Am 24. Februar 2022 begann Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seitdem wird darüber medial berichtet und moralisch geurteilt. Im Folgenden wird untersucht, welche Wahrnehmungsmuster die politische Diskussion im deutschen Sprachraum dominieren – und welche Probleme damit verbunden sein könnten. Die Analyse erfolgt aus der Perspektive des ordonomischen Forschungsprogramms.[1]
Ordonomische Diagnose: Tradeoff-Denken
Die Ordonomik geht davon aus, dass Konflikte typischerweise den Wahrnehmungsrahmen eines Tradeoff-Denkens aktivieren und dominant werden lassen. Abbildung 1 hilft, sich das vor Augen zu führen.
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An den Achsen sind die Interessen der Ukraine (U) und Russlands (R) abgetragen. Das Tradeoff-Denken entspricht der negativ geneigten Linie. Innerhalb dieses Wahrnehmungsrahmens erscheint die russische Invasion als ein (illegitimer) Versuch, Punkt R anzustreben. Die russische Seite wird als Täter, die ukrainische Seite als Opfer aufgefasst. Dies motiviert dazu, die als Opfer und Täter interpretierten Konfliktparteien im Schema von Gut und Böse einzuordnen und sich mit der Ukraine moralisch zu identifizieren. Damit bekommt die politische Diskussion in Deutschland eine ganz bestimmte Stoßrichtung. Sie wird durch die eingezeichneten Pfeile angedeutet und weist von R nach U: Man möchte den Opfern des Angriffs instinktiv zu Hilfe eilen – sei es, indem man die Ukraine unterstützt, um Russland zu schwächen; sei es, indem man Russland schwächt, um die Ukraine zu unterstützen. Denkt man entlang der Tradeoff-Linie, dann sind beide Optionen bedeutungsidentisch. Die Logik lautet: Win-Lose. Was der Ukraine nützt, schadet Russland; und was Russland schadet, nützt der Ukraine. Und im Umkehrschluss gilt: Was Russland nützt, schadet der Ukraine. Innerhalb dieses Wahrnehmungsrahmens sind all diese Schlussfolgerungen denknotwendig.
Angesichts dieser Ausgangslage sind aus ordonomischer Sicht folgende Tendenzen zu erwarten (und auch tatsächlich zu beobachten):
- die Tendenz, die Frage der kausalen Verursachung des Konflikts mit einer einseitigen Schuldzuweisung an die Täter moralisch zu entscheiden – obwohl an einem Interessenkonflikt, wie man von Ronald Coase[2] gelernt haben könnte, immer beide Interessenten(gruppen) konstitutiv beteiligt sind
- die Tendenz, jede Erörterung einer kausalen Mit-Verursachung des Konflikts durch die Opfer moralisch zu tabuisieren, nach dem Motto: Don’t blame the victims!
- die Tendenz, deutsch-russische Kooperationsbeziehungen als deutsche Mit-Täterschaft moralisch zu verurteilen – und deshalb zu fordern, diese Art von Komplizenschaft mit dem russischen Angriffskrieg möglichst schnell und möglichst radikal zu beenden
- und ferner die Tendenz, als moralisch unstatthaft (als unsolidarisch mit der Ukraine oder als Nestbeschmutzung des Westens) jede Erörterung abzulehnen, ob eigene Aktivitäten – etwa in Form westlich-ukrainischer Kooperationsbekundungen – einen kausalen Beitrag geleistet haben könnten, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu verschärfen
Ordonomische Therapie: Orthogonale Positionierung
Inspiriert durch die Arbeiten von Thomas C. Schelling[3] geht die Ordonomik davon aus, dass nicht einmal ein Krieg – als besonders scharfe Form eines Interessenkonflikts – als Nullsummenspiel aufzufassen ist, in dem die eine Seite gewinnt, was die andere Seite verliert. Vielmehr ist es so, dass durch Kriegshandlungen beide Seiten verlieren – und durch Beendigung der Kriegshandlungen beide Seiten gewinnen können: Der Krieg ist ein Negativsummenspiel, die Beendigung des Krieges ein Positivsummenspiel. Abbildung 2 hilft, sich dies vor Augen zu führen.
