Gastbeitrag
Rationale Entscheidungen in Zeiten von Corona

„Nichts ist schwerer als der Rückzug aus einer unhaltbaren Position.“ (Carl von Clausewitz, 1780 – 1831)

Wird Corona als die schlimmste Gesundheitsgefahr seit der Spanischen Grippe oder als die größte Massenhysterie seit den 1930er Jahren in die Geschichte eingehen? Noch wissen wir es nicht. Wir sind jedoch gerade dabei, eine Wirtschaftskrise zu provozieren, wie sie die Welt seit fast hundert Jahren nicht mehr gesehen hat. Wir befinden uns in einer Situation, dass wichtige Grundrechte eingeschränkt werden – Grundrechte, die nicht zuletzt Grundrechte heißen, weil davon auszugehen ist, dass sie auch und gerade in Krisenzeiten universell Geltung haben. Wir nehmen eine Destabilisierung unserer Gesellschaft in Kauf, deren Folgen wir zum heutigen Zeitpunkt noch kaum abschätzen können. Mit alldem fügen wir nicht nur uns, sondern auch künftigen Generationen schweren Schaden zu. Die richtigen Rezepte zur Bekämpfung von Corona im engen Sinne zu finden, obliegt in erster Linie den Medizinern. In anderen Feldern können Volkswirte und mit den Prinzipien des Krisenmanagements vertraute Betriebswirte durchaus einen Beitrag leisten. Dies betrifft neben der Prognose der wirtschaftlichen Schäden sowie einer Bewertung verfügbarer Optionen zur Seuchenbekämpfung nicht zuletzt die Frage der Entscheidungsfindung in Sachen Corona und deren kritische Würdigung.

Werden also die Entscheidungen, die so gewaltig in das Leben so vieler Menschen eingreifen, zumindest den Kriterien rationaler Entscheidungsfindung gerecht?

Güterabwägung und das ökonomische Prinzip

Ökonomen haben bereits vor zweihundert Jahren herausgefunden, dass der Preis (die Kosten) einer jeden Sache das ist, auf was man verzichten muss, um sie zu bekommen (Opportunitätskosten). Das Ökonomische Prinzip besagt, umgangssprachlich ausgedrückt, dass aufgrund der Endlichkeit der Ressourcen – und sei es nur die menschliche Lebenszeit – ein jedes Ding seinen Preis hat / nichts umsonst ist. Daraus können wir ableiten, dass es sicherlich nicht rational ist, alles einem einzigen Ziel unterzuordnen. Abgesehen vom juristischen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ist auch aus ökonomischer Sicht das einzig rationale Entscheidungsprinzip –die Güterabwägung. Es ist nicht rational, alles einem einzigen Ziel unterzuordnen, alles „Machbare“ oder gar „Menschenmögliche“ zu tun. Die Medizin darf nicht gefährlicher sein als die Krankheit!

Mit Blick auf Corona betrifft dies vor allem zwei Fragen: Die Frage nach den wirtschaftlichen Kosten der Corona-Bekämpfung und die Frage nach der Relation mit Blick auf andere Krankheiten. Es gilt abzuwägen: Wieviel an wirtschaftlichen und anderen Kollateralschäden darf einem die Seuchenbekämpfung wert sein? Und: Kommen nicht auf lange Sicht mehr Menschen durch die Maßnahmen der Corona-Bekämpfung zu Schaden als durch Corona selbst? (Bereits im April wurde publik, dass die Anzahl der in den Notaufnahmen vorsprechenden Verdachtsfälle auf Herzinfarkt und Schlaganfall – wohl aufgrund der abschreckenden Wirkung der Corona-Maßnahmen – um ein Drittel zurückgegangen ist. Dies bedeutet, grob überschlagen, ca. 10.000 unentdeckte Schlaganfälle pro Monat. Insgesamt wird uns die Bekämpfung von Corona allein hier höchstwahrscheinlich mehr Tote kosten als Corona selbst.) Und letztlich: Wenn Sie, lieber Leser, nahezu unbegrenzte Mittel zu Ihrer Verfügung hätten, welche der Geiseln der Menschheit würden Sie damit bekämpfen? Aids, Malaria, Hepatitis? Multiresistente Keime? Krebs? Kindersterblichkeit oder Mangelernährung? – Nun, die Menschheit hat sich wohl für Covid-19 entschieden…

Effizienz, Effektivität und das Marginalkalkül

Kern jeder rationalen Entscheidung ist, geeignete Maßnahmen für ein definiertes Problem zu finden und die beste davon auszuwählen. Eine Maßnahme, die geeignet ist, ein Problem zu lösen, ist effektiv. Eine Maßnahme, die nicht nur geeignet ist, sondern noch dazu kostengünstig und die möglichst geringe unerwünschte Nebenwirkungen aufweist, ist effizient.

Die drakonischen Maßnahmen, die zu Beginn der Corona-Krise ergriffen wurden – und jetzt wieder werden, waren, wenn überhaupt, in ihrer Undifferenziertheit nur als unmittelbare Sofortmaßnahme akzeptabel. Denn neben wirksamen Maßnahmen enthalten die beschlossenen Maßnahmenpakete ganz unbestritten eine große Menge solcher, die jeden positiven Beitrags entbehren, die Kosten der Corona-Bekämpfung dagegen ins Unermessliche treiben. Dazu gehörten im Frühjahr zum Beispiel Grenzschließungen zwischen Nordpolen (0 Infektionen) und Mecklenburg-Vorpommern (0 Infektionen) und heute sicherlich das Verbot von Theaterveranstaltungen und vielen Sportarten, bei denen sich bis heute noch niemand nachweislich infiziert hat.

Folglich muss die Frage lauten: Welche der noch immer geltenden oder neu vorgeschlagenen Maßnahmen sind überhaupt (nachweisbar) geeignet, also effektiv? Welche Maßnahmen sind auch nach Aufwands-/Nutzensmaßstäben noch akzeptabel, also effizient?

