Im Jahr 2019, knapp ein Jahr vor dem Beginn der Covid-19-Pandemie, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Unternehmen dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System der Arbeitszeiterfassung zu implementieren. Dieses Urteil war von Beginn an höchst umstritten, weil es darauf hinauslief, den Unternehmen einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand zu bescheren. Die kollektiven Vertretungen der Beschäftigten begrüßten jedoch das Urteil mehr oder weniger deutlich.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund stellte sich hinter die Entscheidung des EuGH. Selbst heute noch, mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie, begrüßen die Gewerkschaftler nach wie vor das Urteil (DGB, 2021). Dabei könnte man angesichts des derzeitigen Trends hin zu Telearbeit oder Homeoffice durchaus auf den Gedanken kommen, dass die Etablierung von verlässlichen und zugänglichen Systemen einer von beiden Seiten kontrollierbaren Arbeitszeiterfassung derzeit schwierig bis unmöglich ist. Und in Zukunft wird sie immer weniger sinnvoll sein.
Warum vermessen wir überhaupt Arbeitszeit?
Dabei ist die korrekte Messung von Arbeitszeiten bisher für die Wirtschaft sehr wichtig. Die Arbeitszeit gilt als eines der grundlegenden Messinstrumente, um den Umfang und die Leistung der Beschäftigten im Unternehmen zu bewerten. Damit hat die Arbeitszeit einen direkten Einfluss auf das Einkommen der Beschäftigten und auf die Arbeitskosten der Unternehmen. Die exakte Messung hat somit für beide Parteien eine große Bedeutung – sowohl für Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber. Daher wird sie üblicherweise vorab in Arbeitsverträgen genau definiert.
Wie ist die derzeitige Gesetzgebung hierzu?
Auf der EU-Ebene und auch in Deutschland existieren genaue rechtliche Regelungen, an die sich die kollektiven und individuellen Vereinbarungen zur Arbeitszeit ausrichten müssen. Das deutsche Arbeitszeitgesetz stammt aus dem Jahr 1994, seine derzeitige Ausgestaltung diente der Umsetzung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie von 1993. Die Arbeitszeit der Beschäftigten wird in § 3 des Gesetzes geregelt. Dieser Paragraf besagt, dass die werktägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten darf. Ein Ausgleich von Stunden muss innerhalb von sechs Kalendermonaten erfolgen. Die Obergrenze pro Tag liegt bei zehn Stunden. Des Weiteren werden vorgeschriebene Ruhezeiten in § 5 Abs. 1 des Gesetzes genau bestimmt: Die Beschäftigten müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben. Zudem verpflichtet § 16 Abs. 2 des Arbeitszeitgesetzes die Arbeitgeber, die werktägliche Arbeitszeit, die über die in § 3 hinausgehende Arbeitszeit ausgeübt wird (also die Überstunden), exakt aufzuzeichnen und diese Dokumentation mindestens zwei Jahre aufzubewahren.
Das Arbeitszeitgesetz legt damit allerdings lediglich den Rahmen der möglichen Arbeitszeit fest. Die tatsächliche Arbeitszeit wird in individuellen Arbeitsverträgen und in den Tarifverträgen festgelegt. Diese näherte sich in der jüngeren Vergangenheit immer weiter an die individuellen Wünsche der Beschäftigten an. Arbeitszeiten wurden flexibilisiert und individualisiert, was es den Beschäftigten möglich machte, diese ihrem Privatleben bestmöglich anzupassen (Hübler, 2018).
Wird die Vermessung in Zukunft sinnvoller oder weniger sinnvoll sein?
Nun hinterlässt die Digitalisierung ihre Spuren auch in der deutschen Arbeitswelt. Insbesondere die Arbeitstätigkeit selber löst sich digitalisierungsbedingt von strikten, gewohnten und kontrollierbaren Rahmenbedingungen. Die Verrichtung der Tätigkeiten wird flexibler sowie unabhängiger von bestimmten Orten (z.B. Betriebsstätten) und vorgegebenen Zeitrestriktionen. Dieser Unabhängigkeit kommt seit dem letzten Jahr sehr plötzlich eine extreme Bedeutung zu, weil die Covid-19 Pandemie das öffentliche Leben soweit einschränkte, dass viele Arbeitgeber zum Schutz ihrer Beschäftigten diese nach Hause schickten, damit sie von dort aus die Aufgaben und Tätigkeiten für das Unternehmen ausüben. Eine tatsächliche Kontrolle, ob bei diesem spontanen Wechsel des üblichen Arbeitsortes die Arbeitszeitregeln arbeitnehmerseitig alle beachtet wurden, konnte in den meisten Fällen nicht durchgeführt werden.
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Vor der Pandemie ist in der obigen Abbildung eine sehr geringe Nutzung von Homeoffice in Deutschland zu erkennen. Mit dem ersten Lockdown im April 2020, der doch sehr schnell und eher unerwartet kam, stieg die Nutzung von Homeoffice abrupt von 4 Prozent auf 27 Prozent an, fiel aber nach den Lockerungen wieder etwas und stagnierte von da an bei leicht unter 20 Prozent. Im neuen Jahr lässt sich nun wieder ein weiterer Anstieg beobachten, der sich zum einen durch den Lockdown im Dezember begründen lässt, zum anderen durch die besseren technischen Möglichkeiten, die die Arbeitgeber im Laufe der Zeit schaffen konnten.
