Die Bürger und politischen Entscheidungsträger der freien, demokratischen Welt sind sich weitgehend einig: Das militärische Aggressionspotential des Putin Regimes soll reduziert werden. Dazu könnten Wirtschaftssanktionen mittel- bis längerfristig einen Beitrag leisten. Die gesamte russische Wirtschaftsaktivität wird durch sie ineffizienter. Die Realeinkommen schrumpfen und damit fehlt zukünftig das Kapital für ausgedehnte Militäraktivitäten des Regimes, selbst wenn dieses weiterhin an der Macht bleibt.
Doch eine alternative, systematische Schwächungsmöglichkeit des Putin Regimes lässt sich die freie, demokratische Welt weitgehend entgehen. Schlimmer noch, eine relevante Kapitalform, nämlich das Humankapital mit russischen Wurzeln, könnte in die Arme des Regimes getrieben werden.
Einfache ökonomische Logik
In manchen westlichen Ländern werden Künstler aus Russland oder russischer Abstammung von Veranstaltungen ausgeladen. Russische Sportler nehmen nicht an friedlichen Wettkämpfen teil. Hochschulen und Universitäten setzen Austauschprogramme sowie die Kooperationen mit russischen Forschern aus. Selbst Boykottaufrufe russischer Lokale kursieren in Deutschland. Nicht nur widersprechen Teile dieser erweiterten „Sanktionen“ dem ansonsten hoch gehaltenen Wert der Anti-Diskriminierung. Aufgrund von vier ökonomischen Mechanismen könnte das russische Regime sogar profitieren.
Erstens ist es für Autokraten und ihrer Entourage zentral, dass die klügsten und talentiertesten Köpfe keine attraktiven Alternativen zum Regime haben. Sobald Hochqualifizierten glaubwürdige Auswanderungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, werden diese auch genutzt. Das gilt insbesondere dann, wenn aufgrund der wirtschaftlichen Situation eine Auswanderung ohnehin attraktiv ist.
Zweites verbessert eine realistische Exit-Alternative die Möglichkeiten, im Inland auf vielfältige Art Kritik zu üben. Zur Not kann man eben auswandern. Wenn also umgekehrt das Ausland für Künstler oder Forscher aufgrund von Diskriminierung oder möglicherweise drohender Sanktionierung unattraktiver wird, gewinnt für sie die „Kollaboration“ mit dem Regime an Bedeutung.
Drittens versetzt es Autokraten immer in Angst, wenn ihre Bürger in Länder des Westens reisen können. Denn der um ein Vielfaches höhere Lebensstand hierzulande, gekoppelt mit Demokratie und Bürgerfreiheiten zeigt allen Reisenden glasklar, wie katastrophal das Regime zu Hause ist. Studierende, die aus Demokratien in ihre autoritär regierten Heimatländer zurückkehren, helfen dort häufig, demokratische Reformen mitanzustoßen. Für die Opposition ist der Westen oft ein Brutkasten – oder wenigstens ein Zufluchtsort.
Viertens profitiert die freie, demokratische Welt ganz direkt, wenn sie die klügsten Köpfe aus autoritär regierten Ländern willkommen heißt. Die Migration begabter Forscher im 20. Jahrhundert in die Vereinigten Staaten haben das Land nicht nur wissenschaftlich und wirtschaftlich vorangebracht, sondern durch technologische Innovationen auch militärisch stark gemacht.
Ein Moralisches Angebot
Statt russische Künstler, Forscher und Studierende einzuschränken, sollte ihr Handlungsspielraum fruchtbar erweitert werden, sodass sie sich einfacher vom Regime lossagen können. Sie sollten mit offenen Händen im Westen empfangen werden. Je glaubwürdiger die Auswanderungsdrohung der Klugen und Talentierten, desto weniger Humankapital kann das Regime für seine Zwecke missbrauchen. Russische Bürger leben leider nicht in einer Demokratie. Trotzdem könnten sie mit ihren Füßen gegen den Kreml stimmen. Statt das Humankapital dem Regime zu lassen, sollte die Intelligenzija aktiv abgeworben werden.
Man möchte es sogar fast wagen, einer sehr speziellen Gruppe potenzieller Auswanderer ein besonderes Angebot machen. So könnte russischen Offizieren die Option zu eröffnet werden, sofort im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Sie zählen zwar nicht direkt zur Intelligenzija aber sind oft gut ausgebildete, fähige, belastbare Arbeitskräfte und vielseitig zivil einsetzbar. Ihre Auswanderung und damit verbundene Waffenniederlegung könnte mit finanziellen Anreizen unterstützt werden, indem jedem aktiven russischen Offizier für ein Jahr monatlich 1.000 Euro als Entwaffnungsgeld bezahlt werden.
Die ukrainische Regierung hatte die Bedeutung von individuellen finanziellen Anreizen für die Waffenniederlegung und zur Schwächung des russischen Regimes früh verstanden, nur sind ihre Angebote aus vielfältigen Gründen für russische Offiziere wenig glaubwürdig. Deutschland wäre hingegen glaubwürdig. Selbst wenn alle russischen Offiziere ein derartiges Angebot annähmen, wären die Kosten mit einmalig rund drei Milliarden für Deutschland nahezu Peanuts. So lägen dies Kosten weit unter den geplanten Verteidigungsausgaben oder realistischen Erwartungen für die Wiederaufbauhilfe der Ukraine. Ein derartiges moralisches Angebot entspräche vermutlich auch dem nebulösen Konzept einer „wertegeleiteten Außenpolitik” Deutschlands. Jedenfalls dürfte es die russische Kriegsmaschinerie sofort und nachhaltig schwächen.
Hinweis: Eine modifizierte und gekürzte Version dieses Beitrags erschien am 19. März 2022 in der Wiener Zeitung.
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Warum machen wir ukrainischen Offizieren nicht gleichzeitig dasselbe Angebot?
Warum leisten wir wehrfähigen Männern aus der Ukraine nicht generell Fluchthilfe und nehmen sie bevorzugt anstelle von Kindern und Frauen auf?
Das erschiene mir jedenfalls logisch, wenn es in erster Linie um Frieden und deutsche Interessen geht, statt um Gerechtigkeit.