Gastbeitrag
Wirtschaftskrieg als moralische Pflicht?
Drei ordonomische Einwände

Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Da fällt es nicht schwer, Täter und Opfer auszumachen. Den Opfern gilt unser Mitleid, den Tätern unser Zorn. Diese Emotionen ziehen Moralurteile nach sich. Wir unterscheiden zwischen Opfern und Tätern nach dem Schema von Gut und Böse. Dies wiederum verstärkt die Emotionen. Das alles ist ethisch (= moraltheoretisch) leicht nachzuvollziehen. Aber ist es auch klug? Oder noch pointierter gefragt: Gibt es vielleicht sogar moralische Bedenken gegen diese Art von Moralzuschreibung und – dies vor allem – gegen die nicht-intendierten, aber gleichwohl absehbaren Folgen dieser Dichotom(an)ie, streng dualistisch zwischen Gut und Böse zu trennen (und sich selbst dabei natürlich auf der Seite des Guten zu verorten)?

Im Hinblick auf diese Fragestellung habe ich vor kurzem aus der Perspektive des ordonomischen Ansatzes zur Wirtschafts- und Unternehmensethik[1] zu bedenken gegeben, dass die derzeit dominante Moralperspektive nicht nur gute, sondern auch schlechte Auswirkungen hat.[2] Zu begrüßen ist, dass die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Europa mit großer Hilfsbereitschaft aufgenommen werden. Nicht zu begrüßen ist, dass der dominante Blickwinkel unser Nachdenken über den strategischen Einsatz von positiven und negativen Sanktionen verzerrt. Dadurch wird übersehen, dass wir auch russische Deserteure begrüßen sollten, anstatt einfach nur Waffen ins Kriegsgebiet zu liefern. Meine Begründung: „Die erste Moralperspektive [der Bestrafung] lässt uns darüber nachdenken, wie wir den Ukrainern helfen können, russische Soldaten umzubringen. Die zweite Moralperspektive [der Belohnung] lässt uns darüber nachdenken, wie wir russische Soldaten davon abbringen können, Ukrainer umzubringen. Die zweite Perspektive hat Vorzüge, gerade auch aus moralischer Sicht. Warum also setzen wir nicht auf disruptive Belohnung – wenigstens als Komplement?“[3]

Nun haben sich einige namhafte Wirtschaftsethiker, die ich auch persönlich sehr schätze, mit einer ganz anders gearteten Intervention zu Wort gemeldet.[4] Sie rufen westliche Unternehmen dazu auf, sämtliche Geschäftsbeziehungen mit Russland sofort abzubrechen, und lassen als Ausnahme zu diesem von ihnen aufgestellten Imperativ nur ganz wenige humanitäre Lieferungen – wie beispielsweise Medikamente – zu. Sie begründen dies mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen und der politischen Rolle, die Unternehmen in der globalisierten Welt unweigerlich spielen (sollten). Im Namen der Wirtschaftsethik rufen die Kollegen die westlichen Unternehmen dazu auf, in einen Wirtschaftskrieg einzutreten, der über die staatlich verordneten Wirtschaftssanktionen weit hinausgeht und auf freiwilliger Grundlage Boykott und Embargo radikal eskaliert.

Zu dieser Intervention möchte ich hier aus ordonomischer Sicht kritisch Stellung nehmen. Ich halte den Imperativ und die ihm zugrunde liegende Argumentation für schlecht begründet. Und dies gleich in dreierlei Hinsicht: Meine Einwände betreffen (1) den moralischen Status der Forderung, Boykott und Embargo ins Extrem zu steigern, (2) die zugrunde liegende Auffassung zur Verantwortung von Unternehmen und schließlich (3) das von meinen Kollegen zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis von Wirtschaftsethik.

