1. Ausgangssituation
Die Bundesregierung, speziell Bundesgesundheitsminister Spahn, wurde öffentlich scharf kritisiert für die im Vergleich zu anderen Staaten geringe Bestellung von COVID-19-Impfstoffen, die der Bundesrepublik zur Verfügung stehen. Der Bestellungsprozess erfolgte dabei nicht durch den Bund – u.a. wohl, um nicht den Eindruck eines sog. „Impfnationalismus“ zu erwecken, sondern durch die EU.
Zur Rechtfertigung wird angeführt, dass
- insgesamt verteilt auf mehrere Anbieter mehr Impfdosen beschafft wurden, als für die EU-Bevölkerung erforderlich wären,
- die in relativ geringeren Mengen beschafften Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und Moderna relativ teuer seien und
- zum Zeitpunkt der Beschaffungsentscheidung unsicher war, welcher Anbieter zu welchem Zeitpunkt einen zugelassenen Impfstoff liefern kann.
Exkurs
Die EU-Kommission hat bis in den November 405 Millionen Dosen von Curevac, je 400 Millionen Dosen von AstraZeneca und Johnson & Johnson, je 300 Millionen Dosen von BioNTech/Pfizer und Sanofi sowie 160 Millionen von Modena bestellt. Die Preisspanne reicht von 1,76 Euro beim AstraZeneca-Impfstoff (nur einer benötigten Dose) bis zu 18 Euro bei Moderna und 12 Euro bei BioNTech/Pfizer. (bei denen sogar jeweils zwei Dosen erforderlich sind) (Koch 2020).
Ende Exkurs
Kritisiert wird nun insbesondere, dass gerade von den gemäß den Studien mit 95% besonders wirksam und am schnellsten verfügbaren Impfstoffen, nämlich den von Pfizer/BioNTech und Moderna, zu wenig beschafft worden sei. Aus Sicht der Entscheidungstheorie stellt sich dabei die Frage: Trifft trotz dieser Erklärungsversuche die Kritik zu und tragen politische Akteure die Verantwortung für diese Fehlentscheidung? Bereits im Rahmen der Gesundheits- und Wirtschaftspolitik stellt sich die Frage, inwieweit Politiker ökonomische Optimalitätskriterien außer Acht gelassen haben. Allerdings könnte von Kritikern der Einwand vorgebracht werden, dass hier auch ethische Erwägungen eine Rolle spielten. Dieses Argument dürfte jedoch nicht für die Beschaffung eines Impfstoffes gelten, wenn das bislang als scheinbar absolut propagierte Ziel des Infektionsschutzes auch für diesen Fall gültig bleibt.
2. Entscheidung unter Unsicherheit
Nachfolgend knapp diskutiert wird die Bestellpolitik und die Bestellmengenentscheidung, wobei nicht zwischen der Entscheidung der EU-Kommission und der Entscheidung in Deutschland unterschieden wird. Auch nicht betrachtet wird das Problem, inwieweit die zunächst niedrige Anzahl von Impfungen bedingt ist durch (a) Organisationsprobleme z.B. bei den Impfzentren oder (b) anfängliche Produktionsengpässe der Anbieter. Wir konzentrieren uns also auf die Frage, ob die Politik als Nachfrager auf dem Markt für COVID-19-Impfstoffe bereits vor der Zulassung der Impfstoffe durch die EMA bzw. die EU-Kommission bereits größere Mengen bei BioNTech/Pfizer und Moderna hätte bestellen sollen. Es geht dabei um die Beurteilung einer politischen Entscheidung unter Unsicherheit. Zum Entscheidungszeitpunkt war nämlich insbesondere unsicher, ob und wann ein Impfstoff eines der Anbieter zugelassen wird. Ebenso unsicher war die Wirksamkeit des Impfstoffs, und auch andere Parameter des Entscheidungsproblems sind unsicher, wie z.B. die volkswirtschaftlichen Schäden, die durch eine „unnötig verspätete“ Impfung der Bevölkerung entstehen (z.B. durch einen härteren oder länger andauernden Lockdown).
