Herr Professor Paqué, war die Wiedervereinigung ein Erfolg oder ist sie gescheitert?
Paqué: Die Wiedervereinigung war ein Teilerfolg. Das, was erreichbar war, ist erreicht worden. Das, was nicht erreichbar war, ist nicht erreicht worden. Das Problem in der öffentlichen Wahrnehmung waren die viel zu hohen Erwartungen.
Hätte es eine Alternative zu der eingeschlagenen Genese eines vereinten Deutschlands gegeben?
Paqué: Aus rein ökonomischer Sicht hätte es sie nach dem Mauerfall durchaus gegeben. Ich nenne sie überspitzt Erweiterung West anstatt Aufbau Ost. Man hätte die massive Abwanderung der Menschen einfach zulassen können. Eine solche Situation hatten wir bereits nach dem Zweiten Weltkrieg. Da gab es einen Zustrom von zehn Millionen Vertriebenen; in den fünfziger Jahren sind zusätzlich qualifizierte Arbeitskräfte aus Ostdeutschland hinzugekommen. Das Ergebnis war ein Wirtschaftswunder. Es gab einen Investitionsboom, gleichzeitig Druck auf die Reallöhne durch die Zuwanderung, eine hohe Rentabilität von Investitionen und einen Ausbau der industriellen Kapazität. Etwas Vergleichbares hätte man sich auch nach der Wiedervereinigung vorstellen können. Die Konsequenz wäre ein Morgenthau-Plan für den Osten gewesen. Übrig geblieben wäre eine Art Biotop, landwirtschaftliche Nutzfläche und Rentnerparadies.
Was ist so schlimm, wenn sich die Wirtschaft in Westdeutschland ballt und der Osten zur Peripherie wird? In Frankreich gibt es ganze Landstriche mit einer geringen Bevölkerungsdichte.
Paqué: Da wäre ich vorsichtig. In Frankreich gibt es zwar eine starke Zentralisierung in Paris. Aber die französische Provinz hat durchaus gesunde wirtschaftliche Strukturen. Bessere Vergleiche finden sich in den USA, zum Beispiel in West Virginia, einer Bergbau-Region. Dort hat sich praktisch alles geleert, weil eine Industrie plötzlich nichts mehr zu produzieren hatte. Das wäre aus ökonomischer Sicht hierzulande denkbar gewesen. Politisch dagegen war es völlig ausgeschlossen. Mitteldeutschland und Berlin waren hinter dem Ruhrgebiet einst die führenden industriellen Regionen. Städte wie Leipzig, Dresden und Halle wären ruiniert zurückgelassen worden. Das hätte niemand verstanden. In Westdeutschland wäre man wegen des Zustroms von Menschen nicht begeistert, im Osten wegen der Abwanderung sogar entsetzt gewesen. Auch das Ausland hätte sich gefragt: Was machen die Deutschen da? Sie können vielleicht ein kleines unbedeutendes Stück Land dem Schicksal überlassen, aber nicht eine große Region, die mal industrielles Zentrum war.
Der Aufbau Ost ist rasend schnell vonstatten gegangen. Was hätte es bedeutet, wenn man dem Osten nicht ruckartig das westliche System aufoktroyiert hätte, sondern behutsam vorgegangen wäre?
Paqué: Was die reine Geschwindigkeit angeht, hätte man nichts langsamer machen können. Ab dem Moment, als die Entscheidung für den Aufbau Ost feststand, war es sehr schwer, auf die Bremse zu treten. Die drei wesentlichen Eckpunkte der Politik mussten umgesetzt werden: eine Wirtschafts- und Währungsunion, die Privatisierung durch die Treuhandanstalt und eine massive Wirtschaftsförderung einschließlich des Aufbaus der Infrastruktur. Nur dadurch konnte das Vertrauen hergestellt und eine Perspektive geschaffen werden.
Ifo-Chef Hans-Werner Sinn hat in seinem 1992 erschienen Buch Kaltstart geschrieben: „Nicht eine Marktwirtschaft, sondern eine Rent-Seeking-Ökonomie mit Nullsummen-Spielen hat der Einigungsvertrag hervorgebracht.“ Was hätten Sie dieser Aussage damals entgegen gestellt?
Paqué: Ich sehe die damalige Entscheidung vollkommen determiniert durch die Mobilität der Arbeitskräfte. Man stelle sich einen jungen Menschen – und davon gab es viele – in einer ostdeutschen Stadt vor, der 1990 vor der Frage stand: Was mache ich? Hier der marode Kapitalbestand, alles bricht zusammen. Nur wenige Kilometer entfernt im Westen kann ich arbeiten: mit modernen Maschinen in einem wettbewerbsfähigen Unternehmen mit einer zukunftstauglichen Produktpalette – und das alles zum dreifachen Lohn! Hätte ein Hans-Werner Sinn mit Wohnsitz in Leipzig damals allen Ernstes seinem Sohn empfohlen, im Osten zu bleiben?