In der Welt der rationalen Entscheidungsfindung muss jede Einzelmaßnahme ihre Nützlichkeit beweisen. Tut sie dies nicht, ist sie unnötig, nicht effektiv. Maßnahmen wie der gezielte Schutz von Risikogruppen sind relativ günstig – ohne große Nebenwirkungen zu haben. Währenddessen sind Lockdowns sicher wirksam, verursachen jedoch riesige Schäden, sind also nicht effizient. Es gilt dringend, die Kanonenkugel jetzt durch das Florett zu ersetzen, besser wäre noch: das Skalpell, um großen Schaden von diesem Land zu wenden.

Ökonomische Entscheidungen finden zudem auf der Grundlage des Marginalkalküls statt. Die Frage ist hier also: Was schadet eine einzelne Maßnahme weniger? Was bringt eine einzelne Maßnahme mehr? Würde man all jene (Teil-)Maßnahmen gezielt und systematisch streichen, für die kein wesentlicher Nutzen nachweisbar ist, wäre man der rationalen Entscheidungsfindung in Sachen Corona schon ein gutes Stück weit näher.

Differenzierung zwischen Sofortmaßnahmen und Maßnahmen der Krisenbekämpfung

An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs in die Welt der Betriebswirtschaftslehre erlaubt, konkret in das Feld des Krisenmanagements: Dort wird bewusst zwischen Sofortmaßnahmen – deren Ziel: die Schadensbegrenzung und die Sicherung von Potenzialen – und Maßnahmen der Krisenbewältigung unterschieden. Erstere ziehen die „Brandmauer“. Doch in den seltensten Fällen liegt die Lösung des Problems in der Fortschreibung der Sofortmaßnahmen. Was wohl würde mit einem Krisenmanager in der Freien Wirtschaft geschehen, wenn ihm auch noch Wochen nach dem Ausbruch eines Werkbrands nichts besseres einfiele, als die ganze Produktion oder große Teile derselben gestoppt zu halten?

Wie allgemein bekannt ist, wurden sinnvolle Sofortmaßnahmen – Einstellung von Flügen aus China – viel zu spät ergriffen. Die Lösung des Gesundheitsproblems Corona liegt wiederum wohl kaum in einem linearen Hoch- und Herunterfahren von Sofortmaßnahmen, wie der Einstellung des öffentlichen Lebens.

Sparsamkeitsprinzip und objektive Bewertungsmaßstäbe – es geht um Fragen der Optimierung!

Einer der wichtigsten Grundsätze bei der Corona-Bekämpfung muss lauten: Wir müssen zum Sparsamkeitsprinzip zurück. Soll heißen, dass zur Bekämpfung der Epidemie diejenigen Maßnahmen eingesetzt werden (und zwar nur noch diejenigen Maßnahmen), die zur Bekämpfung der Epidemie zwingend notwendig sind. Viele verantwortliche Politiker äußern sich jedoch nach wie vor dahingehend, dass sie gerne „auf der sicheren Seite“ sein möchten. Doch es gibt in dieser Situation keine sichere Seite, auf beiden Seiten ist der Abgrund!

Beachtet man diese Gegebenheit, so wäre die rationale Entscheidungsfindung in Sachen Corona eine Frage der Optimierung: Wir haben es mit einer „hump-shaped“, also buckeligen, Nutzensfunktion zu tun. Betrachtet man die potenziell durch die Corona-Maßnahmen abgewendeten Schäden (Schäden durch Corona) ebenso wie diejenigen Schäden, die durch eben diese Maßnahmen verursacht werden (Schäden durch Corona-Maßnahmen), so steigt mit einer zunehmenden Anzahl an getroffenen Maßnahmen zunächst der Nutzen – da diese die Krankheit eindämmen, erreicht ein Maximum und fällt dann wohl relativ schnell steil ab – in dem Maße, in dem nun die Folgen der Corona-Bekämpfung zu Buche schlagen. Der Abgrund der einen Seite ist ein unkontrolliertes Umsichgreifen der Epidemie, der Abgrund der anderen die verheerenden Folgen einer Weltwirtschaftskrise, unbehandelter anderer Krankheiten, aufgeschobener Operationen etc., bis hin zu den unabsehbaren Folgen politischer Destabilisierung.

Inhalt einer rationalen Entscheidung in Sachen Corona ist es also, diesen schmalen Grad möglichst genau zu finden. Denn die durch die – sehr kruden – Maßnahmen der Corona-Bekämpfung ausgelösten Folgen sind nicht weniger schlimm – nicht einmal vom Standpunkt der Medizin – als die Folgen einer um sich greifenden Epidemie.

Definierte Ziele & objektive Bewertungsmaßstäbe

Eine Entscheidung für effektive und effiziente Maßnahmen setzt allerdings eine klare Zieldefinition voraus. Es muss klar sein, was man erreichen möchte.

Nach der wissenschaftlichen Entscheidungstheorie ist eine Entscheidung unter anderem dann rational, wenn ein Entscheider i) konsequent im Einklang mit seinem Zielsystem agiert, ii) die ihm zur Verfügung stehenden Informationen korrekt verarbeitet (Informationsverarbeitung) sowie weitere Informationen unter Abwägung von Kosten und Nutzen beschafft. Die wissenschaftliche Entscheidungstheorie geht weiterhin davon aus, dass sich ein Entscheider iii) vor eine Anzahl von Handlungsalternativen gestellt sieht, von denen er iv) eine gemäß seiner Präferenzfunktion auswählt. Eine rationale Entscheidung erfolgt dann v) auf Grundlage der Erwartungsnutzentheorie (Bernoulli-Prinzip) unter Berücksichtigung der Axiome rationalen Entscheidens.

Betrachtet man die Corona-Situation, so ist bereits die Definition eines klaren Zielsystems nach wie vor nicht gegeben: Wurde zunächst eine Vermeidung der Überlastung der Intensivkapazitäten als Ziel kommuniziert (bei einer Verdopplungszeit von etwa 10 Tagen), „Flatten the Curve“ also, so wurde es später die Reproduktionszahl. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ging dann bereits seit Anfang April zurück. Die Verdopplungszeit von 10 Tagen war bereits am 6.4. erreicht. Die Reproduktionszahl in Deutschland lag Monate lang unter oder um die Eins. Gegenwärtig steigt die Zahl der Infektionen (zumindest der gemessenen Infektionen), jedoch ohne eine Steigung der Mortalität.

