„Wenn A eintritt, dann passiert B“. Aussagen über die kausale Wirkung von Handlungen beschäftigen uns jeden Tag auf vielfältige Weise. Doch was für alltägliche Entscheidungen schon knifflig ist, gestaltet sich für Forschende in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften besonders schwierig. Denn häufig kann zwar eine Korrelation zwischen A und B beobachtet werden. In einer komplexen Welt ist jedoch zumeist unklar, ob A tatsächlich B beeinflusst – oder ob der Zusammenhang von anderen Variablen ausgelöst wird oder gar in die andere Richtung verläuft.
Am 11. Oktober 2021 gab die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften bekannt, dass der diesjährige Wirtschaftsnobelpreis zur einen Hälfte an den Arbeitsmarktökonomen David Card und zur anderen Hälfte an die empirischen Ökonomen Joshua Angrist und Guido Imbens verliehen wird. Die Arbeiten der drei in den USA wirkenden Forscher haben wesentlich dazu beigetragen, kausale Zusammenhänge besser empirisch identifizieren zu können. David Card wird dabei ausgezeichnet „für seine empirischen Beiträge zur Arbeitsmarktökonomie“. Card zeigt in seiner Forschung, wie natürliche Experimente dazu verwendet werden können, neue Antworten auf alte und tiefgreifende Fragen der Arbeitsmarktökonomie zu erhalten. Joshua Angrist und Guido Imbens erhalten den Nobelpreis „für ihre methodischen Beiträge zur Analyse kausaler Zusammenhänge“. Die in natürlichen Experimenten gewonnenen Ergebnisse sind häufig schwierig zu interpretieren. Die methodischen Beiträge von Angrist und Imbens zeigen, wie sich präzise Schlussfolgerungen aus natürlichen Experimenten ableiten lassen. Die drei Autoren waren Teil einer prägenden Strömung der empirischen Forschung, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ihren Anfang nahm. Doch, wie es Jörn-Steffen Pischke ausdrückte, wenn natürliche Experimente Rock’n’Roll sind, dann sind David Card, Joshua Angrist, Guido Imbens und Alan Krueger die „Fab Four“ (Pischke, 2021). Pischke spielt dabei auch darauf an, dass der Preis ebenso die Arbeiten des 2019 verstorbenen Alan B. Krueger ehrt, der in wegweisenden Arbeiten von David Card und Joshua Angrist mitwirkte.[1]
Mit ihrer Preisvergabe knüpft das Komitee an die Auszeichnung im Jahre 2019 an. Die Preisträger Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer wurden vor zwei Jahren für ihren Ansatz geehrt, kausale Effekte im Rahmen von Feldexperimenten zu identifizieren. Was unterscheidet nun die Methode der natürlichen Experimente von Card, Angrist und Imbens vom experimentellen Ansatz der Preisträger von 2019? Und worin genau liegt der Beitrag der diesjährigen Preisträger?
Herausforderungen der empirischen Kausalanalyse
Die großen Fragen der Wissenschaft sind jene nach Ursache und Wirkung. Das Problem ist jedoch, dass mit empirisch beobachtbaren Daten zwar leicht Korrelationen gezeigt werden können – die Abschätzung eines kausalen Einflusses gestaltet sich hingegen oft schwierig. Zum einen kann die Korrelation zwischen zwei Variablen von einer dritten Variablen beeinflusst werden. Zum anderen ist häufig unklar in welche Richtung ein Effekt verläuft. Ein Bilderbuch-Beispiel ist die Korrelation von Geburten und der lokalen Storch-Population. Für Europa ergibt sich hierbei eine stattliche Korrelation von 62% (Matthews, 2000). Bringt der Storch also die Kinder? Vermutlich nicht. Plausibler erscheint, dass es in ländlichen Regionen eine höhere Geburtenzahl gibt – und eben auch mehr Störche. Was in diesem Beispiel so offensichtlich erscheint, ist für viele ökonomische Fragestellungen weniger deutlich ersichtlich. Dennoch liefert der alleinige Blick auf Korrelationen gerade in den Wirtschaftswissenschaften oft irreführende Antworten. Statistiker erzählen sich dazu häufig folgenden Witz: Ein Student unterhält sich auf dem Flur der Universität mit einem Kommilitonen. Er berichtet: „Früher habe ich Korrelationen als kausale Zusammenhänge interpretiert. Nun habe ich einen Kurs in Statistik gehört und mache das nicht mehr“. Der Kommilitone erwidert: „Also war der Kurs hilfreich!“. Daraufhin erwidert der Student: „Nun ja – vielleicht…“.