Da muss ein Ökonom zur Abwanderung raten.
Paqué: Genau, der Rat des Vaters hätte lauten müssen: Geh in den Westen! Manche Ökonomen haben sich dies nicht klargemacht. Ihre Argumente waren damals nicht überzeugend und sind es auch heute nicht. Immer nur zu behaupten, dass alles schief gelaufen ist, verkennt völlig die Grundkonstellation. Alles stand unter dem Druck der Mobilität. Sinn hat selbst einmal formuliert, dass die Ostdeutschen den Staat erpresst hätten, getreu dem Motto: Entweder ihr unterstützt den Osten oder wir gehen in den Westen. Man kann es Erpressung nennen. Ich nenne das Freiheit.
Doch für diese Freiheit musste viel Geld in die Hand genommen werden. Noch heute werden bis zu 50 % der Investitionen vom Staat getragen. Inwieweit sind das Verschwendungen? Man denke nur an die Werften in Mecklenburg-Vorpommern oder die vielen Bausünden in Brandenburg.
Paqué: Natürlich sind dies bedauerliche Fälle der Kapitalverschwendung. Im Gesamtbild ist es aber ein relativ kleiner Brocken. Die Investitionsförderung war im Wesentlichen erfolgreich. Natürlich besteht immer das Risiko, dass ein gefördertes Unternehmen auf Dauer nicht profitabel wirtschaftet, dafür gibt es in der Tat Beispiele. Aber all das bewegt sich im normalen Rahmen. Wichtig ist doch, dass es heute keine industriellen Anlagen im Osten gibt, die auf Dauer unrentabel produzieren. Die ostdeutsche Wirtschaft ist nicht zum Subventionsloch geworden, was übrigens ein großer Verdienst der schnellen Treuhand-Privatisierung ist.
Ein weiterer großer Fördertopf wurde für Immobilien verwandt. War der Bauboom ein Segen oder ein Fluch für die weitere wirtschaftliche Entwicklung?
Paqué: Beides. Er war ein Segen in dem Sinne, dass auch hier alles schnell gehen musste. Die Städte mussten ein neues Bild bekommen. Sie waren verwahrlost. Es ging hier nicht um einen weichen, sondern einen harten Standortfaktor. Öde Städte halten keine Menschen von der Abwanderung ab. Und sie ziehen keine Menschen an, schon gar keine Leistungsträger. In Ostdeutschland leben heute wohl etwa 400 000 Einwohner, die aus dem Westen gekommen sind. Das sind größtenteils Personen, die in relativ verantwortungsvoller Position sind. Die wären bestimmt nicht gekommen und mit ihren Familien geblieben, wenn man nicht schnellstens den Baubestand und die Infrastruktur erneuert hätte. Insofern waren die Steuererleichterungen und die Subventionen in der Baubranche richtig.
Viele Immobilieninvestoren sind dabei aber kräftig unter die Räder gekommen. Hat die staatliche Förderung die Erwartungen nicht stark verzerrt oder hätte sie sogar Warnung sein müssen?
Paqué: Es hat eine große Euphorie geherrscht, auch weil andere Wachstumsprognosen vorlagen. Im Nachhinein ist man klüger. Viele westliche Investoren haben ihr Geld in Immobilien investiert. Das war häufig in der Tat kein gutes Geschäft und im Ergebnis eine Art Subvention von privater Seite. Die Leerstände zeigen, dass da überinvestiert wurde. Es traf allerdings nicht die Ärmsten, das muss man auch sagen. Und schnelle Investitionen waren nötig. Man stelle sich nur mal vor, es hätte viel länger gedauert. Dann wären die Kameraleute durch die Städte gefahren, nach dem Motto: Schaut mal her, in unserem reichen Land passiert nichts! Deshalb haben die Politiker lieber mehr als weniger getan.
Eine kräftige Anpassung gab es zunächst auch bei den Löhnen. Wer zeichnete dafür verantwortlich?