Die Definition eines klaren Ziels ist deswegen von großer Wichtigkeit, weil es hier schließlich um einiges geht: Der sicherlich wünschenswerten Eindämmung des Corona-Virus gegenüber steht u.a. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie eine ganze Reihe an Rechten und Freiheiten. Welchem Ziel wurden und werden diese geopfert? Und ist dies auch ein realistisches Ziel? Denn schließlich muss ein Ziel ja auch erreichbar sein. Nicht umsonst war eine der ersten Fragen des emeritierten Infektiologen Bhakdi in seinem Offenen Brief an die Kanzlerin: Welches Ziel soll erreicht werden?

Ein sinnvolles Ziel mag sicherlich sein, die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit zu verlangsamen, die Anzahl der schweren Fälle unter Risikogruppen oder die Tödlichkeit des Virus zu reduzieren. Um wieviel, ist von den Entscheidungsträgern zu definieren. Auf Null ist sicherlich unrealistisch.

Multidimensionale und intertemporale Optimierung

Die Frage der Zielsetzung ist in Sachen Corona keine einfache, denn die Gesellschaft verfolgt mehr als nur ein Ziel. Es gibt nach wie vor andere Krankheiten, nach wie vor andere Ziele der Politik! Technisch gesehen ist also die Entscheidungssituation hinsichtlich Corona eine Frage mehrdimensionaler Optimierung. Nicht die beste Lösung in Sachen Corona ist zu verfolgen, sondern das beste Politikbündel, wovon Corona nur einen Aspekt darstellt, oder das beste Politikbündel ist zu verfolgen unter der Einschränkung einer als ausreichend erachteten Corona-Unterdrückung als limitierendem Faktor.

Was heißt dies konkret? Es würde bedeuten, dass in einer solchen mehrdimensionalen Entscheidungssituation die Bekämpfung von Corona nicht mehr Gewicht finden dürfte als die Bekämpfung anderer Krankheiten. Dass, angefangen von Fragen der Verkehrsinfrastruktur, von Kunst, Kultur, Lebensqualität bis zur sozialen Sicherheit zukünftiger Generationen alle gesellschaftlichen Ziele wieder in ein angemessenes Gleichgewicht mit Corona finden müssen – und dies möglichst schnell.

Die richtigen – und das heißt: angemessenen – Maßnahmen gegen Corona zu treffen, ist zudem auch ein Problem intertemporaler Optimierung. Eine wichtige Rolle spielt hier der Diskontfaktor, mit dem das sehr reale Risiko schwerster wirtschaftlicher und politischer Verwerfungen in den nächsten 5 bis 10 Jahren gegenüber dem gegenwärtigen gesundheitspolitischen (Grenz-)Nutzen des Maßnahmenpakets abgezinst wird. Sehr wahrscheinlich, dass hier deutlich über das Ziel hinausgeschossen wurde. Wollen wir auch in Zukunft ein Gesundheitssystem, so kostet das Geld. Die Neuverschuldung belastet zukünftige Generationen erheblich. Die unweigerliche Inflation, gepaart mit hoher Arbeitslosigkeit, stellt ein explosives Gemisch dar. Noch nie in der jüngeren Geschichte ging diese Kombination ohne schwerste politische Verwerfungen – sprich: gut – aus. Der gegenwärtige Nutzen stünde dann mit den zukünftigen Kosten der Maßnahmenpakete in keiner günstigen Relation.

Doch wir brauchen gar nicht so weit gehen – die rationale Entscheidungsfindung in Sachen Corona scheitert bereits an etwas ganz anderem: Der Datengrundlage!

Zahlen, Daten, Fakten

Circa 80 Millionen Menschen leben in Deutschland. Eine unbekannte Zahl davon ist derzeit mit dem Corona-Virus infiziert. Wieviele das sind, wissen wir nicht. Wir können es nicht wissen, es sei denn, wir testen alle Deutschen – was wir nicht können. Würden wir eine repräsentative Stichprobe aus diesen 80 Millionen Menschen ziehen, könnten wir diese Zahl hochrechnen. Die vom Robert Koch Institut regelmäßig publizierte Zahl der gemeldeten Infizierten besagt – nichts. Denn es handelt sich, statistisch gesehen, um eine nicht-repräsentative Stichprobe. Ob die Zahl der gemeldeten Infizierten somit steigt oder fällt, ergibt sich u.a. aus der Anzahl der durchgeführten Tests. (Bedeutet nun eine Verdoppelung der gemeldeten Infektionszahlen bei gleichzeitiger Verdreifachung der Tests, dass es mehr oder weniger Infizierte gibt? Höchst wahrscheinlich wird hier nur mehr von der Dunkelziffer gemessen – welche, u.a. nach der Heinsberg-Studie, wohl beim 7- bis 10-fachen der gemeldeten Infektionen liegt.) Ebenso ergibt sie sich aus der Frage, wer sich hat testen lassen – viele Ärzte und Pflegepersonal, zum Beispiel, die teils bis zu ein Mal pro Woche getestet werden, und auch den Risiken viel stärker ausgesetzt sind als andere, Reiserückkehrer, Menschen, die der Quarantäne entgehen wollen oder sich krank fühlen – kurz: Es ist kein repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung. Hier wird also unzulässig von einer nicht-repräsentativen Stichprobe (zunehmende Anzahl Infizierter unter einer variablen Anzahl getesteten Menschen) auf eine Grundgesamtheit (Infizierte in der Bevölkerung) geschlossen. Dennoch wurden soeben im Bundestag gekoppelt an diese Zahl die tiefgreifendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik verabschiedet!

Eine der größten und offensichtlichsten Schwachstellen mit Blick auf die Corona-Entscheidungsfindung: Um die zu rationaler Entscheidungsfindung notwendige Datenlage steht es bis heute nicht zum besten. Drei Faktoren erscheinen hierfür bestimmend: Die schlechte Qualität der Daten und ein zu beobachtender Mangel an Initiative, die vorhandenen Wissenslücken schnell zu schließen sowie eine mangelnde Anpassung der Entscheidungen an einen neuen Erkenntnisstand.