Aus gesellschaftlicher Sicht sind die Probleme der Identifizierung kausaler Effekte besonders dann schwerwiegend, wenn es um die Quantifizierung der Wirksamkeit einer Politikmaßnahme geht. Welche Wirkung hat ein staatlicher Mindestlohn? Beeinflussen Steuerreformen das Wirtschaftswachstum? Und wie wirkt eine bessere Schulbildung auf die künftigen Verdienstchancen von Schülern? Diese Fragen sind für die Gestaltung der Politik wesentlich, können aber häufig nicht einfach beantwortet werden, da keine Vergleichsgröße existiert. Dafür müsste man in ein Paralleluniversum reisen und eine Welt ohne Politikmaßnahme mit der unsrigen Welt vergleichen, in der die Politikmaßnahme durchgeführt wurde. Übersetzt in die Sprache der Statistik bedeutet dies: Es fehlt das „Kontrafaktum“, also die Ausprägung der Zielgröße ohne Politikintervention.
Bedeutet dies nun, dass wir keine Aussage über die Wirksamkeit von Politikmaßnahmen auf ökonomische Variablen treffen können? Nicht ganz. Tatsächlich wurden über die letzten Jahrzehnte verschiedene statistische Verfahren etabliert, welche das Problem einer fehlenden Vergleichsgröße umgehen. Eine einfache aber effektive Methode besteht darin, dass Forscher im Rahmen von Experimenten einer zufällig ausgewählten Gruppe von Individuen Politikmaßnahmen zukommen lassen (die Literatur spricht hierbei von einem „Treatment“). Anschließend kann dann die Veränderung von ökonomischen Outcomes dieser Gruppe mit jenen einer Kontrollgruppe verglichen werden, die diese Politikmaßnahm nicht erlebt hat. Für die Anwendung dieser Methode in den Wirtschaftswissenschaften haben Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer im Jahr 2019 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten (für eine Beschreibung und Einordnung, siehe Klonner, 2019). Während die Experiment-basierte Methode (häufig wird dabei von „Randomized Controlled Trials, RCTs“ gesprochen) den kausalen Einfluss der Politikmaßnahme auf ökonomische Variablen unter bestimmten Voraussetzungen relativ zuverlässig identifiziert, ist die Anwendung per Konstruktion auf einige wenige Fragestellungen beschränkt. Es wäre weder moralisch vertretbar noch wissenschaftlich sauber, bestimmte Politikmaßnahmen allein aus Gründen der Forschung in zufällig ausgewählten Ländern durchzuführen. Experimente sind also per se auf bestimmte Anwendungen beschränkt (siehe dazu auch die Kritik von Angust Deaton, Nobelpreisträgers von 2015, in Deaton, 2009).