Paqué: Unmittelbar nach der Währungsunion lag das Lohnniveau zunächst bei einem Drittel des Westens. Die Löhne sind in der Folge deshalb so stark angestiegen, weil westdeutsche Gewerkschaften mit einer Treuhandanstalt verhandelt haben, die komplett durch den Staat subventioniert war. Das waren keine echten Tarifverhandlungen. Die Treuhandanstalt hat gewusst, dass sie die Löhne nicht bezahlen muss. Ökonomisch formuliert gab es eine Soft Budget Constraint. Man wusste, dass der Staat bereit stand, um den Kapitalbestand noch eine Weile zu subventionieren. Gleichzeitig war den Investoren und den Erwerbern von Treuhandunternehmen aber auch von vornherein klar, dass sie einen Lohn bezahlen mussten, der die Menschen hier hält. Der konnte unter dem Westniveau liegen, aber nicht zu viel niedriger. Heute betragen die Löhne – wie auch schon in den späten neunziger Jahren – etwa zwei Drittel des Westens.
Die ostdeutschen Renten liegen seit Mitte der neunziger Jahre sogar über dem Westniveau. Woran liegt das?
Paqué: Der Umstellungskurs war eine Frage der Gerechtigkeit, eine Art Wiedergutmachung: Wollte man die Lebensleistung der Bevölkerung, die in der DDR hart gearbeitet hat, anerkennen oder nicht? Man hat den Menschen im Wesentlichen die westlichen Ansprüche zugestanden, wenngleich der Bemessungswert der Rentenversicherung bis heute unter dem des Westens liegt. Aber vor allem Frauen hatten in der DDR eine hohe Erwerbsbeteiligung, und deshalb kamen dabei effektiv recht hohe Renten heraus. Aber für diese Anwartschaften war ja auch gearbeitet worden. Im Zusammenhang mit den Renten ist etwas anderes schief gelaufen. Die Zusatzlasten wurden nicht über Steuern, sondern über die Rentenkassen finanziert. Es ist nicht einzusehen, dass die Gemeinschaft der Rentenzahler für eine historisch absolut einmalige Sondersituation bezahlen muss.
Gilt das auch für den Umtauschkurs im Zuge der Währungsunion?
Paqué: Entscheidend war damals, dass man den Ostdeutschen das Gefühl gegeben hat, dass ihre Sparkonten und Vermögenswerte fair bewertet werden. Deshalb war der 1:1-Kurs naheliegend. Darüber gab es auch kaum Beschwerden. Dagegen ist bei der 1:1-Umrechnung der Unternehmensschulden starke Kritik aufgekommen. Angeblich hätte sie die Privatisierung behindert. Ich glaube das nicht, denn die Verschuldung schlug sich ja in einem entsprechenden Abschlag beim Kaufpreis der Unternehmen nieder. Das war eine simple Rechenaufgabe, die von der Treuhandanstalt und den Kaufinteressenten problemlos gelöst wurde.
Zwischen 1991 und 2006 flossen 1,2 bis 1,5 Billionen Euro in den Osten. Das sind drei Viertel des aktuellen Niveaus der Staatsschulden in Deutschland. Die Nettokosten beliefen sich immerhin noch auf 500 Milliarden Euro, was 38 000 Euro je Einwohner entspricht. War die Deutsche Einheit diesen Preis wert?
Paqué: Ja, allemal unter den politischen Bedingungen. Ökonomisch wäre eine Erweiterung West zwar billiger gewesen. Nur war das aus politischen und moralischen Gründen nicht machbar. 1,2 Billionen oder 500 Milliarden Euro, das sind gewaltige Summen, aber es ist ja auch Gewaltiges geleistet worden. Die Infrastruktur und der Gebäudebestand sind total erneuert worden, ein völlig maroder industrieller Kapitalbestand wurde privatisiert. Nehmen Sie ein Land der Größe Ostdeutschlands mit 16 Millionen Einwohnern. Stellen Sie sich, wie ein riesiger Investor, einfach die Frage, was die Gesamtrenovierung eines Landes verglichen mit den erwarteten Erträgen kostet. Und da halte ich den Preis nicht für zu hoch. Immerhin erzielt die ostdeutsche Industrie 78 Prozent der Produktivität des Westens. In der tschechischen Industrie liegt die Produktivität in etwa bei 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Dieser Unterschied ist im Wesentlichen auf die Förderung zurückzuführen, denn die Ausgangslage von Ostdeutschland und Tschechien war 1989/90 in etwa vergleichbar. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt in Tschechien über 40 Prozent unter dem ostdeutschen. Das ergibt einen jährlichen Zusatzertrag des Produktionswertes von über 100 Milliarden Euro, den der Aufbau Ost gebracht hat, jedenfalls im Vergleich zum Nachbar Tschechien. Insofern war der Aufbau Ost alles andere als eine Fehlinvestition.
Trotzdem hat die Politik Fehler gemacht. Was waren die drei größten?
