Neben der fortschreitenden demografischen Alterung führt auch die Covid-19 Pandemie zu steigenden Mehrausgaben in den Sozialversicherungen (Bahnsen et al. 2020). Der Arbeitslosenversicherung steht durch den (starken) Anstieg der Kurzarbeit und den (weniger starken) Anstieg der Arbeitslosigkeit eine Mehrbelastung bevor, die der Bund durch einen Zuschuss wird schultern müssen. Die gesetzliche Krankenversicherung erwartet ebenso einen steigenden Ausgabendruck durch höhere Investitionen im Gesundheitsbereich sowie Schutzkleidung und andere Maßnahmen aufgrund der Pandemie. Ferner würde auch die demografisch bedingte Mehrbelastung in der gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung zeitnah zu höheren Beiträgen führen – zumindest in der Theorie.
Um diese politisch unbeliebten Beitragssatzerhöhungen und die politisch noch unbeliebteren Ausgabensenkungen oder Strukturreformen, wie einem höheren Renteneintrittsalter oder mehr Eigenverantwortung in der Pflegeversicherung (Bahnsen et al. 2019), zu umgehen, wird gerne auf das dritte Ventil gesetzt: Bundeszuschüsse, die aus dem Bundeshaushalt den Sozialversicherungszweigen zur Ausgabendeckung zugeführt werden. Während die gesetzliche Rentenversicherung einen solchen Bundeszuschuss praktisch von Beginn an erhält, besteht dieser in der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2004 und wurde für die soziale Pflegeversicherung erstmalig in diesem Jahr in Höhe von 1,8 Mrd. Euro eingeführt. Auch wenn die 1,8 Mrd. Euro im Vergleich zu den knapp 100 Milliarden Euro, die der Bund nächstes Jahr insgesamt an neuen Schulden aufnimmt nur ein kleiner Betrag sind, so symbolisiert er doch endgültig den Trend der Steuerfinanzierung der Sozialversicherungen.
Generell ist der deutsche Steuerstaat eine historische Errungenschaft, die sich zum einen aus der Freiheit ergibt, die durch die alleinige Finanzierung des Staates durch die Privatwirtschaft erfolgt und zum anderen aus dem Gleichheitsprinzip, welches gemäß der Leistungsfähigkeit eine gleichheitsgerechte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Auch die Gegenleistungsunabhängigkeit von Steuern lässt staatliche Leistungen nach rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien verwirklichen und bildet somit die Grundlage unserer Solidargemeinschaft. Dabei führt die Progression des Einkommensteuertarifs zu einer teilweisen Angleichung der verfügbaren Einkommen, die zu einer asymmetrischen Lastenverteilung führt. Sobald das Haushaltseinkommen unterhalb des Existenzminimums liegt, werden Transferzahlungen aus Steuermitteln gezahlt.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass eine Steuerfinanzierung zusätzlicher Ausgaben in den Sozialversicherungen und damit eine Verschonung der Beitragszahler in Zeiten niedriger Zinsen eine gelungene Lösung ist – soll die Summe der Sozialbeiträge bis Ende 2021 doch sowieso durch die „Sozialgarantie 2021“ gedeckelt werden. Auch könnte man sich die Frage stellen, wieso nicht die komplette Sozialpolitik in Deutschland über ein Steuer- und Transfersystem organisiert wird (Beveridge statt Bismarck); besteht doch zumindest in der Theorie eine Äquivalenz zwischen Staatsverschuldung und umlagefinanziertem Sozialversicherungssystem (Raffelhüschen 1989).
Neben Arbeitgebern würden auch Niedriglohnbezieher entlastet werden, da für diese Personengruppe das Arbeitsentgelt, an dem die Sozialbeiträge bemessen werden, die hauptsächliche Einnahmequelle darstellt (Wagner 2005). Dadurch, dass das Arbeitsentgelt nur einen ungenauen Maßstab für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit darstellt, läge der Vorteil einer Steuerfinanzierung in der Berücksichtigung aller Einkommensarten und führte zu einer progressiveren Verteilung der Kosten. Stattdessen sind die Beitragssätze in der Sozialversicherung linear aufgebaut, – ab der Beitragsbemessungsgrenze sogar regressiv, weshalb man mit der Steuerfinanzierung Umverteilung besser abschätzen und steuern könnte.
Die Abwesenheit einer Versicherungspflicht zur eigenen Risikovorsorge würde jedoch für Fehlanreize im Hinblick auf die individuelle Sparneigung und entsprechend auch für das Arbeitsangebot sorgen (Lehmann-Hasemeyer/Streb 2018). Allerdings können private Versicherungsmärkte die wesentlichen Lebensrisiken für einen Großteil der Gesellschaft nur unzufriedenstellend versichern[1]. Durch die Versicherungspflicht in den gesetzlichen Sozialversicherungen kann das Solidarprinzip gewährleistet werden, wodurch die risikoäquivalente Prämiendiskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Geburtsjahrgang nicht zu unterschiedlichen Beiträgen führt (Raffelhüschen et al. 2011). Daraus resultiert zwangsläufige eine intra- und intergenerative Umverteilung, die über einen reinen vorbeugenden Aspekt hinausgeht. Nichtsdestotrotz bleibt das Äquivalenzprinzip – statistisch müssen die Beiträge die erwartete Schadenshöhe abdecken – weiterhin bestehen.
Verletzt werden kann das Versicherungsprinzip zum einen durch beitragsfinanzierte Versicherungsleistungen an Nichtversicherte, was dazu führt, dass Beitragszahlungen einen Steuercharakter bekommen und die Versicherungsleistungen als versicherungsfremd eingestuft werden. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben sollten daher prinzipiell durch Steuern finanziert werden und nicht durch einen kleineren Kreis der Versicherten, wodurch auch das Fürsorgeprinzip – jeder Bedürftige erhält die Leistung unabhängig vom Status der Versicherung – gewährleistet wird.