Erster Einwand

Die gesamte Argumentation meiner wirtschaftsethischen Kollegen steht und fällt mit der Annahme, dass ein freiwilliger Abbruch aller Geschäftsbeziehungen das aus moralischer Sicht einzig Richtige sei. Sie sind sich dessen auch bewusst. Nicht bewusst hingegen scheint ihnen zu sein, dass sie für diese starke Behauptung die Hintergrundannahme in Anspruch nehmen müssen, dass (härtere) Wirtschaftssanktionen den Krieg (schneller) beenden, so dass Boykott und Embargo quasi proportional zur Verminderung von Leid und Tod beitragen. Diese Hintergrundannahme jedoch ist – um es mit maximaler Zurückhaltung zu formulieren – nicht über jeden Zweifel erhaben, wie folgende Überlegungen zeigen:

  • Die westliche Öffentlichkeit hat der russischen Kriegspropaganda gewissermaßen den Ton abgestellt (das ist gut) und gleichzeitig die ukrainische Gegenpropaganda auf volle Lautstärke gedreht (das ist nicht so gut). Sachliche Kriegsberichterstattung wurde durch Parteinahme und Befindlichkeits-Journalismus ersetzt: durch die regelmäßig ungeprüfte Kolportage ukrainischer Erfolgsmeldungen und durch umfangreiches Videomaterial, das über die Gefühlslage derer Auskunft gibt, die zu Opfern eines grausam geführten Angriffskrieges geworden sind. Der Emotionalisierungsbeitrag ist hoch, der Informationsbeitrag gering. Umgekehrt wäre es besser.
  • Sobald man – entgegen dem medial vermittelten Eindruck – nicht davon ausgeht, dass Russland unmittelbar davorsteht, diesen Angriffskrieg zu verlieren, zeichnen sich zwei Szenarien ab. Das erste besteht darin, dass Russland sich in Verhandlungen mit den von Putin bereits formulierten „Minimal“-Zielen zufrieden gibt, die da lauten: (a) nachträgliche Anerkennung der völkerrechtswidrig annektierten Krim; (b) Abtrennung ostukrainischer Provinzen; (c) dauerhaft verlässliche Neutralisierung der Ukraine. Das zweite Szenario läuft darauf hinaus, dass Putin sich zur Gesichtswahrung im Inland genötigt sieht, die gesamte Ukraine langfristig zu besetzen. Das zweite Szenario bedeutet, dass die Menschen in der Ukraine sehr viel mehr Leid und Tod erfahren. Wie aber ist es um das von meinen Kollegen getroffene Moralurteil – und um dessen Unumstrittenheitsstatus – bestellt, wenn harte Wirtschaftssanktionen das zweite Szenario wahrscheinlicher machen?
  • Russland ist der weltweit größte Weizenexporteur. Die Türkei und arabische Staaten, vor allem aber die nordafrikanischen Länder und hier insbesondere das politisch fragile Ägypten sind auf russische (und ukrainische) Weizenimporte dringend angewiesen. Gretchenfrage: Warum sollte Russland weiterhin Weizen exportieren, wenn es mit den erwirtschafteten Devisen im Westen keine Güter mehr kaufen kann? Reicht es dann aus, wenn westliche Unternehmen, die Russland aus (vermeintlich) moralischen Gründen nicht mehr direkt beliefern, die gewünschten Güter erst nach Nordafrika liefern, von wo aus diese dann den Weg nach Russland finden? Oder verordnen wir im reichen Westen den armen Staaten Nordafrikas die moralische Devise, dass sie um unserer Moralurteile willen hungern sollen?