Paqué: Den einen habe ich bereits genannt. Die Abwicklung der Kosten der zusätzlichen, vergangenheitsbedingten Rentenzahlungen über die Kasse der Beitragszahler. Das war falsch, das hätte man über die Steuern finanzieren müssen. Der Entscheidung ging ein Machtkampf zwischen den Ministerien voraus, in dem damals ausnahmsweise der Finanzminister Theo Waigel gegen den Arbeitsminister Norbert Blüm gewann. Zweitens war sicherlich die Bausubventionierung übertrieben. Allerdings würde ich da bereits das Fragezeichen setzen. Konnte man die richtige Förderhöhe zum damaligen Zeitpunkt überhaupt richtig einschätzen? Und drittens hätte man mit den Kosten ehrlicher umgehen können. Aber viele der handelnden Politiker haben es damals auch einfach nicht besser gewusst.
Mittlerweile ist das Leistungsbilanzdefizit der Neuen Bundesländer, also die Differenz zwischen Verbrauch und Produktion, deutlich gesunken. Aber noch immer geht es um knapp zehn Prozent des ostdeutschen BIP. Worin liegen die Gründe?
Paqué: Das liegt vor allem an den Sozialzahlungen. Innerhalb der Renten- und Arbeitslosenkassen fließt viel Geld in Richtung Osten. Es liegt außerdem – und das darf man nicht vergessen – an den 300 000 Pendlern, die ihr Einkommen im Westen erwirtschaften und es im Osten ausgeben. Der Rest und vieles darüber hinaus sind dadurch bedingt, dass die ostdeutsche Industrie immer noch nicht die gleiche Exportfähigkeit und Innovationskraft besitzt wie die westdeutsche. Sie hat zwar enorme Fortschritte gemacht, aber die Arbeitsproduktivität liegt nach wie vor bei unter 80 Prozent.
Warum hat sie noch nicht annähernd 100 Prozent erreicht?
Paqué: Ich führe das auf die Innovationslücke zwischen Ost und West zurück. Es ist in Ostdeutschland zwar eine Industrie entstanden, die effizient und mit zwei Drittel des westdeutschen Lohnniveaus produziert. Die Lohnstückkosten sind deshalb sehr günstig. Sie lagen 2008 14 Prozent niedriger als im Westen, wodurch ein hochattraktiver industrieller Standort entstanden ist. Es fehlt dem Osten aber an Innovationskraft. Die ostdeutsche Industrie ist eben zu beträchtlichen Teilen noch immer eine verlängerte Werkbank des Westens.
Wäre das vermeidbar gewesen?
Paqué: Ganz klar, nein. Der Osten war nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine total de-industrialisierte Region. Es war nicht möglich diejenigen, die dort investieren, zu zwingen, auch ihre Forschungsabteilungen umzusiedeln. Mein Lieblingsbeispiel ist die Bayer AG. Das Unternehmen hat in Bitterfeld die Aspirin-Produktion konzentriert. Der Standort ist topmodern und produktiv. Aspirin ist aber ein völlig standardisiertes Produkt mit standardisierten Produktionsprozessen. Pionier-Renten gibt es da nicht, dafür sorgt die harte Konkurrenz preiswerter Generika. An neuen Wirkstoffen wird dagegen in Leverkusen geforscht. Solche Beispiele gibt es übrigens auch innerhalb des Westens. Auch dort bleiben bei Investitionen in strukturschwächeren Regionen die Forschungsabteilungen zumeist im wirtschaftlich starken Ballungsraum. Haben sich dann einmal solche strukturellen Unterschiede etabliert, sind sie schwer zu beseitigen. In der Ökonomie reden wir dann von Pfadabhängigkeiten.
Sie haben die Attraktivität des Standortes bereits angesprochen. Wegen der relativ niedrigen Lohnstückkosten wurden viele Produktionsstandorte in den Osten verlagert. Warum liegt die Arbeitslosenquote trotzdem noch immer deutlich über dem Westniveau?
Paqué: Die niedrigen Lohnstückkosten sorgen nicht sofort für zusätzliche Investitionen, die den Arbeitsmarkt zwischen Ost und West zum Ausgleich bringen. Das braucht seine Zeit. Die Welt ist eben nicht, wie es neoklassische Produktionsfunktionen suggerieren. Trotzdem hat der Osten als Standort viel zu bieten. Das, was in den frühen neunziger Jahren kritisiert wurde, trifft so nicht mehr zu, vor allem wegen des relativ niedrigen Lohnniveaus. Das liegt daran, dass ein enormes Maß an Flexibilität herrscht und der Flächentarifvertrag im Grunde nicht existiert.
Vieles hat sich zwischen West und Ost angeglichen: die Technologien, der Kapitalstock, die Infrastruktur, das Bildungsniveau und der Zugang zu den Kapitalmärkten. Auch in die FuE wurde in den vergangenen 20 Jahren viel investiert. Warum ist das letzte Teilstück des Aufholprozesses so schwierig?