- Solange Krieg herrscht, versuchen die Kriegsparteien, sich wechselseitig zu schädigen. Folglich bewegt man sich in Wirklichkeit nicht entlang der Tradeoff-Linie, sondern stattdessen entlang der Linie, deren Pfeil auf die Lose-Lose-Konstellation (LL) zeigt. Beiden Kriegsparteien geht es schlechter.
- Wenn Krieg durch Frieden abgelöst wird, bewegt man sich in Wirklichkeit wiederum nicht entlang der Tradeoff-Linie, sondern stattdessen in Richtung des Pfeils, der auf die Win-Win-Konstellation (WW) zeigt. Beiden Kriegsparteien geht es besser.
Vor diesem Hintergrund kritisiert der ordonomische Ansatz das Tradeoff-Denken als irreführend. Es verfehlt die relevanten Alternativen und trübt so den Blick dafür, dass jede Kriegssituation – im Besonderen und jede Konfliktsituation im Allgemeinen – niemals nur durch einen reinen Interessenkonflikt gekennzeichnet ist, sondern immer auch durch gemeinsame Interessen, die freilich oft nur latent im Hintergrund stehen und erst durch institutionelle Arrangements und deren kooperationsfördernde Anreizwirkung in den Vordergrund treten können.
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Zur Kritik des Tradeoff-Denkens verwendet der ordonomische Ansatz den Begriff einer „orthogonalen Positionierung“. Mit diesem terminus technicus wird ein grundlegender Perspektivwechsel bezeichnet, ein Wechsel der Blickrichtung um 90° – weg von der Win-Lose-Dimension zwischen R und U, hin zur Win-Win-Dimension von LL zu WW; weg vom Wahrnehmungsmuster des Nullsummenspiels, hin zum Wahrnehmungsmuster des Negativsummenspiels und von dort ausgehend zum Wahrnehmungsmuster eines möglichen Positivsummenspiels.
Mögliche Missverständnisse
Mit dem Hinweis auf eine orthogonale Positionierung will die Ordonomik dazu beitragen, ein Verhältnis antagonistischer Kooperation (hier: zwischen Kriegsparteien) nicht primär vom Antagonismus her, sondern primär von den Kooperationsmöglichkeiten her zu denken – und entsprechend zu gestalten.
Aus der Literatur ist bekannt, dass wissenschaftliche Beiträge zu grundlegenden Perspektivwechseln leicht missverstanden werden können und dann stark normative Abwehrreaktionen hervorrufen. So schreibt beispielsweise der an einer wertfreien „Pure Sociology“ arbeitende Donald Black über seinen Ansatz und die Rezeption seines Ansatzes:
„My work is shocking not because it is politically incorrect, but because it is epistemologically incorrect. It violates conventional conceptions of social reality … It therefore shocks – epistemologically shocks – many on whom it is inflicted. If I disturb your universe, I may be worthy of contempt. I may appear to be your favorite political enemy, a conservative if you are radical, a radical if you are conservative.“[4]
Orthogonale Positionierungen können auf ähnliche Widerstände stoßen. Das liegt daran, dass das Tradeoff-Denken in seinen radikalen Varianten im Freund-Feind-Schema operiert und deshalb jede Kritik als Abweichung von der eigenen Position verortet und normativ abwehrt, nach dem Schema: Nicht-Freund = Feind.
Damit wird folgende Selbstimmunisierung gegen epistemische Schockwirkungen möglich: Das Tradeoff-Denken kann so verfestigt sein, dass jede Position, die den wahrgenommenen Feind nicht schlechter stellen, sondern besser stellen will, fälschlicherweise (durch konsistente Anwendung des Win-Lose-Wahrnehmungsrahmens) mit einer Feind-Position identifiziert wird, die das eigene Lager zu schwächen beabsichtigt. Wer im Tradeoff-Denken gefangen ist, bewegt sich geistig nur im Entweder-Oder, nicht im Sowohl-Als-Auch. Damit verkürzt sich der Wahrnehmungs- und Denkhorizont auf die Formel: Wer nicht der Feind meines Feindes ist, kann nicht mein Freund sein.
Ordonomische Politik-Beratung
Was folgt aus all dem für eine ordonomische Politik-Beratung? Zwei Punkte seien kurz angeführt. Der erste betrifft die Form, der zweite den Inhalt politischer Entscheidungen, wie Deutschland im – oder zum – Ukraine-Krieg Stellung beziehen sollte.