Zunächst ist zu beachten, dass das Charakteristikum aller Entscheidungen, sowohl für Unternehmer und auf Ebene des Staates ist, dass die Handlungsfolgen unsicher sind (Knight 1921; Sinn 1980; Schneider 1987). Es ist dabei auch ein ganz normales Problem, dass bestimmte relevante Parameter aufgrund der wissenschaftlichen Studienlage (noch) nicht bekannt sind. Es wird auch in wissenschaftlichen Studien oft übersehen, dass man eben nicht bei allen Entscheidungen eine optimale „wissenschaftliche Evidenz“ des Wissenstands erwarten kann, sondern auf Grundlage der realen, immer unvollkommenen Datenlage Entscheidungen treffen muss (Gleißner 2019a). Solange die Entscheidungsträger diese Parameter und Annahmen ihrer Entscheidung klar kommunizieren, ist ihnen daher kein Vorwurf zu machen (siehe zur Business Judgement Rule Gleißner 2019b; Follert 2020; Graumann et al. 2009). Es geht somit nur darum, die aktuell verfügbaren Informationen bestmöglich auszuwerten. Auch hier gilt, dass die Grenzkosten der Informationsbeschaffung den zusätzlichen Nutzen nicht übersteigen dürfen, was aber in der Praxis oft nur mittels plausibler Schätzungen beurteilt werden kann (etwa Laux, Gillenkirch, Schenk-Mathes 2018). Es ist offensichtlich, dass auch die Unsicherheit über die Datenlage, und speziell die Quantifizierung von Risiken, im Entscheidungskalkül zu berücksichtigen (wofür seit langem in Risikoforschung und Risikomanagement adäquaten Methoden entwickelt wurden).
Im konkreten Beispiel einer politischen Entscheidung sind im Wesentlichen die Kosten für die Beschaffung von Impfstoffen für verschiedene Bestelloptionen (unterschiedliche Mengen bei unterschiedlichen Herstellern) abzuwägen gegen die unsicheren Auswirkungen auf den späteren Pandemieverlauf. Genauer müssen nur die Kosten für das Recht zum Bezug des Impfstoffs betrachtet werden (Kosten einer Option). Dabei zu beachten sind die volkswirtschaftlichen Kosten durch Härte und Länge des Lockdowns in Abhängigkeit der zeitlichen Entwicklung des Anteils der Menschen, die geimpft worden sind. Die Auswirkungen alternativer Beschaffungsstrategien und Beschaffungsmengen bezüglich des Impfstoffs sind unsicher, weil die oben genannten Parameter, wie z.B. der Zeitpunkt der Zulassung eines Impfstoffs und seine Wirksamkeit oder auch die Kosten eines Monats Shutdown unsicher sind. Um das Nutzen-Risiko-Profil alternativer Strategien für die Beschaffung zu vergleichen, nutzt man wie bei anderen Entscheidungen unter Unsicherheit Simulationsmodelle (Monte-Carlo-Simulation). Diese Modelle erfassen die Kosten der Strategien ebenso wie die Auswirkungen z.B. auf das BIP oder die Covid-19-bedingten Todesfälle. Mit den Simulationsmodellen werden Scheingenauigkeiten vermieden, weil eine große repräsentative Anzahl risikobedingt möglicher Zukunftsszenarien betrachtet wird. Es ist das Charakteristische solcher Methoden zur fundierten Vorbereitung von Entscheidungen unter Unsicherheit, dass sie realistische Entwicklungskorridore der Zukunftsentwicklungen in Abhängigkeit der Entscheidung aufzeigen. Auf diese Weise ist es möglich, in Abhängigkeit der Handlungsmöglichkeiten auszusagen, wie eine interessierende Größe – z.B. die Wirkung auf BIP – sich „im Mittel“ entwickeln wird und in welchem Umfang (negative) Abweichungen von dieser Prognose auftreten können. So kann man z.B. angeben, welche Schäden in einem realistischen „Worst-Case-Szenario“ mit z.B. 95%iger Sicherheit nicht überschritten werden. So kann man durch Abwägen auch bei unvollkommener Informationslage die bestmögliche von vorgegebenen Entscheidungsalternativen auswählen. Geht man nur von den veröffentlichten Informationen aus, muss man wohl annehmen, dass eine echte quantitative Risikoanalyse nicht erstellt und ein adäquates Modell zur Beurteilung alternativer Beschaffungsstrategien und Beschaffungsmengen nicht genutzt wurde. In Anbetracht der unverkennbaren Bedeutung dieser Entscheidung über die Impfstoffbeschaffung wäre dies nicht nur überraschend, sondern fahrlässig. Leider kann man dies als ein weiteres Symptom einer in Politik (und Wirtschaft) verbreiteten „Risikoblindheit“ interpretieren, die wohl durch eindimensionale Beratung der Entscheidungsträger begünstigt wird. Aufgrund der unsicheren Auswirkungen sind alle Entscheidungen mit Chancen und Gefahren behaftet. Dennoch zeigt die psychologische Forschung, dass sich Menschen nicht gerne mit solchen Risiken befassen und keine adäquaten Verfahren für die Vorbereitung von Entscheidungen unter Unsicherheit nutzen. Somit sind einer verzerrten Wahrnehmung durch die Entscheidungssubjekte Tür und Tor geöffnet (etwa Slovic 1987; aus politökonomischer Sicht Follert und Daumann 2019 und Gleißner 2020a).
