Militärhilfe, Wirtschaftssanktionen und Energieboykott
Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“?

„[A]ll too often what the policymaker wants from intellectuals is not ideas but endorsement.“ (Henry Kissinger, 1959)

Der russische Überfall auf die Ukraine ist eine Zeitenwende. Er bringt unermessliches Leid und massenhaften Tod mitten in Europa. Auf beiden Seiten sterben Soldaten, die Zivilbevölkerung leidet. Das russische Militär bombt ukrainische Städte in Schutt und Asche. Diesem barbarischen Krieg, den Russland vom Zaun gebrochen hat, muss Einhalt geboten werden, sofort! Der Westen hat sich entschieden, der Ukraine zu helfen. Ein direktes militärisches Eingreifen hat er allerdings kategorisch ausgeschlossen. Damit bleiben Militärhilfe und (Wirtschafts-)Sanktionen. Beides ist unter und in den westlichen Ländern nicht unumstritten. Einige Länder, wie etwa Deutschland, haben mit der Lieferungen von Waffen lange gezögert. Der Kanzler folgte nur widerwillig dem grünen Wirtschaftsminister. Wirklich erfolgreich scheint aber der Transfer von deutschen Waffen in die Ukraine nicht zu laufen. Aber auch wirtschaftliche Sanktionen stehen in der Kritik. Zwar wurden harte (Wirtschafts-)Sanktionen auf den Weg gebracht. Mit der Härte des Krieges und dem unermesslichen menschlichen Leid wird diskutiert, die Sanktionen zu verschärfen. Ein Energieembargo ist allerdings höchst umstritten. Das gilt nicht nur in der Politik, sondern auch unter Ökonomen.

Militärhilfe

Das politische Handeln des Westens im Ukraine-Krieg hat zwei Schwierigkeiten offenbart: Ein Assignment-Problem und das Tinbergen-Theorem. Die Politik sollte nicht nur die Instrumente einsetzen, die vorgegebene Ziele möglichst effizient und effektiv erreichen (Assignment-Problem). Sie sollte auch bedenken, dass man mit einem Instrument nicht gleichzeitig mehrere Ziele wirksam erreichen kann (Tinbergen-Theorem). Die Zahl der Mittel sollte der Zahl der Ziele entsprechen. Wenn der Westen verhindern will, dass die Ukraine militärisch untergeht und als souveräner Staat von der Landkarte verschwindet, muss er seine Mittel, der Ukraine zu helfen, effizient einsetzen. Das sind nicht (Wirtschafts-)Sanktionen, so hart und umfassend sie auch sein mögen. Es ist schlicht und einfach mehr und bessere militärische Hilfe. Im Krieg muss man mit Waffen kämpfen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass (Wirtschafts-)Sanktionen, wenn sie nur hart genug ausfallen, Russland ökonomisch über kurz oder (eher) lang in die Knie zwingen und militärisch lähmen. Bis sie allerdings wirken, ist die Ukraine längst erledigt. Der ukrainische Staat wäre Geschichte.

Der Westen hat sich entschieden, der Ukraine nicht mit eigenen Truppen zu Hilfe zu kommen. Dafür gibt es zweifellos respektable Gründe. Die Angst vor einer direkten militärischen Konfrontation der NATO mit Russland ist ein Grund, die Gefahr atomarer Verwicklungen der beiden Großmächte der USA und Russland ein anderer. Wenn der Westen diesen Weg nicht gehen, die Ukraine sich aber wirksam verteidigen will, muss die westliche Allianz die kampfbereiten ukrainischen Truppen mit neustem militärischem Material ausstatten. Dabei geht es nicht nur um Helme und alte Bundeswehrbestände an leichten Waffen, auch schweres militärisches Material, wie Artillerie, Kampfpanzer, Kriegsflugzeuge, gehört dazu. Vor allem aber geht es um die westliche Lieferung moderner Waffen. Es ist schwer verständlich, weshalb sich die (alte und neue) Bundesregierung so lange geziert hat, die Ukraine militärisch besser auszustatten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Robert Habeck, der damalige Vorsitzende der (pazifistisch angehauchten) Grünen lange vor dem russischen Überfall für Waffenlieferungen an die Ukraine plädiert hat. Leider ist ihm seine Partei zunächst nicht gefolgt. Es war Wahlkampf in Deutschland und die Ukraine „weit“ weg.