Dass zu Beginn einer sich neu ausbreitenden Epidemie die Informationslage naturgemäß ‚fuzzy‘ ist, Entscheidungen mithin auf Einschätzungen beruhen müssen, ist nichts anderem als der Sache geschuldet. Doch wurden diese Entscheidungen denn auch unter Einbeziehung einer möglichst breiten Basis an Einschätzungen und aller verfügbaren Informationen getroffen? Dies erscheint angesichts der doch sehr starken zu beobachtenden Dominanz einer sehr kleinen Gruppe von Experten – rund um Robert Koch Institut und Charité – zumindest fragwürdig. Doch irgendwann sind Einschätzungen durch Fakten zu ersetzen. Hoch problematisch, dass vielfach kaum nennenswerte Versuche unternommen wurden, Kenntnislücken zügig zu schließen: Die oft zitierte Heinsberg-Studie ging auf die Eigeninitiative des Bonner Virologen Streeck zurück. Es folgte die Münchner Studie. Doch auch sie, mit Blick auf den Informationsbedarf, ein Tropfen auf den heißen Stein. Berücksichtigt man die Milliardensummen, die zur Bekämpfung der Pandemie mobilisiert werden, ein paar Tausend Euro für eine wissenschaftliche Studie mehr – dies wäre sicherlich verkraftbar gewesen.  Mittlerweile ist auch bekannt, dass das Robert Koch Institut von der Obduktion von Corona-Toten abgeraten, und damit wichtigen Erkenntnisgewinn verhindert hat.

Veraltete Zahlen aus Italien, mangelnde Unterscheidung zwischen Infizierten und Kranken, Hochrechnung einer Lethalität aus gemeldeten Fallzahlen ohne Berücksichtigung von Dunkelziffern, Durcheinanderwerfen von Stichprobe und Grundgesamtheit und – sicherlich am denkwürdigsten ! – die noch immer nicht erfolgte Differenzierung zwischen Tod an und Tod mit Corona: Wie sind auf dieser Grundlage rationale Entscheidungen überhaupt möglich?

„Ändern sich die Fakten, ändere ich meine Meinung“, sagte einst John Maynard Keynes. Am Anfang wusste man nicht, was da auf uns zukommt. Die ersten Bilder und Zahlen aus Italien ließen bekanntlich befürchten, dass es sich um ein äußerst aggressives Virus mit einer Sterblichkeit von zwischen 5 und 10% handeln könnte. Mittlerweile liegen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse vor, dass das Virus – auch wenn es natürlich nicht zu unterschätzen ist – doch deutlich weniger gefährlich ist, als ursprünglich angenommen. Es wird zudem auch mehr über mögliche Therapien bekannt. Dem muss jetzt aber auch unbedingt Rechnung getragen werden. Selbst wenn die drakonischen Maßnahmen in der ersten Stunde unter Berücksichtigung der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse angemessen gewesen sein sollten, sind sie es nach dem jetzigen Kenntnisstand sicherlich nicht mehr. Ein Phänomen der zu beobachtenden Entscheidungsfindung in Sachen Corona ist eine ausgeprägte Zögerlichkeit, Entscheidungen einer sich verändernden Erkenntnislage anzupassen.

Der Umgang mit dem „stochastischen Element“

Nun ist es natürlich so, dass die wenigsten Zahlen in Sachen Corona Kriterien der Sicherheit oder Endgültigkeit erfüllen. Auch haben unterschiedliche Menschen unterschiedliche Präferenzen, gerade was den Grad der Unsicherheit angeht, den sie bereit sind zu tragen. Dennoch ist es auch unter diesen Umständen möglich, Bandbreiten einzuschätzen. Die Aussage „Wir wissen es nicht.“ entbindet nicht von der Pflicht, auf Basis einer Einschätzung und Erwartungswerten eine rationale Entscheidung zu treffen.

In Interviews mit Medizinern wird immer wieder entlang der Linie argumentiert: Man wisse noch zu wenig über die Krankheit, potenzielle Langzeitwirkungen etc. So werden äußerst drastische Maßnahmen begründet. Gerade wenn man jedoch zu wenig weiß, darf nicht davon ausgegangen werden, dass das schlimmstmögliche Szenario zu 100% genau so eintrifft. Das Horrorszenario müsste – um rational damit umzugehen – mit einem Faktor, der seine Eintrittswahrscheinlichkeit abbildet, gewichtet, und somit relativiert werden.

Handlungsalternativen als Grundlage für eine rationale Entscheidung

Die Definition von Handlungsalternativen ist unverzichtbare Voraussetzung für eine rationale Entscheidung. Eine rationale Entscheidungsfindung würde beinhalten, dass unter einer Vielzahl möglicher Maßnahmenpakete dasjenige ausgewählt wird, welches ein erforderliches Ergebnis (i.S. einer definierten maximalen Ansteckungsrate und / oder Häufigkeit schwerer Verläufe bzw. Sterblichkeit) zu den geringstmöglichen Kosten (Kollateralschäden) erbringt. Der Begriff der „Alternativlosigkeit“ ist im Kontext von Corona noch unpassender als er ohnehin jemals war. Vielmehr geht es darum, schnellstmöglich unterschiedliche Handlungsalternativen zu identifizieren und die am wenigsten schädliche auszuwählen. Besser noch: diejenige mit der besten Relation zwischen erwartetem Nutzen und den erwarteten (in Form von Kollateralschäden anfallenden) Kosten. Zweifel sind angebracht, ob eine solche Analyse jemals bewusst unternommen wurde. (Siehe dazu u.a. die im Frühsommer lancierte Anfrage von 5 Professoren unterschiedlicher Fachrichtungen an die Fraktionen des Deutschen Bundestags.) Würde man dies tun, würde man auch hoffentlich zu intelligenteren Lösungen kommen als zu einer Seuchenbekämpfung, die im Wesentlichen der des Mittelalters entspricht. Wenig Interesse an der Diskussion von Alternativen signalisieren natürlich Begrifflichkeiten wie „Öffnungsdiskussionsorgien“. Zu warnen ist zudem vor dem rhetorischen Stilmittel der „falschen Alternative“: Wenn einem Kritiker der Corona-Maßnahmen die Frage gestellt wird: „Ja möchten Sie denn dann lieber alle alten Leute sterben lassen?“, so ist dies eine wohlbekannte rhetorische Überspitzung, auf die zurückzugreifen in Talkshows legitim sein mag. Für die Entscheidungsfindung ist sie nicht hilfreich. Über die mediale Dauerbeschallung hat diese Art der Argumentation jedoch Einzug in viele Alltagsgespräche gehalten.