  • Wie verfahren wir mit einer von Russland besetzten Ukraine? Weiten wir Boykott und Embargo dann auch auf die Opfer dieses Angriffskrieges aus? Nehmen wir zusätzlich zur russischen Bevölkerung in diesem Fall auch die ukrainische (Rest-)Bevölkerung in Geiselhaft für die amtierende Regierung des russischen Staates?
  • Wie gehen wir mit den im Westen lebenden Russen um? In München haben bereits mehrfach Ärzte öffentlich erklärt, nur noch Ukrainer, nicht aber Russen behandeln zu wollen – und diese Erklärungen dann nach einer gewissen Bedenkzeit wieder zurückgenommen. Aber Fakt ist: Russische Kulturveranstaltungen werden abgesagt, russische Bilder aus Museen genommen, russische Filme von Festivals verbannt. Hier lebende Russen werden zu Demutsgesten und Solidaritätserklärungen genötigt, ohne Rücksicht darauf, wie es ihren in Russland lebenden Freunden und Verwandten daraufhin ergehen wird. Ich denke, als Bürger westlicher Gesellschaften müssen wir uns selbstkritisch die Frage vorlegen, ob wir mit einem solchen Spießrutenlaufen Moralimpulse ausleben, die bewährte Rechtsprinzipien gedankenlos einkassieren. Formelhaft zugespitzt: Behandeln wir Menschen als Individuen, oder führen wir hier die – auf kollektiver Identitätszuschreibung basierende – Sippenhaft wieder ein? Folgen wir bewährten rechtsstaatlichen Prozeduren, oder setzen wir Menschenrecht und Menschenwürde bedenkenlos außer Kraft, weil wir guten Gewissens mit Hilfe ‚sozialer‘ Medien den Pranger wiedereinführen und folglich darauf setzen, dass ein Moralurteil ein Gerichtsurteil schon mal erübrigen kann, ohne allzu großen Schaden anzurichten?
  • Wer sich mit der Geschichte von Wirtschaftssanktionen vertraut macht, wird schnell feststellen, dass viele der derzeit öffentlich artikulierten Erwartungen durch die verfügbare empirische Evidenz nicht unterstützt, sondern untergraben werden. Dies gilt insbesondere für die Hoffnungen auf einen induzierten Regimewechsel. Man schaue nur auf Kuba, Nordkorea oder Iran. Das liegt daran, dass Diktaturen mit wirtschaftlichen Misserfolgen anders umgehen (können) als Demokratien.
  • Um es ganz konkret zu machen: Die Bundesrepublik hat mit Robert Habeck einen grünen Wirtschaftsminister, der nicht dafür bekannt ist, ein Freund fossiler Energieträger zu sein. Dieser Minister kommt zu dem Schluss, es derzeit nicht verantworten zu können, die Gasimporte aus Russland von heute auf morgen zu kündigen. Ist es wirklich ernst gemeint, dass deutschen Energieversorgungsunternehmen von ethischer Seite die Verantwortung auferlegt wird, eine solche Kündigung vorzunehmen? Und wenn es ernst gemeint ist: Wird hier den Unternehmen eine politische Rolle zugewiesen, die gegen die Entscheidungsbefugnisse einer demokratisch gewählten Regierung ins Spiel gebracht wird? Und wenn das so ist: Ist dies wirklich klug zu Ende gedacht?