Wirtschaftssanktionen

Die westliche Allianz hat auf den russischen Überfall sanktionspolitisch überraschend reagiert: Einig, schnell und hart. Viele hatten anderes erwartet, wohl auch der Kreml. Die Entscheidungen gehen über das „business as usal“ bei (Wirtschafts-)Sanktionen hinaus. „Üblich“ geworden sind schon seit einiger Zeit „smarte“, die Bevölkerung möglichst „schonende“ Sanktionen, wie spezifische Exportrestriktionen, gezielte Finanzsanktionen und „schwarze“ Listen für Personen und Unternehmen (hier). Der Ausschluss wichtiger russischer Banken von SWIFT, wenn auch nicht aller, vor allem aber die Sanktionen gegen die russische Notenbank, deren Devisenreserven eingefroren wurden, sind neue, innovative Folterwerkzeuge. Die Idee hinter den harten Sanktionen ist einfach. Wirtschaftlich soll Russland in die Knie gezwungen werden. Der ökonomische Schaden soll es dem Kreml schwerer machen, den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Er soll aber auch die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung über den kriegerischen Kurs des Kremls verstärken. Wenn es gut läuft, würde das schneller zu einem Ende des Krieges führen.

Der „Sanktion-Wirtschaft-Krieg-Mechanismus“ hat allerdings gravierende Mängel. Es ist empirisch gut belegt, wirtschaftliche Sanktionen wirken wirtschaftlich. Wenn sie gut gemacht sind, schädigen sie die Sanktionierten stärker als die Sanktionierenden. Internationaler Handel und Kapitalverkehr brechen ein. Das wird auch für die neuen, härteren Sanktionen gegen Russland so sein. Allerdings treten sie nicht sofort ein. Sie brauchen Zeit, um ihre schädlichen ökonomischen Wirkungen zu entfalten. Tatsächlich werden Sanktionen aber nicht eingesetzt, um andere (und sich selbst) ökonomisch zu schädigen. Sie sind ein Ersatz für Krieg. Mit Sanktionen soll das politische Verhalten der anderen verändert werden. Im Ukraine-Konflikt, soll der russische Aggressor dazu bewegt werden, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Die Erfahrungen zeigen allerdings, Sanktionen haben kaum einen Einfluss darauf, Kriege (vorzeitig) zu beenden. Im Übrigen gilt auch für Sanktionen das Gesetz abnehmender Grenzerträge. Und selbst wenn sie spürbaren Einfluss hätten, sie wirken erst mit beträchtlicher Zeitverzögerung. Diese Zeit hat die Ukraine aber nicht. Das ist „Tinbergen pur“. Wer mit wirtschaftlichen Sanktionen politische (militärische) Ziele erreichen will, hat keine guten Karten, schon gar nicht auf die Schnelle.

Energieboykott

Es ist nicht nur die genozidale Belagerung von Mariupol, es ist der ganze verbrecherische Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, der immer mehr Menschen im Westen dazu bringt, einen totalen Boykott russischer Energie zu fordern. Die USA haben diesen Schritt schon gemacht. Sie haben den Import von Öl, Kohle und Erdgas aus Russland gestoppt. Allerdings ist der Umfang ihrer bisherigen Importe vernachlässigbar. Aber auch in Europa mehren sich die Stimmen, dem amerikanischen Beispiel zu folgen. Mit einem solchen Boykott würde Russland wirtschaftlich empfindlich getroffen. Fast die Hälfte des russischen Staatshaushaltes wird über Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Erdgas – Fördersteuern, Exportzölle – finanziert. Am lukrativsten ist das Geschäft mit Öl. Die staatlichen Einnahmen daraus sind fast dreimal so groß wie aus Erdgas. Wie sich ein umfassendes westliches Energieembargo auf die russische Wirtschaft konkret auswirkt, ist allerdings weiter spekulativ. Das gilt zumindest für die kriegsentscheidende kurze Frist. Das IfW schätzt, dass längerfristig das russische BIP um über 10 % einbrechen würde (hier).