Gezielte Lösungen sind immer weniger schädlich als flächendeckende. Folglich ist eine gezielte Lösung immer die bessere Alternative.

Die Axiome rationalen Entscheidens

Bei Entscheidungen unter Unsicherheit ist auf Basis des erwarteten Nutzens zu entscheiden, indem diejenige Alternative gewählt wird, die den höchsten Erwartungsnutzen aufweist (Bernoulli; von Neumann und Morgenstern). Eine (so getroffene) Entscheidung ist dann rational, wenn sie die von von Neumann und Morgenstern definierten Axiome rationalen Entscheidens einhält. Es sind dies Ordnungsaxiom, Transitivitätsaxiom, Stetigkeitsaxiom, Unabhängigkeitsaxiom, Reduktions- und Monotonieaxiom. Luce und Raiffa setzen an die Stelle des Unabhängigkeitsaxioms das Substitutionsaxiom. Herstein und Milnor haben gezeigt, dass Ordnung, Transitivität, Stetigkeit und Unabhängigkeit ausreichen.

Das Ordnungsaxiom sieht vor, dass der Entscheider stets in der Lage ist, zwei Ergebnisse oder Alternativen A und B miteinander zu vergleichen und anzugeben, ob er A oder B vorzieht, respektive indifferent zwischen den beiden Varianten ist. Das Transitivitätsaxiom ist die Annahme, dass der Entscheider eine widerspruchsfreie Präferenzrelation bilden kann. Das bedeutet: Zieht der Entscheider Alternative A der Alternative B und B wiederum der Alternative C vor, so muss er auch A der Alternative C vorziehen.

Dies ist nur dann möglich, wenn der Entscheider die Konsequenzen beider Alternativen zumindest grob quantifiziert hat, sowie klare Zielgrößen definiert hat, anhand derer es möglich ist, Alternativen miteinander zu vergleichen. Das scheint in der Corona-Krise nicht der Fall zu sein. Zumindest wurden in der Öffentlichkeit keine Sets von alternativen Möglichkeiten diskutiert. Es fehlt zudem die klare Zielgröße bzw. das Zielsystem, an dem sich unterschiedliche alternative Maßnahmenkataloge messen lassen (müssen). Daher sind schon an dieser Stelle rationale Entscheidungen kaum möglich, da verschiedene Handlungsalternativen nicht in eine Reihenfolge zu bringen sind. Ohne die Auswirkungen unterschiedlicher Alternativen zu kennen, oder zumindest belastbare Schätzungen vorliegen zu haben, wird das Ordnungsaxiom hinfällig. Die Transitivität erübrigt sich mit dem Nicht-Vorliegen klar definierter Handlungsalternativen und Zielgrößen.

Um den Erfordernissen rationaler Entscheidungsfindung zu genügen, müssten Entscheidungen in Sachen Corona allerdings auch die Transitivität mit Blick auf andere Krankheiten und Lebensrisiken ausreichend berücksichtigen: Mit Blick auf das Abwägen der beiden Werte Leben und Freiheit mag es – und das ist vollkommen legitim – unterschiedliche Präferenzen geben. Extrem risikoaverse Menschen mögen bereit sein, sich gar auf Jahre hin mit Notverordnungen regieren zu lassen, wenn dies ihr Risiko an Corona zu erkranken, und potenziell zu sterben, hinreichend verringert. Diese Position wird jedoch in dem Augenblick irrational, in dem diese Menschen nicht bereit sind, die gleichen Maßstäbe an andere Krankheiten bzw. Lebensrisiken anzulegen: Die Grippewelle von 2017/18 (25.100 Tote), Krebs (daran erkranken jährlich 500.000 Menschen in Deutschland; Todesursache für über 50% der Über-80-Jährigen), multiresistente Keime (33.000 Tote pro Jahr), sie alle haben weit mehr Todesfälle unter alten, vorerkrankten Menschen gefordert und fordern diese weiterhin – als das neue Corona-Virus. Die extremen Entscheidungen, die in Sachen Corona getroffen wurden, sind also – so unangenehm diese Erkenntnis sein mag – aufgrund des Maßstabs der Transitivität nur dann als rational zu bezeichnen, wenn die Entscheider bereit sind, gegen alle Lebensrisiken, die größer sind als Corona, in gleichem oder noch viel härterem Umfang vorzugehen.

Stetigkeit und Unabhängigkeit: Nach dem Stetigkeitsaxiom muss der Entscheider in der Lage sein, beim Vergleich einer einfachen Lotterie (Wahrscheinlichkeitsverteilung für eine Reihe von Outcomes) und einem sicheren Ergebnis anzugeben, für welche Wahrscheinlichkeit er indifferent zwischen der Lotterie und dem Ergebnis ist. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom schließlich ist die Präferenzordnung des Entscheiders über zwei Alternativen unabhängig davon, ob er diese isoliert oder im Zusammenhang mit anderen Alternativen beurteilt. Dies klingt sehr technisch, doch wieviel wären Sie bereit, zu geben, um eine Todeswahrscheinlichkeit heute von 0,0006 abzuwenden?[1]

Im Fall Corona führt leider nichts umhin, als mit Risiken und Wahrscheinlichkeiten, und damit Erwartungswerten, zu operieren. Sicherheit wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Daher trifft der Begriff der Lotterie zu. Die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung auf einem Kinderspielplatz, die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung im Flugzeug, die Wahrscheinlichkeit eines neuen lokal begrenzten Ausbruchs, etc. müssen, um rational zu entscheiden, mit ihren potentiellen Folgen gewichtet und zu den Kosten (Kollateralschäden) durch Gegenmaßnahmen in Relation gesetzt werden. Die Verantwortungsträger tun sich hier sichtlich schwer, hätten nach wie vor lieber (erst) Sicherheit, bevor sie (z.B. Lockerungs-) Entscheidungen treffen. Es ist wichtig, sich klar zu sein, dass diese Sicherheit nicht zu bekommen ist.