Paqué: Die FuE-Basis wurde durch den Auf- und Ausbau von Universitäten zwar schnell gestärkt. Aber die beschriebenen Pfadabhängigkeiten wirken noch lange nach. Die privatwirtschaftliche Forschung hängt deutlich hinterher. Der wirtschaftspolitische Schwerpunkt sollte daher eindeutig nicht im weiteren Ausbau der Infrastruktur, sondern in der Förderung der Netzwerke von öffentlicher und privater Forschung liegen. In bestimmten Bereichen klappt das bereits hervorragend, vor allem in Branchen, die neu entstanden sind. Ein Beispiel ist die Photovoltaik in Bitterfeld, wo es bereits forschungsintensive Clusterbildungen gibt – in Zusammenarbeit mit nahe gelegenen Universitäten. Oder die Mikroelektronik in Dresden. Oder die moderne Feinmechanik und Optik in Jena. Oder der Maschinenbau im Großraum Magdeburg.
Solch innovative Unternehmensnetzwerke gibt es aber noch zu wenige. Häufig wird auch die Abwanderung von jungen und qualifizierten Arbeitskräften als Ursache angeführt…
Paqué: Natürlich wandern noch immer Menschen ab. Es sind jedoch viel weniger als in den frühen neunziger Jahren. Was wir heute beobachten, sind vor allem Bewegungen von den ländlichen Regionen in die Städte, und zwar sowohl in den Westen als auch den Osten. Daher haben auch viele strukturschwache Gegenden im Osten stark negative Bevölkerungssalden. Beispiele sind die Uckermark oder der Spreewald. Das gilt aber nicht für die mitteldeutschen Ballungsräume. Da hat sich die Situation einigermaßen stabilisiert. Wir haben natürlich generell ein demographisches Problem. Aber Bevölkerungsbewegungen sind nicht die zwingende Ursache der mangelnden Innovationskraft.
Warum ist der FuE-Output dann so gering?
Paqué: Das liegt am Flurschaden, den Jahrzehnte praktizierter Sozialismus verursacht haben. Nehmen wir an, man würde das Zentrum Württembergs 40 Jahre vom Weltmarkt abschneiden und anschließend die Märkte öffnen. Dann würden wir relativ schnell sehen, wie schlecht es um die Innovationskraft der Region bestellt wäre.
Aber die Technologien im Osten waren doch gar nicht so schlecht.
Paqué: Anfangs ja. Aber wenn Sie 40 Jahre unter einer Käseglocke leben, nutzen Ihnen die technologischen Ideen überhaupt nichts mehr. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wartburg. In den fünfziger Jahren sah dieses Auto dem verwandten DKW noch verblüffend ähnlich. Dann entwickelte sich der Wartburg kaum noch weiter, während sich die westlichen Autoproduzenten im weltweiten Wettbewerb den Konsumentenpräferenzen gestellt haben. Wenn Sie diesen Prozess nicht mitmachen, ist die schönste Technologie irgendwann unbrauchbar, um Produkte am Weltmarkt absetzen zu können.
Wo sind denn die ostdeutschen Produkte geblieben?
Paqué: Die sind zu einem großen Teil verschwunden. Der Trabant existiert nicht mehr. Diejenigen Produkte, die einen Markennamen hatten, der zu retten war, haben überlebt. Brauereien sind mein Lieblingsbeispiel. Oder Sekthersteller. Die wurden nach der Wende sofort aufgekauft, oder es gab einen erfolgreichen Management Buy Out wie bei der Sektkellerei Rotkäppchen, heute der Marktführer in Deutschland. Die Hersteller konnten anschließend ihre Produkte mit einer guten Werbekampagne absetzen. Das westliche Produktivitätsniveau konnte – genau wie in der Landwirtschaft – schnell erreicht werden. Das ist natürlich bei Konsumgütern leichter als bei Investitionsgütern. Im Maschinenbau kommt es vor allem auf die Technik an. Wer da zurückgefallen ist, hat es anschließend schwer.
Ist der Osten deshalb so exportschwach, weil die technologieintensiven Branchen ins Hintertreffen geraten sind?
Paqué: Das hängt ganz eng miteinander zusammen, wobei der Osten bei der Exportquote große Fortschritte gemacht hat. Die Innovationsschwäche ist das schwierigere Feld. Es gibt aber auch noch einen weiteren Sektor, der dramatisch abgebaut hat. Das sind die exportfähigen Dienstleistungen. Ein Beispiel ist Leipzig, die Messestadt. Leipzig war vor dem Krieg ein internationales Zentrum des Handels und findet dorthin nur mit größten Schwierigkeiten zurück, weil überregional handelbare Dienstleistungen noch stärkere räumliche Konzentrationstendenzen haben als die Industrie.
