teurer und es ist zu klären, wer die entstehenden Kosten trägt. Wenn dabei argumentiert wird, dass dies eben eine Art Versicherungsprämie gegen entsprechende Lieferengpässe sei, dann wäre zumindest zu zeigen, dass die mit letzterem verbundenen negativen Effekte größer sind als die auf den jeweiligen Märkten entstehenden negativen Wohlfahrtseffekte durch den staatlichen Eingriff. Bei den Wohlfahrtseffekten darf auch nicht übersehen werden, dass der Preis eines herbeigeführten „Reshoring“ für ein in die Weltwirtschaft stark integriertes Land wie Deutschland auch in einem induzierten Rückgang der Exporte zeigen würde. Es wäre eine Mär anzunehmen, dass sich Importe unabhängig von den Exporten eines Landes verändern lassen.
3. Schlussfolgerungen
Es zeigt sich mithin, dass ein „Reshoring“ von medizinischen Produkten aufgrund der Covid-19-Pandemie höchst problematisch ist. Die aufgelisteten Probleme zeigen, dass Autarkiebestrebungen immer einen hohen Preis haben. Sie schlagen sich l in höheren Kosten und geringerer gesamtwirtschaftlicher Produktivität nieder. Wenn folglich für Produkte ein Zurückbringen der Produktion und/oder ein Lageraufbau bestimmter Produkte angestrebt wird, so ist zu prüfen, wie mit den aufgezeigten Problemen zu verfahren ist. Bisher erscheint keine Abgrenzung von Produkten, Umfang der Länder für gefährdete Lieferketten sowie Art und Umfang der Maßnahmen überzeugend. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass auch eine Verlagerung der Produktion ins Inland Zeit in Anspruch nimmt. In gleicher Zeit könnte u.U. der Markt für entsprechende Anpassungen sorgen, wie sich nach der ersten Covid-10-Welle zeigt.
Wenn es Lehren aus der ersten Welle der Pandemie hinsichtlich der Lieferketten gibt, so sind sie nicht in einem „Reshoring“ von medizinischen Produkten zu sehen, sondern in den erkannten Vorteilen diversifizierter Lieferketten. Vieles spricht dafür, dass Unternehmen dies selbst und schneller erkennen und die Konsequenzen daraus ziehen können als staatlich verordnete Maßnahmen. So zeigt der Markt für Masken derzeit, dass der Markt durchaus in der Lage ist, auf die aufgetretenen Engpässe zu reagieren. Sonst wäre nicht zu erklären, dass es in der im Vergleich zur ersten Welle stärkeren zweiten Welle offenbar keine Engpässe gibt.
Literatur
Schramböck, Margareta, Produktion nach Europa zurückholen, in: Das Wirtschaftsstudium (wisu), 5/20, S.454-5.
Fuchs, Andreas, Kaplan, Lennart, Kis-Katos, Krisztina, Schmidt, Sebastian, Turbanisch, Felix, und Wang, Feicheng, Chinas Maskendiplomatie Die Rolle politischer und wirtschaftlicher Bezieheungen bei der Beschaffung medizinischer Güter in der Corona-Krise, Kis Policy Brief, Nr. 145 (Oktober 2020).
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