Abweichungen von rationalen Entscheidungen

Im Gegensatz zur normativen Entscheidungstheorie (die beschreibt, wie Entscheidungen gefällt werden sollten) beschreibt die deskriptive Entscheidungstheorie wie Menschen Entscheidungen tatsächlich fällen, und wo und warum sie von rationalen Entscheidungen abweichen. Faktoren, die den Unterschied machen, sind zum einen allgemein menschliches Verhalten (insbesondere Moral Hazard), Wahrnehmungsverzerrungen und Heuristiken. Letztere sind gedankliche Abkürzungen, die sich über den Lauf der Evolution gefestigt haben und zu irrationalem Verhalten führen – daher die Gefährlichkeit von Bauchentscheidungen! Vermutete der Urmensch einen Säbelzahntiger hinter sich, sprang er auf den nächsten Baum. Er analysierte nicht. War es dann doch ein Kaninchen, kletterte er wieder herunter. Die Kosten des Irrtums waren nicht hoch. In der Corona-Krise hingegen sind die Kosten eines Irrtums gewaltig. Grund genug, hier genau hinzuschauen, ob politische Entscheidungen in der Corona-Krise möglicherweise durch derartige Reflexe verzerrt wurden:

Moral Hazard

Moral Hazard stellt zunächst keine eigentliche Abweichung von der Rationalität dar, sondern die Ursache der Abweichung zwischen kollektiv rationalen Entscheidungen und individuell rationalen Entscheidungen. In anderen Worten: Entscheidungen, die auf den ersten Blick irrational scheinen, können sich als durchaus rational herausstellen, wenn man auf die individuellen Anreize einzelner Akteure blickt.

An dieser Stelle soll nicht davon ausgegangen werden, dass in dieser ernsten Situation politische Entscheidungsträger Entscheidungen nach anderen Kriterien treffen als nach dem, was sie für das Allgemeinwohl am zutreffendsten halten. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Corona-Pandemie bestimmten Personen plötzlich eine Öffentlichkeit bot, von der sie vorher nie geträumt hatten – und die sie ganz offensichtlich genossen bzw. nach wie vor genießen. Auch das Sponsoring bestimmter Institutionen – selbst wenn aus altruistischen Motiven erfolgt – gemeint sind WHO aber natürlich auch bestimmte Institute, die außerdem an Gegenmaßnahmen zur Krise auch finanziell profitieren – wie zum Beispiel an der Corona-App – kann natürlich zu Anreizverzerrungen führen. Ein Indiz für Vested Interest ist sicherlich auch das sehr frühzeitige Einschwingen der Diskussion auf einen Impfstoff als Lösung im Gegensatz z.B. zu einer medikamentösen Therapie oder anderen Formen der Prävention. Insofern mag es durchaus an der einen oder anderen Stelle berechtigt sein, genauer hinzuschauen, und nicht davon auszugehen, dass die die Politik beratenden Institutionen und Institute ganz frei von Eigeninteressen sind. Moral Hazard wird es in Entscheidungen immer geben. Aufgabe der Entscheider ist jedoch, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Aufgabe von Medien und Öffentlichkeit als Kontrollorgane ist, mögliche Interessenskonflikte transparent zu machen.

Framing und Verfügbarkeitsheuristik

Das mittlerweile auch der breiten Öffentlichkeit bekannte Wort Framing bezeichnet die Tatsache, dass in eine andere Kontextsituation gestellte Entscheidungssituationen Menschen dazu verleiten, unterschiedliche Entscheidungen zu treffen. Stellt man die gleiche Entscheidungssituation in ein anderes Licht, so verändert sich die Einschätzung des Entscheiders. Dies wurde durch eine Vielzahl von Experimenten nachgewiesen. Der Mensch hält zudem Szenarien für wahrscheinlicher, die er sich gut vorstellen kann (Verfügbarkeitsheuristik). Die Bilder überquellender Notaufnahmen und von Leichenbergen aus Italien hatten ganz ohne Zweifel diese Wirkung und sind geradezu ein Paradebeispiel für diese beiden Effekte: Um „eine Situation zu verhindern wie in Italien“, sind Menschen bereit, nahezu alles zu tun, selbst wenn die Voraussetzungen (insbes. die Qualität medizinischer Versorgung ebenso wie Infektionsgeschehen) in Deutschland ganz andere sind als in Italien im Frühjahr 2020. Das Schreckgespinst vom Tod in der Notaufnahme ohne Beatmungsgerät ist zudem bereits ohne die Macht der Bilder aus Italien für die meisten Menschen weit präsenter und eher vorstellbar, als die Effekte einer Weltwirtschaftskrise oder der dadurch verursachte Tod unterernährter Kinder in den Entwicklungsländern – beide erscheinen uns abstrakt und hinreichend weit entfernt. Es ist daher davon auszugehen, dass aufgrund verzerrter Wahrnehmung die Effekte der Erkrankung als deutlich dramatischer wahrgenommen und daher stärker gewichtet wurden als die der Gegenmaßnahmen. Mit zunehmender Nüchternheit wird dies offensichtlich.

Selbstbestätigungsbias und Ankereffekt, Ex-Post-Fallacy

Berücksichtigt man die Tatsache, dass die ersten Maßnahmen in der Corona-Krise wohl von einem sehr kleinen Kreis von Personen auf Grundlage eines möglicherweise gar einseitig beratenden kleinen Kreises von Experten getroffen wurden, die selbst einem gewissen Bias unterlagen, darf zudem davon ausgegangen werden, dass die Gruppe, die die großen Corona-Entscheidungen trifft, einem starken Selbstbestätigungs-Bias unterliegt. Das heißt: nun unbewusst diejenigen Informationen herausfiltert, die nicht ins eigene Weltbild passen. Darauf deutet zumindest das Verhalten mancher Entscheider in der Lockerungsphase hin. Sollte dies der Fall sein, hieße das: Man will nicht wahrhaben, dass man die Situation überschätzt haben könnte, selbst wenn dieser Eindruck nur auf eine veränderte Datenlage zurückgehen sollte.