Warum kann der Osten nicht einfach zu einem Vorzeigeland für eine Dienstleistungsgesellschaft werden? Man nehme nur den Tourismus…
Paqué: Vom Tourismus können vielleicht die Insel Rügen und andere Standorte an der Ostsee ganz gut leben. Das ist aber so ziemlich der einzige Winkel des Ostens, für den dies zutrifft. Analoges gilt übrigens für Westdeutschland. Dort sind es vielleicht die Insel Sylt oder ein paar Alpendörfer. Man braucht entweder spektakuläre Berge oder See und Sonne. Wenn man das nicht hat, kann man nicht davon leben. Der Tourismus ist fürs Image gut, aber für eine wettbewerbsfähige Volkswirtschaft braucht es erheblich mehr.
Der industrielle Aufholprozess des Ostens muss also vor dem der exportfähigen Dienstleistungen stehen.
Paqué: Genau so ist es. Versuchen Sie doch mal, die großen Finanzinstitute zu veranlassen, von Frankfurt zurück nach Berlin zu gehen, wo sie früher waren. Das machen die nicht, weil Dienstleistungen besonders stark auf räumliche Ballungsvorteile angewiesen sind, noch mehr als die Industrie. Die Bedeutung spezialisierter lokaler Arbeitsmärkte und das Vertrauen von Kunden und Lieferanten spielt dort noch eine größere Rolle, wie uns die „New Economic Geography“ und die „Urban Economics“ lehren. Und viele Dienstleistungszentren leben gerade von der Nähe zur Industrie, wie zum Beispiel Düsseldorf am Rande des Ruhrgebiets. Selbst die Hafenstadt Hamburg kann nicht allein vom Handel leben und hat deshalb u. a. eine Luftfahrtindustrie attrahiert. In München ist der Dienstleistungssektor als Folge des industriellen Aufstiegs entstanden, nicht als dessen Ursache. Der Osten braucht also eine breite industrielle Basis.
Seit dem Mauerfall haben (netto) mehr als eine Millionen Menschen den Osten verlassen. Man kann es auch positiv deuten. 15 Millionen sind geblieben. Was haben sie für eine Perspektive?
Paqué: Die Region lebt – gemessen am BIP pro Kopf – auf einem niedrigeren Niveau als der Westen. Aber der Abstand ist nicht so groß, dass er für sich genommen zu einer Massenabwanderung führt. Allerdings muss man in einer globalisierten Welt weiter an der Verbesserung der Innovationskraft arbeiten. Die Möglichkeiten hierfür sind da. Es gibt gute Universitäten und Fachhochschulen. Die Vernetzung mit der privaten Forschung trägt längst Früchte.
Ist es überhaupt ein erstrebenswertes politisches Ziel, gleiche Lebensverhältnisse zu erlangen?
Paqué: Ja und nein. Zu weit dürfen Ost und West nicht auseinanderklaffen, sonst nimmt die Abwanderung wieder stark zu. Aber absolute Gleichheit muss natürlich auch nicht sein. Wir werden noch lange mit beträchtlichen Unterschieden leben müssen – und können.
Was kann man politisch tun, um die Unterschiede zu verringern?
Paqué: Man wird nicht umhin kommen, die Innovationskraft weiter zu stärken. Die öffentlichen Forschungseinrichtungen müssen ausreichend finanziert sein. Gleichzeitig müssen Bedingungen geschaffen werden, die die Clusterbildung erleichtern. Daneben spielen allerdings auch viele Industrieansiedlungen in den verstreuten Gewerbegebieten kleiner Gemeinden eine wichtige Rolle im Angleichungsprozess. Ich nenne das gerne „Autobahn-Ökonomie“, weil es vor allem um die Gewerbegebiete entlang der großen Verkehrsachsen geht. Die sind schon gut belegt. Und sie wachsen weiter.
Sollte die Unterstützung gießkannenförmig passieren oder einer Leuchtturm-Förderung folgen?
Paqué: Ich halte das Bild, das diese Alternative nahelegt, für schief. Die Gießkanne ist längst keine Gießkanne mehr. Die Wirtschaftsministerien schauen sehr genau, wo sich Schwerpunkte bilden. Allerdings: Wenn sich in der Chemie-Hochburg Bitterfeld ein Autobauer niederlassen will, soll man das dann verhindern? Oder sollte man nicht doch den lokalen Akteuren die Freiräume lassen, sich um Ansiedlungen zu bemühen? Deswegen bin ich gegen die Vorstellung, dass wir regional alles konzentrieren sollten, zumal die Entfernungen nicht groß und die Verkehrsanbindungen häufig schon sehr gut sind.