Es ist allgemein Konsens, dass nach Ende der Pandemie dieser Trend zum Homeoffice nicht gänzlich rückabgewickelt werden wird. Die Digitalisierung macht es möglich, die Vorteile von Homeoffice auch weiterhin zu nutzen. Die repräsentative Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung deckt auf, dass vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein großer Vorteil von Homeoffice ist. 77 Prozent der Befragten geben an, hierdurch eine Erleichterung wahrzunehmen. Allerdings sind im Umkehrschluss auch 60 Prozent der Befragten der Meinung, dass durch Homeoffice-Nutzung die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwämmen. Ein Wunder ist dies nicht: Wer seine Arbeitszeit in viele kleine Einheiten zerlegt, um sie an das Familienleben optimal anzupassen, muss immer wieder zwischen Freizeit und Arbeitszeit hin und her wechseln und gewinnt damit sicherlich schneller den Eindruck, sich nie ganz von der Arbeit lösen zu können. Für die Messung der Arbeitszeit führt dies erstens zu Mehraufwand: Die Dokumentationspflicht beinhaltet nicht mehr wie früher oft üblich die Zählung von Arbeitstagen eines Nine-to-five-jobs, sie muss vielmehr, um korrekt zu bleiben, teilweise minutengenau den fortwährenden Wechsel eines Mix aus Privatleben und Arbeitsleben nachvollziehen. Erfolgt die Arbeit nicht in der Betriebsstätte, sondern außerhalb, ist eine Überprüfung der Angaben des Beschäftigten über diesen Mix zudem zweitens kaum möglich. Sicherlich kommt es häufiger vor, dass Beschäftigte für eine optimale Vereinbarkeit gerne bereit sind, die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestruhezeiten zu ignorieren, und im Zweifelsfall auch erfundene Arbeitszeiten (anstelle der tatsächlichen Zeiten) eintragen, um die herrschenden Gesetze nicht offensichtlich zu verletzen. Drittens ist die Einhaltung der Arbeitszeit nach oben wie nach unten noch weniger als früher arbeitgeberseitig zu kontrollieren. Damit wird sie als Maß für die Leistung des Arbeitnehmers auf Dauer ungeeignet. Früher wurde versucht, über die beobachtbare Arbeitszeit die nicht direkt beobachtbare Leistung zu schätzen. Ist aber auch die Arbeitszeit nicht mehr vom Arbeitgeber beobachtet, ist sie als Maß für die Leistung nicht mehr geeignet.
Was fordern die Sozialpartner?
Aus den Positionspapieren der Arbeitnehmervertretung in Deutschland liest man unschwer heraus, dass diese insbesondere in der korrekten Arbeitszeitmessung und der Kontrolle von Ruhezeiten die Problematik der derzeitigen gesetzlichen Regeln sehen. Aufgrund dessen bedarf es ihrer Meinung nach einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an die neuen Anforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt (IG-Metall, 2020). Die alte Abgrenzung von Arbeits- und Privatleben werde in Frage gestellt und müsse laut IG-Metall (2020) zum Schutz der Arbeitnehmer geklärt werden. Es wird unterstellt, die Unternehmen trieben ihre Beschäftigten über zu hohe Anforderungen an deren Leistung in eine Situation, in der diese die Arbeitszeitregeln verletzen. Ein wichtiger gewünschter Schutzbereich betrifft daher die Gesundheit der Arbeitnehmer. Die ständige Erreichbarkeit biete zwar neue Chancen, wirke sich jedoch teilweise in Form von steigender Belastung und Stress negativ auf die Arbeitnehmer aus (Absenger & Priebe, 2016).
Auch die Arbeitgeber, so beispielsweise die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft vbw (2019), fordern Veränderungen im Gesetz. So soll die elfstündige Ruhezeit durch einen Blick auf die dienstlichen E-Mails nach Feierabend nicht erneut anfangen zu laufen. Dies sei nicht praktikabel und vor allem auch arbeitgeberseitig kaum kontrollierbar. Die klaren rechtlichen Regelungen werden vor allem deshalb gefordert, da es sich in diesem Bereich bislang um eine haftungsrechtliche Grauzone handele. Diese Grauzone bremse zum einen die Möglichkeiten der Digitalisierung aus und zum anderen mangele es hier an Rechtssicherheit für Geschäftsführungen. Auch dies unterstellt, dass die Arbeitnehmer die Arbeitszeitregeln verletzen werden, wenn sie nicht kontrolliert werden können. De facto bedeutet es aber, den Arbeitnehmerschutz an dieser Stelle auszuhebeln.
Wie hat der EuGH reagiert?