Zwischenfazit: Was ist von der Aussage meiner wirtschaftsethischen Kollegen zu halten, Unternehmen seien moralisch verpflichtet, die staatlich ergriffenen Wirtschaftssanktionen auf freiwilliger Basis durch Boykott und Embargo eskalieren zu lassen? – Meiner Einschätzung nach haben wir es hier mit einem Moralurteil zu tun, von dem nicht klar absehbar ist, ob es wirklich dazu beiträgt, Leid und Tod unschuldiger Menschen zu vermindern. Es könnte sogar sein, dass es die Übel in dieser Welt unabsichtlich vermehrt. Die möglichen Kollateralschäden dürften sogar immens sein. Deshalb frage ich mich (und meine Kollegen sowie das allgemeine Publikum): Beruht die vorgebliche Gewissheit, „das richtige Handeln“ zu kennen und es dann von Unternehmen im obligationistischen Modus moralischer Verpflichtung vehement einzufordern, vielleicht auf einem Mangel an kognitiver Demut und einem Überschuss an ethischer Autosuggestion?

Zweiter Einwand

Meine wirtschaftsethischen Kollegen stützen ihre Argumentation auf den bemerkenswerten Satz: „Friedman war gestern“[5]. Gemeint ist Milton Friedman, der im Jahr 2008 gestorben ist. Aber soll hier wirklich insinuiert werden, dass seine Argumente gleich mit ihm gestorben sind? Und dass deshalb Unternehmen verpflichtet seien, dem gesellschaftlichen Wunsch nachzukommen, „aktiv Maßnahmen zu ergreifen, die den Aggressor Russland wirtschaftlich (und damit sowohl außen- wie innenpolitisch) schwächen“[6]?

Dass Friedman keineswegs passé ist, erkennt man m.E. recht schnell, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er eigentlich nur ein Argument wieder aufgegriffen hat, das sich bereits bei Immanuel Kant findet. Der hatte in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz aus dem Jahr 1784 die Unterscheidung zwischen einem (stark eingeschränkten) privaten und einem (uneingeschränkten) öffentlichen Vernunftgebrauch eingeführt. Der öffentliche Vernunftgebrauch findet in der Arena eines gesellschaftlichen Diskurses statt, wo jeder frei sein sollte, seine (abweichende) Meinung kundzutun. Der private Vernunftgebrauch hingegen betrifft die Pflicht eines Auftragnehmers, seinem Auftraggeber gegenüber vertragstreu zu bleiben. Hier ist der einzelne nicht frei, von seinen Vertragspflichten abzuweichen und nach eigenem Gusto zu handeln. Dafür gab Kant die bemerkenswerte Begründung, dass sonst „die Geschäfte leiden“[7]. Hierbei hatte Kant nicht primär die Geschäfte von Unternehmen im Blick, sondern die Staatsgeschäfte sowie die Geschäfte von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie etwa Kirchengemeinden. Friedman hingegen überträgt dieses ursprünglich Kantsche Argument auf das Verhältnis zwischen Managern und Unternehmenseignern.

Wenn man sich der Mühe unterzieht, Friedmans einschlägige Publikationen mit Sinn und Verstand zu lesen, wird man bei ihm folgende inhaltliche Positionen finden:

  • Friedman teilte nicht die seinerzeit (und z.T. auch heute wieder) populäre Auffassung, die gesellschaftliche Verantwortung von Gewerkschaftsführern bestehe darin, zum legitimen gesellschaftlichen Anliegen einer wirksamen Inflationsbekämpfung mit vermindertem Lohndruck beizutragen, also durch einen Verrat an den Reallohninteressen der Gewerkschaftsmitglieder. Stattdessen setzte Friedman auf systemkonforme Reformoptionen, vor allem auf geldpolitische Maßnahmen wie ein verringertes Geldmengenwachstum.[8]
  • Friedman teilte nicht die seinerzeit (und z.T. auch heute wieder) populäre Auffassung, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmensführern bestehe darin, zum legitimen Anliegen einer wirksamen Bekämpfung gesellschaftlicher Übel wie beispielsweise Umweltverschmutzung mit verminderter Gewinnorientierung beizutragen, also mit einem Verrat an den Vergütungsinteressen der Unternehmenseigentümer, die ihr Vermögen den Managern treuhänderisch anvertraut haben. Stattdessen setzte Friedman auf systemkonforme Reformoptionen, vor allem auf regulierungspolitische Maßnahmen wie etwa verbesserte Eigentumsrechte an Umweltressourcen.[9]
  • Friedman war kein Anhänger von Big Business. Er betrachtete das Gewinninteresse der Unternehmenseigner nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck. Er wollte dieses Gewinninteresse nutzen, um die Unternehmer durch Wettbewerb zu gemeinwohlfördernden Aktivitäten anzureizen. In der Tat vertrat er die Auffassung, dass in einem funktionierenden Marktarrangement die Unternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung am besten durch produktive und innovative Wertschöpfung nachkommen.[10]
  • Schaut man genauer hin, findet man in seinem klassischen New-York-Times-Artikel aus dem Jahr 1970 die folgende Aussage: „[I]t may well be in the long run interest of a corporation that is a major employer in a small community to devote resources to providing amenities to that community or to improving its government. That may make it easier to attract desirable employees, it may reduce the wage bill or lessen losses from pilferage and sabotage or have other worthwhile effects.“[11] Nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach erweist sich Milton Friedman hier als ein Anhänger dessen, was heutzutage als „CSR“ bezeichnet wird, als „Corporate Social Responsibility“ im Kerngeschäft eines Unternehmens.
  • Aus heutiger Sicht kann man optimistischer sein als Friedman, dass Unternehmen in der Gesellschaft nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Rolle konstruktiv ausüben können. Lobbying muss nicht als Rentseeking betrieben werden, es kann auch – als „ethical lobbying“ von „corporate citizens“ – dazu eingesetzt werden, um institutionelle Defizite der Rahmenordnung für Märkte aufzufüllen. Die ordonomischen Stichworte hierzu lauten „Ordnungsverantwortung“[12] und „New Governance“[13].