Nun könnte eingewendet werden, dass auf natürliche Weise Unterschiede in den Politikmaßnahmen verschiedener Länder bestehen. So existiert etwa in einigen Ländern ein staatlicher Mindestlohn, in anderen hingegen nicht. Könnten diese Unterschiede nicht einfach zur empirischen Analyse eines Effekts des Mindestlohns ausgenutzt werden? Die Antwort darauf ist ein enthusiastisches „Nein“. Der Grund, warum ein Vergleich von Ländern mit und ohne Politikintervention nicht ausreicht, um den kausalen Effekt der Intervention auf ökonomische Variablen zu identifizieren, führt direkt auf die Spur der Arbeiten von Card, Angrist und Imbens. Das Problem ist, dass Länder sich selbst dazu entschlossen haben, eine bestimmte Maßnahme durchzuführen. Es handelt sich bei der Einführung entsprechender Politikmaßnahmen daher um ein sogenanntes „endogenes Treatment“. Da sich die Länder selbst dafür entschließen, eine Politikmaßnahme durchzuführen, kann nicht gesagt werden, ob die ökonomischen Variablen tatsächlich durch die Politikmaßnahme beeinflusst wurden – oder ob länderspezifische Charakteristika gleichzeitig die Einführung der Politikmaßnahme und die Veränderung der ökonomischen Variablen verursacht haben.
David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens haben gezeigt, dass das Problem der Endogenität mit sogenannten „natürlichen Experimenten“ gelöst werden kann. Dabei werden nicht etwa wie im Falle von RCTs Treatment- und Kontrollgruppe von Forschenden direkt manipuliert. Vielmehr werden die Probanden aufgrund von natürlichen, nicht durch die Forschenden kontrollierbaren Ereignissen in eine Experimentalgruppe und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Forscher, die diese Methode ausnutzen, sind also Spurensucher und halten Ausschau nach Fällen mit exogener Variation. David Card hat den Ansatz früh verwendet, um wesentliche Fragestellungen der Arbeitsmarktökonomie zu untersuchen. Angrist und Imbens haben den Ansatz methodisch weiterentwickelt und gezeigt, wie stimmige Schlussfolgerungen aus natürlichen Experimenten gezogen werden können.
David Card revolutioniert die empirische Arbeitsmarktforschung
David Card wurde 1956 im kanadischen Guelph geboren und studierte bis 1978 an der Queen‘s University in Kingston, ehe er nach Princeton wechselte, wo er im Jahre 1983 bei Orley Ashenfelter promovierte. Er bekleidete Professuren an den Universitäten Chicago und Princeton und folgte 1997 schließlich einem Ruf an die University of California, Berkeley. In einer Reihe von Papieren in den 1990er Jahren befasste sich Card mit grundlegenden Fragen, welche die Arbeitsmarktforschung seit vielen Jahrzehnten beschäftigten. Durch Anwendung von neuen Methoden der empirischen Kausalanalyse fand Card neue Antworten auf zentrale Fragen wie etwa der Wirkung des Mindestlohnes auf die Beschäftigung, den Arbeitsmarkteffekten von Migration und der Wirkung von Bildungsinvestitionen. Sein zentrales methodisches Werkzeug war dabei die Verwendung natürlicher Experimente.
Die späten 1980er und frühen 1990er Jahre waren prägend für die empirische Arbeitsmarktforschung. Die damalige ökonometrische Praxis befand sich in einer Sackgasse. So beklagte etwa Edward Leamer (1983) in seinem Papier „Let’s take the con out of econometics“, dass die meisten empirischen Untersuchungen ausgesprochen sensitiv auf kleinste Änderungen der Modellspezifikation reagierten. Unterstützung fand er dabei von seinem Kollegen Guy Orcutt, dem das berühmte Zitat “Doing econometrics is like trying to learn the laws of electricity by playing the radio” zugesprochen wird. Desillusioniert durch die damals gängige methodische Praxis entstand eine neue Strömung der Kausalanalyse, welche die empirische Forschung weit über die Arbeitsmarktökonomie hinaus verändern sollte.
