Retten die Schweizer ihre Alters- und Hinterlassenenversicherung?

Die finanzielle Lage der gesetzlichen Schweizer Rentenversicherung, der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), verschlechtert sich zunehmend. Das Umlagesystem steht Kopf, die Einnahmen decken zukünftig nicht mehr die Ausgaben. Der Generationenvertrag gerät ins Wanken. Daher ist es dringend Zeit, die Probleme der AHV zu adressieren und die Wirkung der vorgesehenen AHV-Reform hin zu einer nachhaltigen Finanzierung in die Diskussion einzubeziehen.

Hintergrund: Die AHV

Die AHV ist die obligatorische Rentenversicherung in der Schweiz. Sie basiert auf einem Umlagesystem, das bedeutet, die wirtschaftlich aktive Generation finanziert die heutige Rente. Ziel der AHV ist dabei die Existenzsicherung und Vermeidung von Armut. Die Erhaltung des gewohnten Lebensstandards in der Rente soll durch die obligatorische berufliche Vorsorge und durch freiwillige Selbstvorsorge abgesichert werden. In ihrer Zielsetzung unterscheidet sich die AHV damit grundlegend von der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Auch sind in der AHV grundsätzlich alle Personen über 20 Jahren bis zum Renteneintritt pflichtversichert, das betrifft auch Studierende, nicht erwerbstätige Personen und Selbständige.

Die Einnahmen der AHV setzen sich zusammen aus den Beiträgen der Versicherten und dem Bundeszuschuss. Der AHV-Beitrag für abhängige Beschäftigte beträgt 8,7 Prozent des Einkommens und wird paritätisch von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen. Selbständige zahlen einen AHV-Beitrag von 8,1 Prozent des Einkommens, der sich bei Einkommen unter 57 400 Franken gemäß der sinkenden Beitragsskala vermindert. In der Schweiz gibt es keine Bemessungsgrenze. Über den Bundeszuschuss werden 20 Prozent der AHV Ausgaben finanziert. Dieser setzt sich zusammen aus Mehrwertsteuererträgen, Fiskalabgaben für Tabak und Spirituosen sowie aus allgemeinen Bundesmitteln. Die Ausgaben der AHV sind neben Verwaltungskosten, hauptsächlich Rentenleistungen. Die AHV-Renten werden dabei abhängig von der Beitragsdauer und der Höhe des durchschnittlichen Jahreseinkommens berechnet. Bei 44 Beitragsjahren beträgt die Minimalrente  seit dem 1. Januar 2021 1.195 Franken pro Monat bzw. die Maximalrente 2.390 Franken. Gemessen am durchschnittlichen Jahreseinkommen von rund 78.000 Franken ersetzt die AHV damit zwischen 18 und 37 Prozent und ist mithin für die Mehrheit eher als eine Art der Grundsicherung im Alter anzusehen. Die Renten werden alle zwei Jahre partiell an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst, die Rentenentwicklung folgt also nicht vollständig der Lohnentwicklung.[1]

AHV-Problem 1: Der demografische Wandel trifft das Schweizer Rentensystem

Wie ihre europäischen Nachbarn, steht die Schweiz in der Rentenversicherung einem demografisches Problem gegenüber: Kamen 2019 auf einen Rentner noch 3,2 Beitragszahler, sinkt dieser Wert voraussichtlich bis 2050 auf 2,1. Das liegt unter anderem daran, dass die geburtenstärken Jahrgänge nach 1960 in den nächsten Jahren das Rentenalter erreichen, die Rente auf Grund steigender Lebenserwartungen länger gezahlt wird und dagegen der Bevölkerungsanteil der Personen im Erwerbsalter stagniert.[2] Für die umlagefinanzierte AHV, ist diese Dreiklang toxisch. Dabei steht die AHV, im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, eigentlich noch gut da. Laut Projektion erzielt sie im Jahr 2022 im Umlageergebnis einen Überschuss. Jedoch sollen bereits 2023 die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Dank des Kapitalertrags wird die AHV zwar bis 2025 ihre Ausgaben zwar decken können, dann weist sie aber dauerhaft ein steigendes Defizit auf.[3] Schnelles Handeln ist daher dringend geboten, wenn die Einnahmen weiterhin die Renten finanzieren sollen. Wird das Rentensystem unverändert fortgeführt, weist die AHV nach Berechnungen des Forschungszentrums Generationenverträge (FZG) langfristig eine implizite Verschuldung von 125,7 Prozent des BIP im Jahr 2019 aus. Mit anderen Worten der Barwert der gesamten AHV-Leistungsversprechen übersteigt den Barwert der zukünftigen Einnahmen um über 900 Milliarden Franken. Eine nachhaltige Finanzierung sieht anders aus.

AHV-Problem 2: Leistungen übersteigen Beiträge

Neben dem demografischen hat die AHV noch ein weiteres Problem: Das System ist in sich nicht nachhaltig. So verspricht die derzeitige Gesetzgebung in der Schweiz jedem heute lebenden Altersjahrgang im restlichen Lebensverlauf mehr Leistungen aus der AHV, als sie ihm im Gegenzug an Zahlungsverpflichtungen auferlegt. Die Generationenkonten in Abbildung 1 zeigen auf, wie viel jede heute lebende Generation durchschnittlich pro Kopf im restlichen Leben noch einbezahlen wird, abzüglich der Leistung, die sie im Alter erhalten. Die negativen Nettozahlungen zeigen, dass alle Altersjahrgänge mehr Leistungen aus der AHV in Anspruch nehmen werden, als sie in ihrer verbleibenden Lebensdauer noch an Beiträgen einzahlen, selbst Personen, die gerade geboren wurden.