Wo sollte eine wirksame Clusterpolitik also konkret ansetzen?
Paqué: Ich würde vor allem darauf achten, dass Strukturen im Bereich der Hochschulen und der außeruniversitären Forschungseinrichtungen gehalten bzw. auf- und ausgebaut werden. Dies gilt besonders für die Technik und die Ingenieurwissenschaften. Außerdem sollte es viele Andockmöglichkeiten für Unternehmen geben, die dort in der Nähe angesiedelt sind. Eine vernünftige Branchenstruktur ergibt sich dann von alleine. Es ist kein Zufall, dass viele ostdeutsche Regionen genau die industriellen Schwerpunkte haben, die es dort auch schon vor dem Krieg gab, beispielsweise in Thüringen die Optische Industrie oder in Sachsen die Elektronik. Wir beobachten im Grunde, dass das alte Muster der Vorkriegszeit in völlig modernisierter Form neu entsteht. Die extrem guten Böden in der Magdeburger Börde haben einst dafür gesorgt, dass dort eine Ernährungswirtschaft entstanden ist. Und die gibt es noch immer bzw. sie ist wieder neu erstanden.
Das liegt aber an natürlichen Gegebenheiten, die für Ökonomen weniger interessant sind.
Paqué: Moment. Aus den natürlichen Gegebenheiten entstehen viele weitere Wirtschaftszweige. Durch die Magdeburger Börde ist eine Landmaschinen-Industrie entstanden, aus der später der Maschinenbau wurde. Dann ist dieser in eine tiefe Krise gerutscht, aber inzwischen gibt es dort wieder Weltmarktführer. Das sind genau die merkwürdigen Pfadabhängigkeiten, wie ich sie als neoklassisch inspirierter Ökonom nicht erwartet hätte. In den Theorien wird häufig angenommen, dass Neugründungen mit der Vergangenheit nichts zu tun haben. Zum Teil ist es ja auch so, vor allem bei den vielen kleinen Firmen entlang der Autobahnen. Da konkurrieren letztlich die Standorte entlang der Verkehrsachsen um neue Unternehmen. An diesen beiden Strängen – zum einen den pfadabhängigen Industriezentren, zum anderen der Autobahn-Ökonomie – muss man ansetzen. Ich plädiere nicht für einen zentralen Planer, der überlegt, wie das gemacht werden soll. Ich würde auch nicht bestimmte Regionen oder Technologien völlig ausschließen. Ich finde den Strukturwandel faszinierend, aber er ist viel komplexer als wir Ökonomen ihn am Schreibtisch entwerfen. Ich warne davor, solche Prozesse zu stark zentral zu lenken. Aber das passiert in der Realität ja auch nicht.
Industriepolitik ist das eine, Finanzpolitik ist das andere. Was wird sich dort in den nächsten Jahren tun? Wo bestehen Einsparpotentiale?
Paqué: Da kann ich als ehemaliger Finanzminister Sachsen-Anhalts aus eigener Erfahrung sprechen. Die fünf ostdeutschen Länder haben in der Frühphase der Wiedervereinigung sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen. Nur ein Land hat damals konsequent Personal abgebaut, und das war Sachsen. Das ist der einzige Grund, warum dieses Land in Finanzstatistiken systematisch besser dasteht als der Rest. Wirtschaftlich ist Sachsen nicht wirklich stärker. Es gibt vielmehr zwischen Dresden, Erfurt und Magdeburg einen ziemlich gleichwertigen mitteldeutschen Raum.
Warum legt man denn die drei Länder Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht einfach zusammen?
Paqué: Das ist eine alte Diskussion, die eng mit der Frage zusammenhängt, was wirklich durch Länderfusion eingespart werden kann. Das Einsparpotenzial wird tendenziell überschätzt. Wenn drei Länder zusammengelegt werden, hat man zwei Landtage weniger. Den Kostentreiber Verwaltung wird man damit aber noch nicht los. Der muss – und kann – auch ohne Vereinigung effizienter gestaltet werden.