Erster Punkt: Deutschland ist eine repräsentative Demokratie, in der gewählte Politiker Verantwortung tragen. Da ist es nicht gut, wenn faktisch in Talkshows darüber entschieden wird, wer das Amt des Gesundheitsministers ausüben soll. Noch schlimmer wäre es, würde in Talkshows darüber entschieden, ob – und falls ja: wann und wie viel – schweres Gerät von Deutschland an die Ukraine geliefert wird. Ebenso schlimm wäre es, würde in Talkshows darüber entschieden, ob wir die Gasimporte aus Russland kappen. Solche Entscheidungen sind weitestgehend irreversibel und haben entsprechende Langzeitfolgen. Insofern verlangen sie gründliches Nachdenken unter sorgfältiger Abwägung von Für und Wider. Hier sind tragfähige Kosten-Nutzen-Kalkulationen gefragt. Deshalb müssen solche Entscheidungen von den gewählten Politikern getroffen und verantwortet werden. Nur sie können die unterschiedlichen, z.T. widersprüchlichen Expertisen einholen, bewerten und integrativ zusammenführen. Ein Laienpublikum kann das nicht, auch wenn die Gastgeber und Gäste von Talkshows einen anderen Eindruck zu erwecken bemüht sind.
Zweiter Punkt: Worin besteht unser aller Bürgerpflicht, wenn nicht darin, die politisch schwierigen Entscheidungen selbst zu treffen, sondern sie stattdessen von gewählten Mandatsträgern treffen zu lassen? In einer repräsentativen Demokratie lautet die Antwort: Die Bürgerpflicht besteht darin, die politischen Entscheidungsträger durch öffentliche Diskussion unter Argumentationsdruck zu setzen. Hierfür muss man die diskursiven Standards hoch halten. Und dazu kann jeder konstruktiv beitragen: indem man auf respektvolle Umgangsformen achtet, Intoleranz gegenüber Andersdenkenden vermeidet und nicht nur selbst kritische Fragen stellt, sondern auch den kritischen Fragen anderer verständnisbereit – und verständigungsbereit – zuhört.
Darüber hinaus würde es aus ordonomischer Sicht helfen, politische Vorschläge zur Einführung von Wirtschaftssanktionen darauf hin zu überprüfen,
- ob sie darauf abzielen, dass Russland wirtschaftlich in die Knie gezwungen werden soll,
- oder ob sie stattdessen darauf abzielen, dass Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine möglichst schnell durch Friedensverhandlungen im beiderseitigen Interesse beendet.
Aus ordonomischer Sicht kommt es hier nicht primär auf die Stärke der Dosierung, sondern vor allem auf die strategische Stoßrichtung an, mit der Wirtschaftssanktionen ins Werk gesetzt werden: ob man sie als Kriegsinstrument oder als Friedensinstrument einsetzt. Graphisch interpretiert geht es darum, ob man in Abbildung 2 den Punkt U oder den Punkt WW anstrebt. Vorschläge der ersten Kategorie sind im Win-Lose-Paradigma angesetzt. Hier wird im Tradeoff gedacht. Vorschläge der zweiten Kategorie sind im Win-Win-Paradigma angesetzt. Dies setzt eine orthogonale Positionierung voraus.
Um es konkret zu machen: Das Tradeoff-Denken tendiert dazu, den militärischen Konflikt anzuheizen und Russland durch einen unkonditionierten Wirtschaftskrieg dauerhaft schwächen zu wollen. Die Alternative dazu besteht darin, Wirtschaftssanktionen konditioniert einzusetzen, um eine Verhandlungsmasse zu schaffen, die die Friedensbedingungen zugunsten der Ukraine verbessert. Hier kommt es darauf an, durch den vorübergehenden Entzug wirtschaftlicher Vorteilsgewährung – also durch die Inaussichtstellung einer an klare Bedingungen geknüpften Wiederaufnahme wirtschaftlicher Vorteilsgewährung – die russische Regierung zu militärischen und politischen Zugeständnissen zu bewegen, die der Ukraine zugutekommen, so dass wir alle gemeinsam auf einen Zustand hinarbeiten, in dem sich nicht das Recht des Stärkeren durchsetzt, sondern die Stärke des Rechts.
Literatur
Black, Donald (1995): The Epistemology of Pure Sociology, in: Law & Social Inquiry 20(3), S. 829-870.