Zwar wurden natürliche Experimente lange vor David Cards Schaffensperiode verwendet, etwa in Theodore Schultz’ Arbeiten in den 1960er Jahren (siehe etwa Schultz, 1964). Doch waren diese Ansätze zum damaligen Zeitpunkt die Ausnahme. Dennoch beeinflussten die frühen Arbeiten zahlreiche Personen um David Card. So etwa seinen Doktorvater Orley Ashenfelter, der verwandte Methoden anwendete, um die Wirkung staatlich geförderter Ausbildungsprogramme zu evaluieren (Ashenfelter, 1974, 1978). Dies legte den Nährboden für ein neues Verständnis in der empirischen Forschung. Rufe nach saubereren Methoden wurden lauter. Ashenfelters‘ Doktorand Robert LaLonde etwa demonstrierte, dass gängige ökonometrische Verfahren zu diametral anderen Ergebnissen kommen als randomisierte Experimente. Dies initiierte einen weiteren wichtigen Impuls für viele junge Ökonomen, die empirischen Methoden weiterzuentwickeln (LaLonde, 1986). Auch andere Doktoranden in Princeton feilten zu der Zeit an neuen empirischen Methoden, so etwa Gary Solon (1985). Einen wirklich Durchbruch sollte die Verwendung natürlicher Experimente jedoch erst erzielen, als Alan Krueger 1986 als Assistenzprofessor nach Princeton kam. Die gemeinsamen Arbeiten von Card und Krueger prägten die Profession wie wenige empirische Studien zu jener Zeit.
Bereits vor seiner Zusammenarbeit mit Krueger arbeitete David Card an innovativen Studiendesigns, etwa in Card (1990) oder in Altonji und Card (1991). Die Studien untersuchen die kausalen Effekte der Migration auf die Arbeitsmärkte. Ein Kernproblem, das frühere Untersuchungen nicht zufriedenstellend lösen konnten, war, dass die Zuwanderung gerade in boomenden Arbeitsmärkten stark ausgeprägt war, was die Ergebnisse aus herkömmlichen Zeitreihen- und Paneldatenanalysen verzerrte. Card (1990) verwendete die „Mariel-Bootskrise“ als natürliches Experiment zur Identifizierung eines kausalen Effekts der Migration auf Löhne und Beschäftigung. Im April 1980 verkündete Fidel Castro, dass Personen, die in die USA ausreisen möchten, Kuba vom Hafen von Mariel aus verlassen dürfen. Bis September 1980 reisten etwa 125.000 Personen aus Kuba aus, von denen sich etwa die Hälfte in Florida niederließen und die dortige Erwerbsbevölkerung um 7% erhöhten. Card verglich den Einfluss auf die Arbeitsmärkte in Miami mit vier anderen Städte und fand keinen Einfluss der Zuwanderung aus Kuba auf die Beschäftigung und die Löhne in Miami. Cards Studiendesign war das Musterbeispiel eines natürlichen Experiments, welches die Konzeption ähnlicher Studien in den kommenden drei Jahrzehnten nachhaltig beeinflussen sollte. In Altonji und Card (1991) entwickelte Card gemeinsam mit Joseph Altonji, ebenfalls Schüler von Orley Ashenfelter, zwei komplementäre und ähnlich einflussreiche Beiträge. Zum einen findet sich darin das „Workhorse-Modell“ zur Analyse der Arbeitsmarkteffekte von Migration. Zum anderen entwickeln die Autoren darin einen „Shift-Share“ Ansatz, der später in vielen weiteren Studien zur Anwendung kommen sollte, etwa auch in Cards eigenen Arbeiten in den frühen 2000ern (Card, 2001).