Das ist aber noch nicht überall passiert. Fast alle Neuen Bundesländer ächzen unter der Schuldenlast…
Paqué: Der Staatskonsum – und das sind hauptsächlich Personalkosten – ist zum Beispiel in Sachsen-Anhalt zwischen 2000 bis 2006 um fast 16 Prozent gesunken. Wir haben in meiner Amtszeit als Finanzminister (Anm. der Red.: 2002-2006) etwa 10.000 Stellen abgebaut, ohne Entlassungen, nur durch Umstrukturierungen. Das war eine meiner Hauptaufgaben als Finanzminister, die mich nicht beliebt gemacht hat. Aber wir haben dadurch den Rückstand bei den laufenden Ausgaben gegenüber Sachsen fast aufgeholt. Nur, der alte Schuldenstand ist da, weil von den Landesregierungen in den ersten Jahren nach der Wende viele Fehler gemacht worden sind. Insgesamt steht der Osten bei den Verwaltungsausgaben pro Kopf inzwischen nicht schlechter da als der Westen. Da gibt’s keinen Überhang mehr. Aber adäquate Einnahmen bekommt der Osten nur über eine starke Wirtschaftskraft.
Häufig wird behauptet, dass der Osten seinen eigenen Weg gehen muss. Wie könnte das Motto für den Standort „Ostdeutschland“ lauten?
Paqué: „Bei uns geht mehr“. Der Osten ist ein sehr flexibler Standort. Ich habe als Politiker viele Unternehmen besucht und die westdeutschen Investoren häufig gefragt, was sie hier gut finden. Die Antwort lautete unisono: die Flexibilität. Im Osten gibt es eine große Kooperationsbereitschaft von Seiten der Betriebsräte. Soweit Gewerkschaften überhaupt stärkeren Einfluss haben, sind sie sehr konstruktiv. Das wirkt auch zurück auf den Westen. Betriebliche Lösungen werden sich auch dort längerfristig durchsetzen. Dies geschieht schon, wie man in der zurückliegenden Rezession gesehen hat, als sogar Lohnkürzungen hingenommen wurden, um Arbeitsplätze zu retten. Das wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen. In Ostdeutschland hat eben der Rheinische Kapitalismus mit seinen Flächentarifverträgen nie Fuß gefasst. Deswegen kann Ostdeutschland ganz selbstbewusst seinen eigenen Weg gehen. Wenn es gelingt, diese Flexibilität mit Innovationskraft zu kombinieren, dann sind wir ein gutes Stück weiter. Dann wird niemand mehr behaupten können, die Deutsche Einheit sei wirtschaftlich gescheitert.
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Eine kürzere Version des Interviews ist in WiSt (03/2010) erschienen.
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Sehr beeindruckendes Interview.
Auch ich als Ossi möchte einen Kommentar dazu abgeben.
Sicher, man kann nicht sagen, dass nicht viel geleistet wurde. Aber das ist auch alles relativ nicht wahr. Wie definiere ich ob eine Leistung gut oder schlecht war ? Mit welcher Objektive wurde gehandelt ?
Leider muss ich wieder einmal konstatieren, dass es eine vollkommene Fehleinschätzung der geschichtlichen ( und ja sicher ist dies nicht objektiv ) Entwicklung auch bei ihnen zu geben scheint. Es ist ja nicht so, dass die Menschen in der „Ostzone“ blöd waren oder nicht wollten. Nein, warum haben wir denn dieses ganze halbe Jahrhundert verschwendet ? Nach dem Krieg ( und leider geht alles was man mit „Wiedervereinigung“ auch nur Ansatzweise verbinden will nun einmal darauf zurück ) war es eben nicht die objektive der Sowjets die Ostzone wirklich wettbewerbsfähig, geschweige denn in den internationalen Warenhandel einzubinden. Sicher, Bestrebungen gab es, aber wenn ich durch den Krieg seelische und moralische Schäden zu mir nehme, wie können sie dann allen ernstes erwarten, dass man dies durch wirtschaftliche Eingliderung einfach wegwischen kann ? Aber das ist eben keine Landespolitik.
Was ist denn faktisch nach der „Wende“ geschehen ? Wir Ossis haben Geld bekommen ( da hat Herr Sinn einmal Recht: wir hätten eine Verbriefung des Landes bekommen sollen ) und die Politiker haben dann asset stripping ( wie die leveraged fund guys in den Staaten ) betrieben und anstatt reale Werte zu schaffen wurden ein Konsumdiktat und irgendwelche bullshit Jobs in unproduktiven Sektoren geschaffen. Die geistige Elite, soweit sie überhaupt noch vorhanden war, wurde dann einfach elimiert. Das ist kein Palaber, ich berichte aus eigenen Erfahrungen.
Letztlich sind wir Ossis für die meisten Wessis doch immer noch die Gescheiterten die von nichts eine Ahnung haben und nur Jammern könnnen. Ja, zum heulen ist mir auch, wenn ich so etwas lesen muss. Und wenn die Zone dann wieder Pleite ist ( was sie übrigens heute mehr ist als damals ), wo sind dann die Entscheidungsträger ? Sicherlich nicht mehr hier.