Zum anderen wird das Versicherungsprinzip durch steuerfinanzierte Versicherungsleistungen an Versicherte verletzt, wie es bspw. bei der Grundrente der Fall war (Raffelhüschen/Seuffert 2020). Diese Form der Steuerzuschüsse kann dann gerechtfertigt sein, wenn die Leistungen selbst versicherungsfremd sind, also dem Versicherungszweck nicht entsprechen, was sie jedoch redundant machen würde. Die in der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung vorhandene Teilhabeäquivalenz sorgt dafür, dass die Höhe des Versicherungsbeitrages das Ausmaß des Versicherungsschutzes bestimmt und ist bspw. bei der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gegeben. So können Steuerzuschüsse dann gerechtfertigt sein, wenn Beiträge in der nötigen Höhe aus Gründen der Existenzsicherung nicht erhoben werden können. Generell kommt es zu einer Fehlfinanzierung, sobald die versicherungsfremden Leistungen das Ausmaß der Steuerfinanzierung übertreffen.
Nähme man das Solidarprinzip ernst und legte den Beitragssatz unabhängig von nicht beeinflussbaren individuellen Merkmalen – wie dem Geburtsjahrgang – fest, wäre ein Beitragssatzanstieg nur bei einer gleichzeitigen Ausweitung des Versicherungsschutzes möglich. Dadurch, dass angesichts der demografischen Alterung mit einem Beitragssatzanstieg ohne Leistungserweiterung zu rechnen ist, handelt es sich um eine versicherungsfremde intergenerative Umverteilung. Ein dauerhafter, durch Steuererhöhungen finanzierter Anstieg, der Steuerzuschüsse würde die Lasten lediglich zu großen Teilen auf die Erwerbstätigen verschieben.
Ferner treffen die Vorteile des Non-Affektationsprinzips – das Ausschließen der ex ante Zweckbindung von Steuereinnahmen – im Steuerrecht nicht auf die Sozialversicherungen zu. Die Haushaltsplanung als Gesamtkoordination staatlicher Tätigkeiten würde mit einer ex ante Zweckbindungen erschwert werden. In den Sozialversicherungen hingegen wirkt die Zweckbindung als Mittel gegen willkürliche politische Änderungsversuche, da im Gegensatz zu Fürsorgeleistungen Ansprüche geschaffen werden, die verfassungsrechtlich gesichert sind. Des Weiteren müssten anstelle individueller Ansprüche alternative Zuteilungskriterien geschaffen werden, die wiederum mit kostspieligen und bürokratischen Bedürftigkeitsprüfungen einhergingen. Die Bestimmung dieser Kriterien würde zudem in einem Verteilungskampf der Lobbyorganisationen um das Steuerbudget münden, die eine mittel- und langfristige Planung der Haushaltsmittel erschweren würden (Rürup 2007). Als problematisch erweist sich weiterhin die Erfahrung, dass die Zuschüsse aus Bundesmitteln für die gesetzliche Rentenversicherung weder die Struktur noch den Umfang der versicherungsfremden Leistungen widerspiegeln.
Die wiederkehrende Aufhebung und Umgehung des Äquivalenzprinzips verdeutlichen das Fehlen eines ordnungspolitischen Leitbildes in der deutschen Sozialpolitik. Aufgrund einer jahrelangen kurzsichtigen Haushaltspolitik kam es wiederholt zu einer Vermischung von Steuer- und Beitragsmitteln, die die Prinzipien der Sozialversicherungen auf den Kopf stellen. Verkomplizierung und Intransparenz der Umverteilungsstrukturen sind die Folge. Wenn die Politik die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig finanzieren möchte, wird sie um Strukturreformen nicht herumkommen.
Literatur
Bahnsen, L., Kohlstruck, T., Manthei, G., Raffelhüschen, B. und S. Seuffert (2019), Ehrbarer Staat? Die Generationenbilanz Update 2019 – Fokus: Pflegefall Pflegeversicherung?, Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, 146.
Bahnsen, L., Kohlstruck, T., Seuffert, S. und F. Wimmesberger (2020), Fiskalische und intergenerative Auswirkungen der Corona-Pandemie, ifo Schnelldienst, 73(9): 59-65.
Lehmann-Hasemeyer, S. und J. Streb (2018), Does Social Security Crowd Out Private Savings? The Case of Bismarck’s System of Social Insurance, European Review of Economic History, 22(3): 298–32.1
Raffelhüschen, B. (1989), Alterssicherung und Staatsverschuldung, FinanzArchiv, 47(1): 60-76.
Raffelhüschen, B., Moog, S. und J. Vatter (2011), Fehlfinanzierung in der deutschen Sozialversicherung, Studie des Forschungszentrums Generationenverträge im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
Raffelhüschen, B. und S. Seuffert (2020), Von der Grundrente zum Lebenserwartungsfaktor, Wirtschaftsdienst, 100(10): 774-781.
Rürup, B. (2007), Steuerfinanzierung in der sozialen Sicherung, in Ulrich, V. und W. Ried (Hrsg.): Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, S. 201-225, Nomos.
Wagner, G.G. (2005), Verlässlichkeit einer höheren Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung ist die zentrale Frage, Wirtschaftsdienst, 85 (1): 283-287.
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[1] Überdurchschnittliche Beitragszahlungen aufgrund überdurchschnittlicher Krankheitsrisiken widerspräche bspw. gerade bei Geringverdienern vielen Gerechtigkeitsvorstellungen.
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