Waren Cards Arbeiten zur Migration wegweisend, so prägte seine Analyse der Wirkung von staatlichen Mindestlöhnen ein ganzes Forschungsfeld. In Card (1992a, 1992b) verglich David Card bereits den Einfluss einer Erhöhung des staatlichen Mindestlohns auf die Arbeitsmärkte in den US-Bundesstaaten. Ein Nachteil dieser Art von Studien, der David Card durchaus bewusst war, ist, dass häufig unklar ist, warum US-Bundesstaaten den Mindestlohn erhöhten. So ist es durchaus denkbar, dass die Erhöhung stark von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Wenn allerdings stark boomende Staaten den Mindestlohn erhöhen, dann wäre ein Nulleffekt auf Löhne und Beschäftigung wenig verwunderlich. Um diesen Einwand zu entkräften, untersuchten Card und Krueger (1994) zwei benachbarte Gebiete (New Jersey und das östliche Pennsylvania), die durch eine Staatsgrenze getrennt sind und die trotz stark vergleichbarer Rahmenbedingungen einer unterschiedlichen Mindestlohnpolitik ausgesetzt waren. Die Idee dahinter ist, dass beide Gebiete ähnliche wirtschaftliche Schocks erleben. Pennsylvania, das den Mindestlohn nicht änderte, kann somit als Kontrafaktum für New Jersey dienen, das den gesetzlichen Mindestlohn im April 1992 von 4,25 USD auf 5,05 USD pro Stunde anhob. Die Studie wird bis heute als Musterbeispiel der sogenannten „Difference-in-Differences“ Methode angesehen. In Folgestudien verfeinerten Card und Krueger ihre Analyse (etwa in Card und Krueger, 1995).
Die Beschreibung des Beitrags von David Card zur empirischen Forschung könnte vor dem Hintergrund von zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels 80.000 Zitationen und 243 Publikationen mit mindestens 10 Zitationen ganze Bücher füllen. Hervorzuheben seien an dieser Stelle exemplarisch seine Arbeiten zum Einfluss der Schulbildung auf die Arbeitsmarktergebnisse, die ebenfalls in gemeinsamer Arbeit mit Alan Krueger entstanden (Card und Krueger, 1992a, 1992b) und die ähnlich einflussreich waren (siehe auch Berthold und Gründler, 2017, für eine Beschreibung Cards Beitrag zur Ungleichheit). Doch wie Cards Arbeiten den damaligen Stand der empirischen Analyse herausforderten, blieben auch seine eigenen Arbeiten nicht von Kritik verschont (siehe etwa Neumark und Wascher, 2000). Mit dem vermutlich bekanntesten Kritiker seiner Arbeit teilt David Card nun seit Oktober 2021 seinen Nobelpreis: Joshua Angrist.
Joshua Angrist und Guido Imbens entwickeln die Methodik natürlicher Experimente weiter
Auch Joshua Angrist wurde durch das Umfeld in Princeton geprägt, wo er 1987 zunächst als Master of Arts graduierte und schließlich Ende 1989 wie David Card von Orley Ashenfelter promoviert wurde. Nach seiner Promotion wechselte Angrist als Assistenzprofessor nach Harvard. Dort sollte er Guido Imbens kennenlernen. Wie Card arbeitete auch Angrist gemeinsam mit Alan Krueger an neuen Methoden der empirischen Analyse. So nutzen Angrist und Krueger (1991) eine arbiträre Gestaltung der gesetzlichen Regelungen zum Schulabbruch in den USA als natürliches Experiment, um die Höhe der Bildungsrenditen zu quantifizieren. Die Regelungen halten fest, dass Kinder die Schulbildung abbrechen können, sobald sie 16 Jahre alt geworden sind. Da das Schuljahr für alle Kinder zum selben Zeitpunkt beginnt, ergibt sich so Variation im frühestmöglichen Zeitpunkt des Schulabbruchs. Für einige Kinder ist die gesetzliche Schuldauer daher länger als für andere. Diese Variation nutzen Angrist und Krueger im Rahmen eines Instrumentalvariablen-Ansatzes (IV). Die Verwendung natürlicher Experimente für IVs markierte einen Wendepunkt in der Modellierung von Instrumentalvariablen und hatte nachhaltigen Einfluss auf zahlreiche folgende Studien.