Der EuGH versucht mit seinem Urteil, jegliche Flexibilität in der Nutzung der Arbeitszeit zu unterdrücken. Alles wird zudem dokumentationspflichtig. Gerade bei der spontanen Umstellung auf Homeoffice im vergangenen Jahr war eine Kontrolle der Einhaltung aller Arbeitszeitregeln den Unternehmen sicherlich aber nicht immer möglich. Aufgrund der besonderen Situation wurde dies gesellschaftlich weitgehend toleriert, benötigte man doch dringend die Flexibilität, auch von daheim aus zu arbeiten, um die Covid19-Fallzahlen zu senken. Doch dieses gesellschaftliche Verständnis wird fehlen, wenn nur einzelne Unternehmen oder Beschäftigte aufgrund ähnlich gravierender Schocks, die aber nur sie betreffen, erneut diese Flexibilität benötigen. Die Digitalisierung wird solche Schocks in Zukunft häufiger herbeiführen, eine zu enge Regulierung wird sich dann für die betroffenen Unternehmen und ihre Beschäftigten als immer hinderlicher erweisen, Homeoffice und Telearbeit zu ermöglichen.
Bedarf es Änderungen in Arbeitszeitregulierung?
Das deutsche Arbeitszeitgesetz ist sicherlich eine der zentralen rechtlichen Regelungen, deren Anpassung es dringend bedarf. Es stammt aus einer nichtdigitalisierten Arbeitswelt. Es passt nicht mehr zur neuen Gegenwart. Während von der einen Seite stärkere Regulierungen verlangt werden, um die Arbeitnehmer wie Arbeitgeber rechtssicher zu schützen, besteht die andere Seite auf mehr Flexibilität. Beides ergibt Sinn. Ein starres Arbeitszeitgesetz kann in einer digitalisierten Arbeitswelt die Beteiligten jedoch nicht schützen. Es ist vielmehr sinnvoll, lediglich einige Aspekte vorzugeben, die in Arbeitsverträgen konkret geregelt werden müssen. Auch ist es sinnvoll, ein Basisregelwerk vorzugeben, welches gilt, solange keine abweichenden Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern getroffen werden. Letztere müssen aber ermöglicht werden. Das spart Transaktionskosten; nicht alles muss in jedem Arbeitsvertrag aufgeführt und in jedem Unternehmen neu verhandelt werden. Abweichungen sollten aber möglich sein, um die benötigte und ja auch von beiden Seiten gewünschte Flexibilität sicher zu stellen.
Ob jedoch überhaupt eine Vereinbarung von Arbeitszeiten weiterhin sinnvoll bleiben wird, wird für viele Tätigkeiten noch abzuwarten sein. Ist Arbeitszeit nicht mehr beobachtbar, so wird sie als Proxy für die Leistung der Beschäftigten untauglich. Das veraltete Arbeitszeitgesetz schränkt die Möglichkeiten der Digitalisierung bislang auf jeden Fall unnötigerweise zu stark ein. Seine Anpassung ist daher dringend geboten. Das neue Ziffernblatt der Uhren am Arbeitsplatz passt nicht mehr zu den alten gesetzlichen Zeigern. Die jetzige Krisensituation macht deutlich, wie wenig dieses Thema bislang diskutiert wurde, aber von welch großer Bedeutung es ist, wenn von heute auf morgen technische Möglichkeiten wie das Homeoffice umfassend von den Arbeitgebern abverlangt werden, es jedoch keinen adäquaten rechtlichen Rahmen mit den Möglichkeiten für eine einfache, korrekte und fälschungssichere Messung von Arbeitszeiten gibt.
Quellen:
Absenger, N. und Priebe, A. (2016): Das Betriebsverfassungsgesetz im Jahr 2016 – Mitbestimmungslücken und Reformbedarfe, WSI Mitteilungen, 2016(3), S. 192-200.
DGB – Deutscher Gewerkschaftsbund (2021): Arbeitszeiterfassung nach dem EuGH-Urteil: Wie muss sie aussehen?, https://www.dgb.de/themen/++co++cce90722-6470-11ea-a656-52540088cada, Stand: 10.03.2021, Abfrage am: 01.04.2021.
Hans-Böckler-Stiftung (2021): Studien zu Homeoffice und mobiler Arbeit, https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-Auf-einen-Blick-Studien-zu-Homeoffice-und-mobiler-Arbeit-28040.htm, Stand: 16.02.2021, Abfrage am: 01.04.2021.
Hübler, O., (2018): Flexible Arbeitszeit – Forderungen, Fakten, Einschätzungen und Alternativen, Wirtschaftsdienst, Vol. 98, Nr. 2, S. 115-121.
IG Metall (2020): Positionsbestimmung Digitalisierung, https://www.igmetall-bayern.de/fileadmin/user_upload/Positionspapier-Digitalisierung.pdf, Abfrage am: 01.04.2021.
vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (2019): Der Mensch in der digitalen Arbeitswelt, https://www.vbw-bayern.de/Redaktion/Frei-zugaengliche-Medien/Abteilungen-GS/Recht/2019/Downloads/PosPapier-Der-Mensch-in-der-digitalen-Arbeitswelt-vbw-August-2019.pdf, Abfrage am: 01.04.2021.
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