So frech wie Gregor von Montelongo ist wohl kein Zweiter gewesen. Freilich hatten es auch andere mit dem Zölibat nicht so genau genommen. Bischof Heinrich von Basel zum Beispiel hinterließ bei seinem Tod im Jahre 1238 20 Kinder; beim Kollegen Heinrich von Lüttich, der 1281 starb, sollen es sogar 61 gewesen sein. Gregor von Montelongo aber, offensichtlich dem Humor zugeneigt, setzte sich über das Zölibat-Gesetz des Papstes auf ganz besondere Weise hinweg. „Si non caste tamen caute“, ließ der Oberhirte der Lombardei 1251 als Wahlspruch in sein Wappen setzen: „Wenn nicht keusch, so doch wenigstens vorsichtig.“
Bereits in den ersten Jahrhunderten hatte es zahlreiche Versuche gegeben, den Kirchenangehörigen den sexuellen Umgang zu verbieten. Im 4. Jahrhundert verlangte Kirchenvater Hieronymus, dass die Priester auf den Geschlechtsverkehr mit ihren Frauen verzichten sollten, und im selben Jahrhundert forderte die Synode im spanischen Elvira, jene Kleriker zu verjagen, die mit ihren Ehefrauen nicht enthaltsam lebten und Kinder zeugten.
1123 folgte den Forderungen das Verbot: Auf dem ersten Lateran-Konzil wurde Priestern der Umgang mit ihren Ehefrauen unter Strafe gestellt, ehe auf dem zweiten Lateran-Konzil (1139) das Zölibat-Gesetz eingeführt wurde, wonach es nur noch unverheiratete Priester geben durfte.
Die Idee der Enthaltsamkeit ist Jahrtausende alt, warum aber die Kirche aus der Idee ein Gesetz schuf, hat vermutlich andere, nämlich ökonomische, Gründe. Die Kirche hatte ein doppeltes Problem mit dem Nachwuchs. Erstens konnte kein Kirchenbesitz aufgebaut und zusammengehalten werden, wenn die Geistlichen Kinder hatten. Dann nämlich würde der Reichtum an die Kinder vererbt und damit in alle Richtungen verstreut. Nur die Kinderlosigkeit ihrer „Angestellten“ ermöglichte der katholischen Kirche, Besitztümer kaum vorstellbaren Ausmaßes anzuhäufen.
Zweitens: Die Gesellschaft basierte auf dem Ständesystem. Der Sohn wurde, was der Vater war. Der Tischlersohn wurde Tischler, der Zimmermannssohn Zimmermann. Der Priestersohn wäre somit Priester geworden. Damit aber hätten die Kirchenoberen weniger Macht gehabt. Nicht sie hätten entschieden, wer in den erlauchten Kreis der Kleriker aufsteigt, vielmehr hätte der Priester und Vater seine „Arbeitsstelle“ dem Sohn vererbt. Eine Priesterkaste wäre entstanden, der es unter anderem darum gegangen wäre, Besitz und gesellschaftliche Stellung zu erlangen, um ihn dann an die eigenen Nachkommen weiterzugeben. Das konnte den Bischöfen und dem Papst nicht gefallen.
Hinzu kommt: Wer keine Familie hat, der ist leichter an eine Institution zu binden. Er hat mehr Zeit für seine Arbeit und ist im Streitfall einfacher zur Räson zubringen, weil ihm der Rückhalt der Familie fehlt. Man stelle sich einen Arbeitgeber vor, der seine Angestellten verpflichten könnte, sein Leben vollständig in den Dienst des Unternehmens zu stellen. Ein Traum – für den Arbeitgeber.
Das Zölibat also hat der katholischen Kirche Macht und Reichtum beschert. Und jede Menge Ärger. Neun von zehn Deutschen sind der Ansicht, das Zölibat sei nicht mehr zeitgemäß und gehöre abgeschafft. Die jüngst ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle haben die Zölibat-Debatte zusätzlich befeuert. Manche sehen einen Zusammenhang zwischen der Ehelosigkeit der Priester und dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Kircheneinrichtungen.
Tatsächliche Kausalität oder haltloser Vorwurf? Zumindest vorstellbar, antwortet die Ökonomie. Die denkt gerne in Opportunitätskosten. Darunter versteht man, worauf der Mensch verzichten muss, wenn er sich für eine Sache entscheidet. Wer in den Sommerurlaub fährt, der wird eine schöne Zeit verbringen, aber er wird sich vielleicht kein neues Auto leisten können. Wer sich für ein Leben auf dem Land entscheidet, genießt die Ruhe, aber er verzichtet auf die kulturelle Vielfalt der Stadt. Von den Opportunitätskosten hängen unsere Entscheidungen ab. Ist das Auto kurz vor dem Kolbenfresser, wird der Sommerurlaub vielleicht ausfallen. Vermisst der aufs Land gezogene die Theaterbesuche, wird er eventuell wieder in die Stadt ziehen.