Zwischenfazit: Selbst wenn man die Meinung vertritt, die ich – aufgrund meines ersten Einwands – ausdrücklich nicht teile, dass die einzig richtige Antwort auf die Frage, wie der Ukrainekrieg möglichst schnell und möglichst human zu beenden ist, darin besteht, dass Unternehmen Boykott und Embargo gegen Russland über das von ihren Heimatstaaten vorgeschriebene Ausmaß hinaus eskalieren, dann haben wir es bei der Argumentation meiner wirtschaftsethischen Kollegen immer noch mit einem eklatanten Non-Sequitur-Fehlschluss zu tun. Zugrunde liegt folgender Denkfehler: Wären Wirtschaftssanktionen wirklich der Königsweg zur Beendigung des Krieges, dann wäre es grob fahrlässig, dies der freiwilligen Entscheidung von im Wettbewerb stehenden Unternehmen zu überlassen.

Wenn, wie die Kollegen behaupten, „die Gesellschaft bereits entschieden“[14] hat, dass sie diesen Weg gehen will, dann spräche alles dafür, diesen Weg für die Unternehmen per Gesetzesanordnung verpflichtend zu machen – und alles dagegen, darauf zu setzen, dass die Unternehmen auf freiwilliger Basis und zudem in kurzer Frist eine geschlossene Front bilden (können), die Russland wirtschaftlich extrem hart sanktioniert. Meine Kollegen wünschen sich eine allumfassende Kartell-Lösung, zu der sie die Unternehmen sogar ethisch verpflichten wollen – und verkennen dabei die auch heute noch aktuelle Einsicht Milton Friedmans, dass moderne Gesellschaften mit einer wettbewerblich verfassten Marktwirtschaft die Unternehmen einer Situationslogik systemischer Leistungsanreize unterwerfen, die genau dies vereitelt. Deshalb lautet mein zweiter Einwand, auf den Kern reduziert: ultra posse nemo obligatur – Sollen setzt Können voraus.

Dritter Einwand

Meine wirtschaftsethischen Kollegen haben in einer ganz bestimmten Situation auf eine ganz bestimmte Art und Weise öffentlich Stellung bezogen, die darauf schließen lässt, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, wie die Aufgabenstellung der Wirtschaftsethik und damit auch ihre gesellschaftliche Funktion zu bestimmen ist.