Hinterher ist man immer schlauer (Ex-Post-Fallacy). Selbst Maßnahmen, die nach objektiven Maßstäben sich im Nachhinein als überzogen herausstellen, müssen deswegen im Augenblick der Entscheidung nach vormaligen Maßstäben ja nicht falsch gewesen sein. Nicht zu rechtfertigen ist jedoch, auch noch Wochen oder Monate später ein solches Szenario aufrechtzuerhalten. Aufgrund der Dramatik der ersten Tage, mit Infektionsszenarien, die ungefähr die 10-fache Gefährlichkeit des Virus bezogen auf Ansteckungsverhalten und Tödlichkeit annahmen, die neuere empirische Studien finden, muss davon ausgegangen werden, dass die Entscheider ihr Verhalten der neuen Situation nicht in gleichem Maße angepasst haben, sondern noch immer zu stark an ihren (vor dem Hintergrund der damaligen Erkenntnislage) möglicherweise richtigen Entscheidungen festhalten. Als geistiger Anker dient das Ursprungsszenario. Auch Lockerungen in den Beschränkungen werden nun nicht mehr in Relation zur aktuellen Gefährdungslage, sondern zum extremen Ursprungsszenario gesehen. Nicht mehr in Relation zur Freiheit und Unbeschränktheit einer Vor-Corona-Welt, sondern zu einem drastischen Lockdown-Szenario. Den Bürgern geht es nicht anders: Wir sind schon dankbar, wenn uns kleine Stückchen unserer verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zurückgegeben werden und merken gar nicht, wieviel uns zur Freiheit noch fehlt. Wir sind froh, über einen „Lockdown light“, weil er nicht ganz so drastisch ausfällt wie der erste.

Rubinstein-Effekt, Prospect-Theory, Schuld und Sühne

Ein zu langes Verharren aufgrund Ankereffekt und Selbstbestätigungs-Bias ist vor allem deshalb gefährlich, weil wir uns hinsichtlich der Auswirkungen der Gegenmaßnahmen in einem sogenannten Rubinstein-Szenario befinden. Dies ist vergleichbar mit einem Lokführerstreik, nur um Dimensionen größer: Die Kosten eines jeden Tages zuviel an flächendeckenden Einschränkungen oder gar Lockdown sind so prohibitiv hoch, dass nahezu jeder Preis gerechtfertigt wäre, um das Land vor den dadurch entstehenden Schäden zu bewahren. Wir werden als Gesellschaft die momentane Situation vielleicht noch ein, zwei, drei Monate aushalten, nicht jedoch nochmal ein Jahr und schon gar nicht mehrere Jahre. Gefragt sind folglich jetzt Lösungen, die langfristig haltbar und tragbar sind, und zwar bevor sich die Kosten des Weiterfortschreibens der aktuellen Lösungsansätze ins Unbeherrschbare auftürmen.

Kahneman und Tversky haben im Zuge Ihrer Arbeit zur Prospect Theory herausgefunden, dass Menschen ihre Entscheidungen in der Realität nicht objektiv nach erwartetem Outcome, sondern nach dem von ihnen subjektiv jedem Outcome zugewiesenen erwarteten (individuellen) Nutzen treffen. Daraus ließe sich zumindest die Vermutung ableiten, dass bei einem politischen Entscheidungsträger – bewusst oder unbewusst – auch die Frage des ‚Sich-nichts-zuschulden-kommen-Lassens‘ eine gewisse Rolle spielt, die den Blick auf das eigentliche Problem trübt. Damit wäre die Schockstarre zu erklären, die im politischen Diskurs offensichtlich ist. Wer möchte denn gerne unverantwortlich erscheinen, oder gar an hunderten oder tausenden Corona-Toten die Schuld tragen?

Es erscheint sehr plausibel, dass „in Zeiten von Corona“ in großem Maße Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen im Spiel waren und noch immer sind. Nur so erklärt sich die ungenügende Reflexion neuer Erkenntnisse im Entscheidungs-Outcome. Eine Vielzahl der Entscheider steckt offensichtlich noch im Ursprungsszenario (Corona als „neues Ebola“, Verhinderung von Szenen wie in Italien) fest. Entscheider sollten sich hier regelmäßig kritisch hinterfragen, ob sie noch objektiv sind, oder gerade einem dieser Effekte aufsitzen.

Vereinfachungseffekte und differenzierte Sichtweise

In Situationen großer Gefahr blendet das menschliche Gehirn komplizierte Zusammenhänge einfach aus. Dies ist evolutionär begründet: Es geht darum, die Energieressourcen des Körpers zu optimierten für Kampf oder Flucht. Dies geschieht in subjektiv wahrgenommenen Gefahrensituationen unbewusst und verhindert eine differenzierte Sichtweise. Auch wird in Gefahrensituationen (wie Katastrophen oder Krieg) Vereinfachung und ein undifferenziertes Herangehen an Probleme von Menschen eher akzeptiert als zu normalen Zeiten. Das Virus wurde nicht aus „dem Ausland“ eingeschleppt, daher war es auch nie eine sinnvolle Maßnahme, „das Ausland“ abzuschotten. Sondern das Virus wurde – nach allem, was wir wissen – aus bestimmten Regionen Chinas im Vorfeld der Fashion Shows in Mailand und Paris von einer großen Menge an Überträgern, die auf engstem Raum immer wieder zusammenkamen, eingeschleppt, und dann weiter auf Skiorte und von dort im Rahmen von Starkbierfesten und Karneval übertragen. Das Virus ist auch nicht – soviel scheint mittlerweile gesichert – „ein neues, gefährliches Virus“, sondern eine neue Variante aus der bekannten Gruppe der Corona-Viren, das bei den allermeisten Betroffenen gar keine Symptomatik, bei manchen einen grippalen Infekt mittlerer Schwere und vor allem bei bestimmten, relativ klar zu definierenden Bevölkerungsgruppen auch sehr schwere Verläufe nach sich ziehen kann.

Eine differenzierte Betrachtung nach diesem Schema würde sicherlich auch zu deutlich differenzierteren Maßnahmen führen. Nüchternheit ist in Gefahrensituationen ein rares Gut. Dies führt zum letzten Thema: Der Föderalismus hat sich in dieser Krise bewährt.