Eine Reihe von Ökonomen setzt mit der Dauer des verbrecherischen Krieges auf einen totalen Energieboykott. Dabei zeigen sich allerdings – leider – zwei gravierende Schwachstellen. Zum einen: Es ist weiterhin unklar, wie stark ein Energieboykott des Westens die russische Wirtschaft schädigt. Kurzfristig dürfte sich der Schaden in Grenzen halten. Die russische Wirtschaft ist trotz aller Schwächen mehr als ein potemkinsches Dorf. Damit kann aber die Ökonomie das – wie auch immer motivierte – kriegspolitische Verhalten des Kremls zumindest in der kriegsentscheidenden kurzen Frist eher nicht verändern. Zum anderen: Ein Energieboykott ist auch für den Westen nicht kostenlos. Die Abhängigkeit von russischer Energie ist gewaltig, vor allem für Deutschland (hier). Kurzfristig lässt sich daran wenig ändern. Auch wenn einige Studien „handhabbare“ Einbrüche des deutschen BIP suggerieren (hier), sie basieren auf einem sektoralen Status quo nach dem Ukraine-Krieg. Das ist voreilig und brandgefährlich für Beschäftigung, Wohlstand und Verteilung. Das „Geschäftsmodell Deutschland“ (hier) könnte irreparablen Schaden nehmen. Kein Wunder, dass sich die Sozialpartner hierzulande gegen einen totalen Energieboykott wenden.

„Geschäftsmodell Deutschland“

Weder die Finanz- noch die Corona-Krise konnten dem deutschen Geschäftsmodell viel anhaben. Die Ukraine-Krise könnte das ändern. Ein Boykott russischer Energie könnte den industriellen Sektor, die Herzkammer des „Geschäftsmodells Deutschland“, schwer schädigen. Über dem exportorientierten deutschen Modell, das weltweit offene Märkte für Vorleistungen und Endprodukte braucht, schwebt schon länger das Damoklesschwert des strukturellen Wandels. In Deutschland hat sich inter-sektoraler Strukturwandel aufgestaut (hier). Verändertes Ausgabenverhalten von Haushalten und Unternehmen und die internationale Spezialisierung verändern das strukturelle Muster stetig. Der Strukturwandel ist aber nicht nur markt-, er ist auch politikgetrieben. Die heimische Politik zerstört das eigene Geschäftsmodell: Der umverteilende und regulierende Sozialstaat wuchert, die Politik kämpft mit vielen Mitteln gegen die Industrie, nicht nur klimapolitischen. Das deutsche Modell steht auf tönernen Füßen. Schon der „Flügelschlag eines Schmetterlings“ könnte chaotische Zustände im Strukturwandel auslösen (hier). Ein umfassendes Energieembargo gegen Russland könnte der folgenschwere Impuls für Beschäftigung, Wohlstand und Verteilung sein.

Wie sich ein Energieboykott auf die deutsche Wirtschaft auswirkt, hängt davon ab, wie schnell sie russische Energie ersetzen kann. Das scheint bei Kohle und Öl so problematisch nicht zu sein. Anders sieht es bei Erdgas aus. Ein vollständiger Ersatz für russisches Gas ist auf die Schnelle kaum möglich. 4 – 5 Jahre könnte es schon dauern, wenn wir uns beeilen (hier). Das scheint auf den ersten Blick nicht besonders schlimm. Es gibt zwar Sektoren, wie die Grundstoffchemie, die Metallindustrie und Glas & Keramik, die kurzfristig Erdgas nicht ersetzen können. Allerdings machen sie nur etwa 3 % der gesamten Wertschöpfung aus (hier). Die Wirkung auf die gesamte Volkswirtschaft ist aber wesentlich größer. Ihre Produkte stehen am Anfang einer komplexen Wertschöpfungskette. Damit leiden auch andere Wirtschaftszweige stark. Die Gefahr ist groß, dass einige von ihnen für immer von der Bildfläche verschwinden. Der industrielle Sektor, das Herz des „Geschäftsmodell Deutschland“, erlitte einen Infarkt. Der ist besonders gefährlich, weil Deutschland sektoral weit hinter der weltweiten Konkurrenz herhinkt und stärker als andere von billigem russischem Gas abhängt. Der Anpassungsbedarf an den sektoralen Strukturwandel ist auch ohne die Energiekrise schon groß. Ein Energieboykott würde ihn drastisch verschärfen. Er würde nicht über lange Jahre hinweg ablaufen, sondern schockartig in kürzester Zeit stattfinden. Ein tiefer wirtschaftlicher Einbruch mit massenhafter Arbeitslosigkeit, galoppierender Inflation und wachsender Ungleichheit wäre unvermeidlich.