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Lösungsansatz: AHV-21 stärkt die langfristige Finanzierung

Um das langfristige finanzielle Gleichgewicht der AHV zu sichern und das AHV-Leistungsniveau zu erhalten, hat das Schweizer Parlament am 21. Dezember 2021 einen Gesetzesentwurf zur Reform der AHV angenommen. Die sogenannte AHV 21 beinhaltet unter anderem die Harmonisierung des gesetzlichen Rentenalters von Frauen und Männer. Nach heutiger Regelung beträgt das gesetzliche Rentenalter der Frauen 64 Jahre, der Männer 65 Jahre. Nun soll das Rentenalter der Frauen schrittweise um jeweils 3 Monate pro Jahr auf das Rentenalter der Männer angehoben werden. Als Entschädigung erhalten die ersten neun betroffenen Jahrgänge Kompensationszahlungen abhängig von ihrem Geburtsjahrgang und Einkommen. Auch soll die Finanzierung der AHV durch eine Mehrwertsteuererhöhung um 0,4 Prozentpunkte gestärkt werden. Die Mehreinnahmen fließen direkt in die AHV. Diese Maßnahmen hätten eine positive Auswirkung auf die langfristige finanzielle Stabilität der AHV. Abbildung 2 zeigt, dass allein die Mehrwertsteuererhöhung, die implizite Verschuldung der AHV von 125,7 Prozent des BIP um 20,3 Prozentpunkte verringert. Die Harmonisierung des Rentenalters verkleinert die Lücke nochmal um 17,0 Prozentpunkte. Zuzüglich der Mehrkosten von 0,9 Prozentpunkten durch die Kompensationszahlungen, würde sich die implizite Verschuldung der AHV somit auf 89,3 Prozent des BIP reduzieren.

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Das Umlageergebnis der AHV würde durch die Reformansätze allerdings nur kurzfristig stabilisiert werden und bereits ab 2027 wieder ein Defizit ausweisen. Somit wäre die AHV 21 ein Schritt auf einem langem Reformweg hin zu einer nachhaltigen Finanzierung.

Finanzierungsfrage: Junge Generation rettet die AHV

Die AHV 21 stärkt die Finanzierung hauptsächlich über die Einnahmenseite. Die Aufteilung der finanziellen Last ist dabei weder generationengerecht noch verteilungspolitische unproblematisch.  Ein Blick auf die Mehrbelastung über die verbleibende Lebensdauer zeigt, dass die zwischen 5- und 45-Jährigen den Hauptteil der finanziellen Last tragen. Dabei trifft die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer, als Anteil am Einkommen, hauptsächlich einkommensschwache Haushalte. Zudem bezahlen junge Personen die Mehrwertsteuer über ihr gesamtes Leben, während ältere Jahrgänge bereits einen Grossteil ihres Lebens ohne diese Zusatzbelastung konsumieren und sparen konnten.

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Umsetzung der AHV 21: Auf das Schweizer Volk kommt es an

Seit 2004 wird versucht die AHV zu reformieren, dabei scheiterten die Vorstöße am Wahlvolk oder am Nationalrat. Auch gegen die AHV 21 wurde das fakultative Referendum ergriffen. Innerhalb von der 100 Tagesfrist wurde die notwendige Zulassungsschwelle von 50 000 Unterschriften überschritten, somit wird der Gesetzesentwurf dem Schweizer Volk zur Abstimmung vorgelegt. Auch über die Erhöhung der Mehrwertsteuer muss abgestimmt werden, da sie Teil der Bundesverfassung ist und somit ein obligatorisches Referendum. Beide Referenden müssen angenommen werden, damit die Reform in Kraft tritt. Die Abstimmung findet voraussichtlich am 25. September 2022 statt. Das Schweizer Volk muss sich an diesem Tag entscheiden, ob sie den Schritt hin zu einer langfristigen Stabilisierung der Finanzierung ihrer Alterssicherung unterstützen.

Ein System, dass finanziell nicht nachhaltig ist, muss früher oder später reformiert werden. In der hitzigen Debatte über die Harmonisierung des Rentenalters, darf nicht untergehen, dass zum einen Kompensationszahlungen an die betroffenen Frauen gezahlt werden und zum anderen die junge Generation die finanziellen Lasten trägt. Die AHV 21 würde zu einer nachhaltigen Finanzierung und damit zur Rettung der AHV beitragen. Zukünftige Reformansätze müssen jedoch eine intergenerative faire Lastenverteilung anvisieren, auch wenn der Medianwähler in der Schweiz über 60 Jahre alt ist und damit Abstimmungen zugunsten der älteren Bevölkerungsgruppe wahrscheinlich werden.

Hinweis: Eine ausführlichere Diskussion über die Auswirkungen der AHV 21 ist in der UBS Studie AHV-Generationenbilanz zu finden.

Literatur

Bundesamt für Sozialversicherungen (2022): Finanzperspektiven der AHV bis 2032. Abrufbar unter https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/ahv/finanzen-ahv.html.

Bundesamts für Statistik (2022): Bevölkerungsdaten im Zeitvergleich, 1950 -2020. Abrufbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung.assetdetail.18845585.html.

Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (2022).

Eidgenössische Finanzverwaltung (2022): Detaillierte Daten Sektor Staat. Abrufbar unter https://www.efv.admin.ch/efv/de/home/themen/finanzstatistik/daten.html.

UBS (2022): Zukunft der AHV: Eine Frage der Perspektive. Abrufbar unter https://www.ubs.com/ch/de/private/pension/information/studies.html.

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[1] Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (2022).

[2] Bundesamts für Statistik (2022).

[3] Bundesamt für Sozialversicherungen (2022).

Bernd Raffelhüschen und Karen Rudolph
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