Die Resultate ihres neuen Ansatzes ließen Angrist und Krueger die Köpfe rauchen. Denn ihre ermittelten Renditen auf ein zusätzliches Schuljahr fielen noch höher aus als die Ergebnisse früherer (und aus Sicht der beiden Forscher weniger überzeugender) Methoden. Pikant war dieses Ergebnis deswegen, da die Forschung zuvor davon ausging, dass die Ergebnisse früherer Studien zu hoch sein mussten. Der Schluss liegt nahe, dass diejenigen Schüler, die eine höhere Bildung erzielen, gleichzeitig auch diejenigen sind, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und Talente höhere Löhne verdienen.
Angrist und Imbens arbeiteten gemeinsam an einer Erklärung des Phänomens. Die beiden vermuteten, dass verschiedene Personen unterschiedliche Vorteile von einem zusätzlichen Schuljahr haben sollten. So ist einem Schüler vielleicht bereits eine garantierte Anstellung im Familienunternehmen der Eltern zugesagt worden. Ein Abschluss wird auf die Verdienstmöglichkeiten dieser Person also keinen Einfluss nehmen. Für eine andere Person aber könnte ein Schulabschluss die Arbeitsmarktchancen wesentlich verändern. Die Kernfrage lautete daher: Wessen Bildungsrenditen werden in empirischen Studien wie jenen von Angrist und Krueger eigentlich gemessen? Imbens und Angrist (1994) zeigen, dass mit dem natürlichen Experiment aus Angrist und Krueger (1991) vor allem die Bildungsrenditen der Personen gemessen werden, die kurz vor einem Schulabbruch stehen. Die Autoren prägten hierfür den Begriff des „Local Average Treatment Effects“ (LATE). Die Ergebnisse sagen jedoch wenig darüber aus, wie sich etwa ein Hochschulstudium oder eine Promotion auf die Verdienstmöglichkeiten auswirken würde. Die Studie von Angrist und Imbens führte gemeinsam mit weiterführenden Arbeiten (etwa Angrist und Imbens, 1995) zu einer völlig neuen Lesart der Ergebnisse aus natürlichen Experimenten.
Die Erkenntnisse aus den Arbeiten von Angrist und Imbens gaben den Anstoß zu zahlreichen statistischen Verfeinerungen der Methode natürlicher Experimente. Joshua Angrist und Guido Imbens wirkten dabei maßgeblich an dieser Entwicklung mit und sorgten so für eine wesentlich präzisere Interpretation der Ergebnisse, die aus natürlichen Experimenten gewonnen wurden. Joshua Angrist prägte überdies eine ganze Generation von Studierenden der Ökonometrie mit seinem Buch „Mostly Harmless Econometrics“, welches er gemeinsam mit Jörn-Steffen Pischke verfasste und das eine grandiose Parodie auf Douglas Adams „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ ist. In eben diesem Werk kritisieren Angrist und Pischke auch Card und Krueger (1994). Auf Seite 293 der englischsprachigen Originalausgabe zweifeln die Autoren daran, dass Pennsylvania ein geeignetes Kontrafaktum für New Jersey in Card und Krueger (1994) sein kann. Dieses Beispiel zeigt: Natürliche Experimente sind starke Werkzeuge – doch hängt ihre Güte vom handwerklichen Geschick der Anwender ab.
Auch die Studien von Joshua Angrist und Guido Imbens blieben nicht von Kritik verschont. Tatsächlich wurde jede in diesem Artikel diskutierte Studie bis ins Kleinste analysiert und in ihre Einzelteile zersetzt. Dieser Prozess hat unser Verständnis des empirischen Arbeitens und der kausalen Analyse grundlegend verändert. Die diesjährigen Preisträger haben diesen Prozess angestoßen und maßgeblich mitbestimmt.
Literatur
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[1] Seit 1974 darf der Nobelpreis nur noch an Personen vergeben werden, die zum Zeitpunkt der Ankündigung im Oktober am Leben sind.
Hinweis: Der Beitrag erschien in Heft 12 (2021) der Fachzeitschrift WiSt.
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