Fazit

Die westliche Hilfe für die Ukraine ist moralische Pflicht. Der Weg über (Wirtschafts-)Sanktionen wird Russland nicht bewegen, seine militärischen Ziele aufzugeben, zumindest nicht in der kurzen Frist, in der es für die Ukraine und ihre Menschen ums Überleben geht. Daran ändern auch schärfere Sanktionen wenig. Mit der Härte der Sanktionen steigen auch die eigenen Kosten. Ein Energieembargo würde Europa hart treffen. Vor allem Deutschland würde stark leiden. Das deutsche Geschäftsmodell würde erheblichen Schaden nehmen. Die Kosten wären enorm. Wer der Ukraine helfen will, den russischen Überfall zu überleben, muss massive militärische Hilfe leisten, sofort! Dabei geht es nicht nur um leichte Waffen. Auch schwere dürfen kein Tabu sein. Vor allem aber müssen sie dem neusten Stand der Wehrtechnik entsprechen. Die USA und Großbritannien haben das begriffen. Ist der russische Vormarsch gestoppt, kommen neue, innovative Sanktionen ins Spiel. Importzölle auf russische Energie sind ein probates Mittel (hier). Energierenten werden abgeschöpft. Der russische Wohlstand erodiert. Es fällt Russland schwerer, einen langwierigen Krieg zu finanzieren. Auch die Kosten der Sanktionen für uns sind geringer. Das gilt vor allem dann, wenn wir mit einem Embargo russischen Öls anfangen. Die Zeit arbeitet gegen den Kreml. Der Westen wird russische Energie substituieren. Russland wird schon mittelfristig großen ökonomischen Schaden nehmen. Es ist aber auch an der Zeit, den energiepolitischen Murks der letzten Jahrzehnte auf den Prüfstand zu stellen. Dabei darf es keine Denkverbote geben, auch nicht über die Atomenergie.

Blog-Beiträge zum Thema:

David Stadelmann (2022): Ein moralisches Angebot an die Intelligenzija

Manuel Frondel und Christoph M. Schmidt (2022): Stopp des Bezugs von russischem Gas birgt erhebliche Risiken

Tim Krieger (2022): Ökonomen als Kriegstreiber?

Joachim Weimann (2022): Rätselhafte Leopoldina

Ingo Pies (2022): Wirtschaftskrieg als moralische Pflicht? Drei ordonomische Einwände

Norbert Berthold (2022): Krieg, Sanktionen und Energie. Verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine oder mehr?

David Stadelmann (2022): Wie Sanktionen ein Regime stärken können

Andreas Freytag (2022): Hilft es der Ukraine, wenn es mit Russlands Wirtschaft bergab geht?

Gunther Schnabl (2022): Finanzmarktwaffen gegen Russland. Hat Wladimir Putin die Folgen unterschätzt?

Norbert Berthold (2022): Russland fordert die NATO heraus. Wie glaubwürdig sind Sanktionsdrohungen?

Norbert Berthold (2022): Die Politik wirtschaftlicher Sanktionen. Ökonomisch kostspielig, politisch ineffizient?

5 Antworten auf „Militärhilfe, Wirtschaftssanktionen und Energieboykott
Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“?

  1. Mir gefällt der Text recht gut, da er die Fragen stellt und beantwortet, die nicht schon überall sonst diskutiert werden.
    Zu Wirtschaftssanktionen fällt mir zusätzlich zu dem ein was der Autor sagt, dass diese vielleicht gar nicht so sehr auf Russland zielen, sondern vielmehr auf China. Sollte China Russland so unterstützen, wie wir die Ukraine unterstützen, wäre das der Beginn eines neuen kalten Krieges und könnte das 21. Jhr bestimmen.
    Zu den Ausführungen zum deutschen Geschäftsmodell möchte ich anmerken, dass das deutsche Exportmodell nicht von der Energie abhängt, sondern davon, dass die Welt nicht in abgeschlossene Handelsblöcke zerfällt. In Bezug auf Energie ist es die energieintensive Wirtschaft, die das möglicherweise nicht überlebt. Was wegen des Umbaus zu Erneuerbaren Energien aber nur früher kommen würde als ohne den Krieg. Passen Elektrostahlwerke und Aluminiumschmelzen zu Solar- und Windparks, die von Batterie-Kraftwerken unterstützt werden? Eher nicht, meine ich. Bei Stahlwerken könnte vielleicht Wasserstoff zur Reduktion des Eisenerzes die Lösung sein (siehe Thyssenkrupp). Bei Zement, Dünger, etc. könnte es ebenfalls energieärmere Produktionsverfahren geben, ansonsten müssten diese Industrien dahin gehen wo Energie mehr als in Deutschland subventioniert wird. Das wäre dann der im Text angesprochenen sektorale Strukturwandel, wenn ihn nicht die Politik versuchen würde aufzuhalten, wie seinerzeit beim Ruhrbergbau in NRW. PS: So würde auch der hohe Exportüberschuß reduziert werden, was bei einer Wiederwahl von Trump in USA hilfreich wäre.

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