Coase, Ronald H. (1960): The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics, Vol. 3, S. 1-44.
Haidt, Jonathan (2012): The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion, London u. a. O.: Penguin Books.
Pies, Ingo (2022a): Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).
Pies, Ingo (2022b): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik. Ordonomik im Dialog, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).
Pies, Ingo (2022c): Disruptive Belohnung – Ein (wirtschafts-)ethischer Denkanstoß zur Befriedung des Ukraine-Kriegs, Diskussionspapier Nr. 2022-08 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Internet unter: https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=61613&elem=3418520 (letzter Zugriff 14.4.2022).
Pies, Ingo (2022d): Moral versus Ethik: Nachdenkliches zum Ukraine-Krieg, Diskussionspapier Nr. 2022-10 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Internet unter: https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=61615&elem=3416453 (letzter Zugriff 14.4.2022).
Pies, Ingo (2022e): Angst ist kein guter Ratgeber – Wut auch nicht: Ordonomische Reflexionen zum Ukraine-Krieg, Diskussionspapier Nr. 2022-12 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Internet unter: https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=61507&elem=3417182 (letzter Zugriff 14.4.2022).
Pies, Ingo (2022f): Moralische Verpflichtung zum Wirtschaftskrieg?, in: ifo Schnelldienst, Sonderausgabe April 2022, 75. Jahrgang, S. 19-22.
Pies, Ingo (2022g): Wut ist kein guter Ratgeber, in: FAZ Nr. 85 vom 11. April 2022, S. 16.
Pies, Ingo (2022h): Wirtschaftsethik in Zeiten des Krieges – Ordonomische Reflexionen zur Theorie und Praxis der Konfliktlösung, Diskussionspapier Nr. 2022-13 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Internet unter: https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=61810&elem=3422245 (letzter Zugriff 24.4.2022).
Schelling, Thomas C. (1960, 1980): The Strategy of Conflict, Cambridge, Mass. and London: Harvard University Press.
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[1] Vgl. hierzu die Buchpublikationen Pies (2022a) und (2022b). Dieser Artikel setzt die Reihe ordonomischer Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg fort. Zur chronologischen Reihenfolge vgl. Pies (2022c), (2022d), (2022e), (2022f), (2022g) und (2022h).
[2] Vgl. Coase (1960). Zugrunde liegt die Überlegung, dass Konflikte letztlich auf konkurrierende Ansprüche zurückzuführen sind, also unter Knappheitsbedingungen kausal dadurch verursacht werden, dass es unmöglich ist, die Wunschvorstellungen zur Realisierung je eigener Interessen allesamt gleichzeitig und gleichrangig zu befriedigen. Im konkreten Fall kollidiert das Sicherheitsbedürfnis Russlands mit dem Sicherheitsbedürfnis der Ukraine. Freilich lässt diese Beschreibung symmetrischer Kausalität durchaus asymmetrische Bewertungen zu. So werden Anhänger der russischen Position dem Sicherheitsbedürfnis Russlands einen normativen Vorrang einräumen – und analog Anhänger der ukrainischen Position für das Sicherheitsbedürfnis der Ukraine eine moralische Vorzugswürdigkeit reklamieren. Vor diesem Hintergrund können Beobachter, die sich mit den Opfern identifizieren und deshalb gegen die Täter vorgehen wollen, bewusst oder unbewusst der intellektuellen Versuchung erliegen, zur Aufrechterhaltung ihrer asymmetrischen Bewertung, für die es in der Tat gute Gründe geben mag, vor dem Faktum symmetrischer Kausalität die Augen zu verschließen. Oder um es mit Jonathan Haidt (2012; S. 217) zu sagen: „Morality Binds and Blinds“.
[3] Vgl. Schelling (1960, 1980).
[4] Black (1995; S. 867).
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Blog-Beiträge zum Thema:
Ingo Pies (2022): Angst ist kein guter Ratgeber – Wut auch nicht. Ordonomische Reflexionen zum Ukraine-Krieg
Ingo Pies (2022): Wirtschaftskrieg als moralische Pflicht? Drei ordonomische Einwände
Ingo Pies (2022): Disruptive Belohnung. Ein (wirtschafts-)ethischer Denkanstoß zur Befriedung des Ukraine-Kriegs
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