Wer Priester wird, hat hohe Opportunitätskosten. Seinem Arbeitgeber verspricht er, auf Familie und Sex zu verzichten. Bricht er das Versprechen, kann er Amt und Einkommen verlieren. Wem diese Kosten zu hoch sind, der wird nicht katholischer Priester.
Was aber bestimmt die Höhe der Opportunitätskosten? In früheren Zeiten war es der Wert einer heterosexuellen Beziehung. Darauf verzichtete, wer Priester wurde. Sie war die einzig akzeptierte Beziehungsform. Eine schwule Beziehung offen zu leben, war meist genauso unmöglich, wie pädophile Neigungen auszuleben. In beiden Fällen waren die Opportunitätskosten gering: Wer mit diesen Neigungen Priester wurde, musste wenig aufgeben.
Das Konstrukt von den Opportunitätskosten legt nahe, dass unter katholischen Priestern der Anteil Heterosexueller niedriger ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist aber anzunehmen, dass der Anteil schwuler Priester aktuell abnimmt. Denn wo Schwule, ihre sexuelle Orientierung zunehmend offen leben können, steigen auch deren Opportunitätskosten für den Priesterberuf.
Freilich hängt die Berufswahl nicht ausschließlich an den Opportunitätskosten. Die Kosten sind nur die eine Seite. Die Entscheidung für oder gegen den Priesterberuf wird nicht nur davon bestimmt, worauf man verzichtet (Kosten), sondern auch von dem, was man gewinnt, den Vorteilen (Nutzen). Der Priesterberuf kann Genugtuung bringen, ein Leben, das man Gott widmet, kann ein erfülltes sein.
Aber warum den Priestern nicht frei stellen, wie sie leben möchten? Zumal es der Kirche an Nachwuchs mangelt. Zudem sind die ursprünglichen Gründe bei der Einführung des Zölibats nicht mehr vorhanden. Das Ständesystem gibt es nicht mehr. Und die Gefahr, dass der Reichtum der Kirche durch Vererbung verstreut wird, ist kaum mehr vorhanden: Priester und Bischöfe sind wie Angestellte, sie erhalten einen Lohn. Ob sie das Geld vollständig ausgeben oder einen Teil davon sparen und an ihre Kinder vererben, hat keinen Einfluss auf das Vermögen der Kirche.
Die katholische Kirche sollte dennoch besser nicht vom Zölibat lassen. Das zumindest ist der Ratschlag von vier Wissenschaftlern der betriebswirtschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Sie haben die Vor- und Nachteile, die das Zölibat für die katholische Kirche mit sich bringt, abgewogen. Ihr Fazit: Auf dem vielfältigen Markt der religiösen Angebote positioniert sich die katholische Kirche durch das Zölibat stark und eindeutig – und zwar als konservativ. Außerdem zieht sie durch das Zölibat nur jene potentiellen Priester an, die dieser konservativen Ausrichtung wohlgesonnen sind, was die Einheit der Kirche (und damit die Marke „Katholische Kirche“) stärkt. Diese Positionierung erhöhe die Spendenbereitschaft unter den Gläubigen, so die Wissenschaftler.
Also alles lassen wie es ist? Paulus, dem Gründer der Kirche, wäre dies zu Beginn seiner Missionszeit wohl recht gewesen. Der Ehe schien er nicht sonderlich zugetan. „Ich wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet) wie ich (Paulus)“, schreibt er im ersten Korinther-Brief. Seine Abneigung gegenüber der Ehe aber hatte vermutlich einen ganz speziellen Grund: Paulus war der Überzeugung, dass es gar keinen Sinn mehr mache, Kinder zu zeugen, da das Gottesreich kurz bevorstehe.
Als sich dieses Gottesreich dann doch nicht so schnell einstellen wollte, änderte sich auch seine Einstellung. Im ersten Brief an Timotheus schreibt Paulus, dass ein Bischof „ein guter Familienvater sein und seine Kinder zu Gehorsam und allem Anstand erziehen“ soll. Denn so folgert er: „Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?“
Es sieht so aus, als müsste sich die katholische Kirche entscheiden, ob sie den Worten Paulus oder einem erfolgreichen Marketingkonzept folgen will.
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Witzig! Seit wann ist Paulus der Gründer der Kirche? Wahrscheinlich – ich habe den Blog nur ‚überflogen‘ – gäbe es noch manch so komische Aussage zu finden. Jedenfalls ist Jesus der Gründer seiner Kirche: ‚Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.‘ Derzeit scheint die Hölle kräftig am Werk zu sein.