Zentrale versus dezentrale Entscheidungen, Wettbewerblicher Föderalismus & individuelle Verantwortung

Ein letzter Aspekt, der hier beleuchtet werden soll, ist der Aspekt des Föderalismus sowie die Thematik individueller Entscheidungen gegenüber zentraler Planung. Aufgabe des Staates ist es, einen Ordnungsrahmen zu setzen und Individuen individuelle Entscheidungen treffen zu lassen, Unternehmer und Unternehmen unternehmen zu lassen. Dezentrale Entscheidungen sind näher am Menschen, werden mit mehr Kenntnis der Situation vor Ort getroffen. Der Einzelfall muss den Behörden vor Ort, beziehungsweise der Intelligenz Einzelner überlassen werden. In Deutschland wird gerne von überlegenem Wissen des Staates ausgegangen. Ein zentraler Planer in Berlin oder Stuttgart wird jedoch kaum beurteilen können, ob ein bestimmtes Ausflugslokal im Schwarzwald ohne Ansteckungsgefahr für die Gäste betrieben werden kann. Der Staat ist nicht der bessere Entscheider oder Krisenmanager. Die staatliche Verwaltung kann nicht an alle Eventualitäten denken.

Demnach braucht der Einzelhändler oder Gastronom die Freiheit, im Rahmen von Vorgaben selbst Lösungen zu finden, wie er sein Geschäft ohne Ansteckungsgefahr weiterführen kann. Die Gesundheitsämter in Thüringen werden ihre Situation vor Ort zu Recht anders einschätzen als die Gesundheitsämter in Oberbayern die von Skiurlaubrückkehrern geprägte Situation in ihrer Region. Und schließlich mag es gute Gründe haben, weshalb der Seuchenschutz Länder- und nicht zentrale Bundesangelegenheit ist. Aus welchem Grunde soll man die Läden in Rostock geschlossen halten, nur weil in Passau erhöhte Infektionsgefahr besteht? Entscheidungen regional oder gar lokal, durch die örtlichen Gesundheitsämter, zu treffen, ist folglich angemessen. Auch der wettbewerbliche Föderalismus hat in der Krise seine Existenzberechtigung bewiesen, denn erst der Wettbewerb der Ministerpräsidenten um angemessenere Lösungen hat zusammen mit dem guten Beispiel Österreichs im Sommer dazu geführt, dass mäßigendere Schritte unternommen wurden, und dies nährte zumindest die Hoffnung, dass Deutschland besser durch die Krise kommen könnte als andere europäische Länder.

Fazit

Die in Sachen Corona getroffenen Entscheidungen erfüllen in wesentlichen Aspekten nicht die Kriterien rationaler Entscheidungsfindung. Insbesondere das Prinzip der Güterabwägung wird noch immer nicht ausreichend berücksichtigt, die Transitivität in Relation zur Bekämpfung anderer Krankheiten nicht gewahrt. Einschätzungen wurden sehr zögerlich durch Fakten ersetzt. Entscheidungen wurden nicht ausreichend an neue Erkenntnisstände bezüglich der Schwere der Krankheit angepasst. Sie wurden und werden immer noch auf Grundlage einer schlechten und statistisch höchst fragwürdigen Datenbasis getroffen. Intransparente Zielkriterien sowie ein Mangel an diskutierten Handlungsalternativen verhindern das Finden effektiver und effizienter Lösungen. An anderer Stelle – bezogen auf Heuristiken und Biases – erscheinen Abweichungen von der Rationalität zumindest plausibel, wenn nicht wahrscheinlich. Eine „Whatever it takes“-Mentalität ist nicht vernünftig.

Es ist höchste Zeit, zu gezielten statt flächendeckenden Maßnahmen unter Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung zurückzukehren, um großen Schaden von unserem Land und unserer Gesellschaft abzuwenden! Dies heißt insbesondere: Entscheidungen auf Basis von Güterabwägung und Verhältnismäßigkeit. Entwickeln intelligenter Handlungsalternativen. Jede Maßnahme muss nachweisbar ihre Effektivität begründen. Gezielte statt flächendeckende (und damit effiziente) Maßnahmen.  Entscheidungen nur noch nach Faktenlage und unter angemessener Berücksichtigung neuer Erkenntnisse (insbesondere über die Schwere der gesundheitlichen Bedrohung). Nüchterne Analyse statt Wahrnehmungsverzerrungen begünstigende Emotion.

Ein Wort zum Schluss: Immer wieder hört man Stimmen, die am Zusammenbruch unserer Gesellschaft klammheimlichen Gefallen zu finden scheinen. Es ist von einer Welt vor und nach Corona die Rede, die gerechter, nachhaltiger, menschlicher, etc. sein soll. Vor solchen Illusionen kann man nur warnen!

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[1] Die Zahl ist natürlich die anhand letzter verfügbarer Daten grob überschlagene Todeswahrscheinlichkeit durch Corona (Risiko, nach Infektion an Corona zu sterben, von 1/250 mal die Wahrscheinlichkeit, einer infektiösen Person zu begegnen, mal die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken. Letztere lag nach der Heinsberg-Studie selbst an einem Corona-Hotspot bei 15%). Sie liegt bei einigen Personen darüber, bei der großen Anzahl jedoch deutlich darunter. Und ja, diese Zahlen sind grobe Schätzungen.

[2] Die Zahl ist natürlich die anhand letzter verfügbarer Daten grob überschlagene Todeswahrscheinlichkeit durch Corona (Risiko, nach Infektion an Corona zu sterben, von 1/250 mal die Wahrscheinlichkeit, einer infektiösen Person zu begegnen, mal die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken. Letztere lag nach der Heinsberg-Studie selbst an einem Corona-Hotspot bei 15%). Sie liegt bei einigen Personen darüber, bei der großen Anzahl jedoch deutlich darunter. Und ja, diese Zahlen sind grobe Schätzungen.

2 Antworten auf „Gastbeitrag
Rationale Entscheidungen in Zeiten von Corona“

  1. Fachlicher Aufsatz auf hohem Niveau! Der die äußerst fragwürdigen politischen Entscheidungen der letzten Monate gnadenlos analysiert und offenlegt. Die fachliche Argumentation basiert auf aktuellen wissenschaftlichen Standpunkten statistischer sowie verhaltensökonomischer Kenntnisse und legt die subjektiv getroffenen Entscheidungen sowie teilweise sehr stümperhaft erhobenen Daten gnadenlos dar.

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