3. Die optimale Entscheidung: ausnahmsweise trivial einfach
In dem speziellen Fall der Entscheidung über die Beschaffung der Impfstoffmengen bei den verschiedenen Anbietern fällt allerdings eine Besonderheit auf: Geht man zumindest von den öffentlich vorliegenden Daten aus, hat man es hier tatsächlich ungewöhnlicherweise einmal mit einem Beispiel zu tun, bei dem man tatsächlich gar keine quantitative Risikoanalyse oder Simulationsmodelle zur Entscheidungsvorbereitung benötigt. Dies liegt schlicht daran, dass die Entscheidungssituation tatsächlich trivial einfach war. Die verschiedenen oben nur ansatzweise skizzierten Teilaspekte des Risikos sind nämlich weitgehend von untergeordneter praktischer Bedeutung. Was schnell erkennbar ist, ist folgendes: Selbst, wenn man die bedauerlich hohe Anzahl von Todesopfern durch COVID-19 vereinfachend ignoriert und nur die monetären Auswirkungen der „Corona-Krise“ beachtet, ist jeder Krisenmonat volkswirtschaftlich extrem teuer. Die volkswirtschaftlichen Schäden alleine für Deutschland liegen pro Monat, in Abhängigkeit von Härte des Lockdowns und betrachteter Studie, wohl bei 10 bis 40 Milliarden Euro (siehe Gleißner/Kamarás 2020 mit Verweis auf diverse Studien, z.B. des ifo-Instituts). Ein Vielfaches höher sind die Kosten auf Ebene der EU. Die Kosten für die Beschaffung eines Impfstoffs sind dagegen verschwindend gering. Bei Impfstoffkosten pro Person zwischen ca. 2 und 36 Euro bei den sechs aussichtsreichen Anbietern ergeben sich Gesamtkosten von ca. 15. Milliarden Euro, wenn man für die gesamte EU-Bevölkerung beim teuersten Anbieter gekauft hätte und auch das Investment beim Kauf aller 6 Anbieter bleibt überschaubar (Koch 2020).
Die offensichtlich richtige Beschaffungsstrategie wäre die folgende: Man kauft bei allen aussichtsreichen Impfstoffanbietern so viel Impfstoffe, dass man mit den Impfstoffmengen bereits jedes einzelnen Anbieters die gesamte Bevölkerung der europäischen Union impfen könnte. Die Kosten einer solchen Impfstrategie wären im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich und in Anbetracht der volkswirtschaftlichen Schäden durch eine unnötige Verlängerung der „Corona-Krise“ vernachlässigbar. Dabei wären zum Entscheidungszeitpunkt vermutlich gar nicht vollständig die Produktionskosten zu berechnen gewesen, sondern lediglich Kosten für die „Optionen“ den Impfstoff im Falle einer Zulassung beziehen zu können. Und auch das überschaubare Investment für die skizzierte Impfstrategie, Beschaffung der kompletten Menge bei allen Anbietern, wären letztlich keinen „Verlust“. Selbstverständlich könnte die EU nicht benötigte und damit überschüssige Impfdosen aus ihrem Ankaufprogramm an andere Staaten weiterverkaufen. Es ist klar, dass über langen Zeitraum ein hoher Bedarf an Impfungen bestehen wird – und damit sind die Risiken der skizzierten Beschaffungsstrategie gering.
4. Fazit
Die Entscheidung über die Beschaffung der Impfstoffmengen war eine politische Entscheidung unter Unsicherheit. Politische wie auch unternehmerische Entscheidungen unter Unsicherheit erfordern eine quantitative Risikoanalyse und den Einsatz von Simulationsmodellen, um die verschiedenen Handlungsalternativen beurteilen zu können. Meist sind Entscheidungen unter Unsicherheit komplex. Die Entscheidung der EU über die Beschaffung des Covid-19-Impfstoffs war aber tatsächlich ausnahmsweise eine extrem einfache Entscheidung: Sinnvoll wäre es gewesen von allen aussichtsreichen potenziellen Anbietern von Impfstoff diejenige Impfstoffmenge zu sichern, die alleine für die gesamte EU-Bevölkerung ausreichend wäre. Die Kosten der Impfstoffbeschaffung sind in Anbetracht der volkswirtschaftlichen Kosten jeder zusätzlichen Woche der „Corona-Krise“ gering. Sollte man durch diese Ankauf-Politik letztlich über mehr Impfstoff verfügen als benötigt, wird man sicherlich in anderen Ländern Abnehmer finden.