Ich sehe den Sachverhalt so: Nach Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die traditionell friedensbewegte Bundesrepublik – in Österreich und der Schweiz mag es sich ähnlich verhalten – in eine ausgesprochen belligerente Stimmung(smache) umgekippt. Archaische Racheinstinkte richten sich nicht nur gegen Putin, der mittlerweile als Inkarnation des Bösen gilt, sondern auch gegen Russland und sogar gegen einzelne Russen, die nach dem Motto „guilt by association“ zum Gegenstand emotional stark empfundener Bestrafungsbedürfnisse geworden sind. Dass das Wort „Putin-Versteher“ zum Schimpfwort werden konnte, spricht ebenso Bände wie die verbreitete Tendenz, sich mit der Schein-Erklärung zufrieden zu geben, Putin einfach für verrückt zu halten. Beides befreit von der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, ob es in der strategischen Interaktion zwischen Ost und West Missverständnisse und Fehler gegeben haben könnte, die man in Zukunft vielleicht lieber vermeiden will. Vor diesem Hintergrund drängen sich mir drei Fragen auf:

  • Ist es Aufgabe von (Wirtschafts-)Ethik, in einer bereits aufheizten Stimmung noch weiter Öl ins Feuer zu gießen?
  • Ist es Aufgabe von (Wirtschafts-)Ethik, in den lautstarken Chor der Moralisten einzustimmen, um sie in ihrer Selbstgewissheit zu bestärken, bereits verlässlich erkannt zu haben, „was das richtige Handeln ist“[15]?
  • Ist es Aufgabe von (Wirtschafts-)Ethik, den Rache- und Bestrafungsgelüsten der „moral majority“ ethische Unbedenklichkeitsbescheinungen auszustellen und sich mit einem wirtschaftskriegerischen Imperativ gleichsam an die Spitze der Bewegung zu stellen?

Zwischenfazit: Ich tendiere dazu, alle drei Fragen mit einem entschiedenen „Nein“ zu beantworten. Meine Gegenauffassung lautet wir folgt: Die Aufgabe von (Wirtschafts-)Ethik besteht nicht darin, sich auf die Seite der Moral(isten) zu schlagen. Sie besteht vielmehr darin, auf Distanz zu ihrem Gegenstand zu gehen und zu fragen, ob es hier vielleicht einen blinden Fleck gibt, der der möglichen Verwirklichung legitimer Anliegen im Wege steht, so dass wir es mit moralischen Selbstwidersprüchen zu tun haben, die es ethisch (= moraltheoretisch) aufzulösen gilt. Moralische Selbstgewissheit ist kein verlässlicher Wahrheitsindikator. Deshalb laufen wir gerade in emotionalisierten Debatten Gefahr, das an sich begrüßenswerte Gerechtigkeitsstreben primär als Selbstgerechtigkeit auszuleben. Dieser Gefahr sollte (Wirtschafts-)Ethik vorbeugend im kritischen Modus der (Selbst-)Aufklärung begegnen.

Fazit

Meine wirtschaftsethischen Kollegen weisen im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Ziel aus, „diesen Krieg baldmöglichst zu beenden und Frieden zu ermöglichen.“[16] Dieses Ziel teile ich ausdrücklich. Der Dissens beginnt erst bei den Mitteln, die geeignet sein sollen, dieses Ziel zu verwirklichen. Hierzu habe ich drei Einwände:

  • Mein erster Einwand macht geltend, dass Wirtschaftssanktionen sehr wohl zur Folge haben könnten, Leid und Tod der ukrainischen Bevölkerung (sowie anderer Menschen) zu verlängern und zu vermehren. Insofern ist das Moralurteil meiner wirtschaftsethischen Kollegen nicht über jeden Zweifel erhaben.
  • Mein zweiter Einwand macht geltend, dass selbst dann, wenn man hinsichtlich meines ersten Einwands anderer Meinung ist, also extrem harte Wirtschaftssanktionen für geeignet hält, das ausgewiesene Ziel zu erreichen, daraus keineswegs folgt, dass man die für nötig gehaltene Eskalation der Wirtschaftssanktionen den Unternehmen als eine Aufgabe zuweist, die sie auf freiwilliger Basis zu erfüllen haben. Wer die Eskalierung von Boykott und Embargo für nötig hält, sollte sie per Gesetz vorschreiben (wollen). Alles andere ist nicht marktkonform und fordert die Unternehmen nicht, sondern überfordert sie (und bringt sie z.T. sogar in Konflikt mit der Entscheidungsverantwortung demokratisch gewählter Regierungen).
  • Mein dritter Einwand betrifft das Selbstverständnis der (Wirtschafts-)Ethik. Sie sollte bereits strittig geführte Debatten nicht zusätzlich emotionalisieren, sondern versachlichen – damit wir als Gesellschaft aus der dynamischen Wechselwirkung von Emotionalisierung, Moralisierung und Dichotomisierung realer Konfliktlagen möglichst frühzeitig aussteigen.

