Covid-19 ist für alte und gesundheitlich fragile Menschen sehr gefährlich. Für die meisten anderen ist es nicht bedeutend gefährlicher als manche Risiken, die sie im Alltag und oft auf Dauer freiwillig eingehen, etwa Motorradfahren oder Rauchen. Das erklärte Ziel der europäischen Regierungen war deshalb stets, die Risikogruppen vor Infektion und das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen. Das gelang ihnen je nach Standpunkt, Land und Periode zwischen gut und katastrophal.
Die Impfung bot die Chance einer schnellen Erlösung. Regierungen, die rechtzeitig großzügig von vielen Firmen Impfstoff orderten und ihnen die richtigen Anreize zu Zusammenarbeit und Produktionsaufbau setzten, hätten das Ziel – Schutz der Risikogruppen und des Gesundheitswesens – bis Anfang März weitgehend erreichen und dann eine schnelle Normalisierung einleiten können. Bekanntlich haben nur wenige Länder diese Chance realisiert. Wie also weiter?
Manche Ratgeber fordern eine vollständigen Unterdrückungsstrategie (für das Virus) und einen europäischen Lockdown: «Zero-Covid»! Diese Strategie ist für das offene und durch große Vielfalt geprägte Europa völlig ungeeignet und würde fehlschlagen. Sie müsste in allen Ländern Europas umgesetzt werden. Die engen Beziehungen durch Handel, Arbeits- und Flüchtlingsmigration über die Landbrücken und Seewege nach Ost, Süden und Westen müssten gekappt werden, was nicht nur für Europa, sondern auch für die ärmeren Nachbarregionen schwerwiegendste Konsequenzen hätte. Im Inland bräuchte es für die Ausrottung rigorose Maßnahmen. Mittlerweile sind in der Bevölkerung das Wissen über die Risiken, aber auch die Vertrautheit mit dem Virus gestiegen. Das verändert die individuellen Anreize so, dass immer mehr Bürger die Beschränkungen nur noch vorgeblich einhalten oder sogar aktiv unterwandern: Feiern finden im Keller statt, FFP2-Schutzmasken werden zum freieren Atmen „präpariert“, bei der Kontaktnachverfolgung wird ein Minimum Kontaktperson angegeben. Daher wäre Zero-Covid bestenfalls wenig Covid-19, aber viel Panik, massivste Einschränkungen und vor allem Überwachung und Kriminalisierung der Bevölkerung. Falls überhaupt könnte das Virus durch ein derartiges Vorgehen wohl nur sehr langsam und erst dann eingegrenzt werden, wenn sowieso die Immunität nach überstandener Infektion oder Impfung schon so weit fortgeschritten ist, dass das Virus nur noch wenig Schaden anrichten kann. Für Genesene und Geimpfte sind die Maßnahmen bereits jetzt größtenteils unverhältnismäßig.
Europa verdient eine bessere Strategie:
- Die nach Impfung oder Infektion weitgehend Immunen müssen schnellstens ihre vollen bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte zurückerhalten.
- Dafür braucht es ein Immunitätszertifikat für Genesene und Geimpfte (wie von uns u.a. in der WiSt bereits im Jahr 2020 diskutiert und in Israel implementiert).
- Die Impfung sollte beschleunigt werden, indem die bereits natürlich Immunen nicht prioritär geimpft werden. Sie sind bereits so gut wie geimpft, wenigstens schon einmal.
- Sobald die Risikogruppen geimpft sind, müssen auch die noch Nicht-Immunen ihre vollen bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte zurückerhalten. Die dann noch bestehenden Restrisiken rechtfertigen die bestehenden Eingriffe nicht mehr.
Wenn Europa diesen Weg nicht schnell und freiwillig geht, dürfte es durch die Konkurrenz mit den wohl früher wieder freien Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich dazu gezwungen werden. Bis dann wären die Schäden aber riesig. Ein Aufrechterhalten der harten Maßnahmen gefährdet die Fundamente von Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität. Aus der Gesundheitskrise ist eine Wirtschafts- und Sozialkrise geworden, die in eine Schuldenkrise und durch drohenden Vertrauensverlust in eine Staatskrise münden könnte. Jetzt darf sich Europa kein weiteres Politikversagen leisten.
Aus Krisen müssen Lehren für die Zukunft gezogen werden. Da viele Medien in der Pandemie wenig Unabhängigkeit von der Regierung bewiesen, ist nicht zu erwarten, dass sie alleine die Aufarbeitung schaffen. Eine naheliegende Lösung wäre deshalb, eine unabhängige Wahrheitskommission mit dem Auftrag einzusetzen, den Verlauf der Krise, die Erfolge und Versagen sowie ihre Ursachen aufzuarbeiten. Da aber auch derartige Kommissionen nicht automatisch perfekt arbeiten, gibt es eine noch bessere Alternative: Statt einer Wahrheitskommission sollten in Europa mehrere Wahrheitskommissionen etabliert werden, die in einer fruchtbaren Konkurrenz zueinander stünden.
Hinweis: Der Kommentar ist in Heft 4 (2021) der Fachzeitschrift WiSt erscheinen.
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