Soweit man die öffentlich verfügbaren Informationen betrachtet, muss man also folgern, dass die EU-Kommission – und die politisch Verantwortlichen in Deutschland – eine gravierende Fehlentscheidung getroffen haben (und es bleibt auch eine Fehlentscheidung, wenn man andere Restriktionen – z.B. bei der Impfstoffproduktion – mit in Erwägung zieht). Wir sehen hier (wieder einmal) ein Beispiel für Risikoblindheit und fehlende Fähigkeiten im Umgang mit Unsicherheit bei wichtigen Entscheidungen.
5. Literaturverzeichnis:
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Follert, F. (2020). Improving the Relationship between Citizens and Politicians: Some Economic Remarks from an Agency-Theoretical Perspective. Munich Social Science Review, New Series 3, 171–184.
Follert, F., Daumann, F. (2020). Gefahrenwahrnehmung und politische Entscheidungen. Wirtschaftliche Freiheit vom 9. April 2020.
Gleißner, W. (2019a). Cost of capital and probability of default in value-based risk management, in: Management Research Review, Vol, 42, Heft 11/2019, S. 1243–1258.
Gleißner, W. (2019b). Business Judgement Rule – Das neue Paradigma eines entscheidungsorientierten Risikomanagements, in: GRC aktuell, Vol. 2, Heft 4/2019, S. 148–153.
Gleißner, W. (2020a). Risikoblindheit – Facetten, Ursachen, Auswirkungen und Gegenmaßnahmen, in: ZfRM – Zeitschrift für Risikomanagement, Heft 1/2020, S. 10–14.
Gleißner, W. (2020b): Der robuste Staat – Ein strategischer Rahmen zur Absicherung gegen Krisen und Katastrophen, auf: www.ludwig-erhard.de, 17.04.2020
Gleißner, W. / Kamarás, E. (2020). Volkswirtschaftliche Risiken und deren betriebswirtschaftliche Konsequenzen (Teil 1), in: Der Betrieb vom 17.08.2020, Heft 33, S. 1689 – 1695, (Teil 2), in: Der Betrieb vom 24.08.2020, Heft 34, S. 1745–1753.
Graumann, M., Linderhaus, H., Grundei, J. (2009). Wann ist die Risikobereitschaft bei unternehmerischen Entscheidungen „in unzulässiger Weise überspannt”?, in: BFuP, Heft 5/2009, S. 492–505.
Koch, T. (2020). Coronavirus: Liste versehentlich veröffentlicht – Politikerin leakt Impfstoffpreise, Zugriff am 14.1.2021 unter: https://www.merkur.de/welt/coronavirus-impfstoff-preise-leak-twitter-versehen-eu-kommission-vertraege-geheimhaltungsklausel-90145999.html.
Knight, F. H. (1921). Risk, Uncertainty and Profit. Boston/New York.
Laux, H., Gillenkirch, R. M., Schenk-Mathes, H. Y. (2018). Entscheidungstheorie, 10. Aufl., Berlin/Heidelberg.
Schneider, D. (1987). Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 3. Aufl., München/Wien.
Sinn, H.-W. (1980). Ökonomische Entscheidungen bei Ungewissheit, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.
Slovic, P. (1987). Perception of Risk. Science 236, 280–285.
Der Text ignoriert natürlich, das politisches Handeln (wie menschliches Handeln allgemein) nie völlig rational ist und insbesondere nicht einer relativ eindimensionalen Ratio folgt. In politischen Prozessen werden (leider, aber selbstverständlich) immer auch die zu erwartende öffentliche Reaktion, Glaubenssätze und Präferenzen der Handelnden und die Notwendigkeit zu Kompromissen mit offensichtlich irrational handelnden, aber machtvollen Personen / Institutionen eine Rolle spielen. Dazu trage wir alle bei, indem wir als ehrenamtliche Bundestrainer, Virologen, Verwaltungsfachleute und politische Auskenner an der Seitenlinie öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung machen.