Literatur

Beckmann, Markus und Ingo Pies (2008): Ordnungs-, Steuerungs- und Aufklärungsverantwortung – Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation, in: Heidbrink, Ludger und Alfred Hirsch (Hrsg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt und New York: Campus+, S. 31-67.

Beschorner, Thomas, Guido Palazzo, Peter Seele und Markus Scholz (2022): Raus aus Russland. Jetzt., seit dem 20.3.2022 im Internet unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2022-03/russland-krieg-verantwortung-unternehmen-ukraine.

Friedman, Milton (1962): Capitalism and Freedom, Chicago: University of Chicago Press.

Friedman, Milton (1970, 2007): The Social Responsibility of Business is to Increase its Prof-its, in: Walter Ch. Zimmerli, Markus Holzinger, Klaus Richter (ed.) (2007): Corporate Governance and Corporate Ethics, Berlin: Springer, pp. 173-178.

Kant, Immanuel (1784, 1969): Was ist Aufklärung?, in: Ders.: Gesammelte Werke, Akademie-Ausgabe, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Berlin: De Gruyter, S. 33-42.

Pies, Ingo (2022a): Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).

Pies, Ingo (2022b): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik. Ordonomik im Dialog, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).

Pies, Ingo (2022c): Disruptive Belohnung – Ein (wirtschafts-)ethischer Denkanstoß zur Befriedung des Ukraine-Kriegs, seit dem 15.3.2022 im Internet unter: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=30646

Pies, Ingo and Peter Koslowski (Ed.) (2011): Corporate Citizenship and New Governance. The Political Role of Corporations, Dordrecht: Springer.

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[1] Vgl. hierzu Pies (2022a) und (2022b).

[2] Vgl. Pies (2022c).

[3] So lautet der Schlussabsatz bei Pies (2022c).

[4] Vgl. Beschorner et al. (2022).

[5] Beschorner et al. (2022).

[6] Beschorner et al. (2022).

[7] Kant (1784, 1969; AA VIII, S. 37).

[8] Vgl. Friedman (1962; S. 133 f.).

[9] Vgl. Friedman (1962; S. 133 f.).

[10] Vgl. Friedman (1962; S. 133 f.).

[11] Friedman (1970, 2007; S. 177).

[12] Vgl. Beckmann und Pies (2008).

[13] Vgl. Pies und Koslowski (2011).

[14] Beschorner et al. (2022).

[15] Beschorner et al. (2022).

[16] Beschorner et al. (2022).

4 Antworten auf „Gastbeitrag
Wirtschaftskrieg als moralische Pflicht?
Drei ordonomische Einwände

  1. „Nun haben sich einige namhafte Wirtschaftsethiker, die ich auch persönlich sehr schätze, mit einer ganz anders gearteten Intervention zu Wort gemeldet.“

    Wirtschaftsethiker sind tatsächlich manchmal
    unterschiedlicher Meinung? Wie andere Leute halt auch? Dann gibt es also „die“ Wirtschaftsethik gar nicht, sondern nur sehr viele individuelle Ethiken. Willkommen in der freiheitlich verfassten, pluralistischen Gesellschaft !

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