Gastbeitrag
Preiswucher versus Lohnwucher
Neue Erkenntnisse empirischer Moralforschung und ihre politischen Implikationen

Warum finden es viele Menschen moralisch bedenklich, wenn Unternehmen in einer Krisensituation die Preise erhöhen? Und warum klatschen sie Beifall, wenn in einer eben solchen Krisensituation höhere Löhne durchgesetzt werden? Was treibt diese offenbar widersprüchlichen Moralurteile?

Um diesen Fragen wissenschaftlich nachzugehen, benötigt man ein experimentelles Design positiver Moralforschung. Die zugrunde liegende Idee besteht darin, das Moralurteil als abhängige Variable zu betrachten und dann zu analysieren, welche Faktoren auf diese Variable einwirken. Zu diesem Zweck wurde eine Vignettenstudie durchgeführt (Jauernig et al. 2024). In ihr wird vergleichend untersucht, als wie fair es empfunden wird, wenn ein Maskenhersteller während der Covid-Pandemie einem Krankenhaus Schutzmasken mit einem 30%igen Preisaufschlag verkauft bzw. wenn eine Pflegekraft während der Covid-Pandemie einem Krankenhaus ihre Arbeitsleistung mit einem 30%igen Lohnaufschlag zur Verfügung stellt. Die Studie liefert vier Erkenntnisse.

Erstens konnte das Phänomen einer unterschiedlichen Moralbewertung von Preiswucher und Lohnwucher, für das es bislang nur anekdotische Evidenz gab (Reese und Pies 2021), unter experimentellen Bedingungen reproduziert werden.

Zweitens wurde eine in der Literatur prominent diskutierte Vermutung nicht bestätigt. Aus der empirischen Forschung ist bekannt, dass es eine Tendenz gibt, nach einem erfolgreich durchgeführten Tauschakt den Verkäufer als Gewinner und den Käufer als Verlierer zu betrachten, weil ersterer nun mehr und letzterer weniger Geld zur Verfügung hat. Es konnte gezeigt werden, dass solche Überlegungen in der vorliegenden Studie für die beobachteten Gerechtigkeitsurteile keine Rolle spielen.

Drittens wurde die Hypothese bestätigt, dass die differentielle Zuschreibung von Machtasymmetrien einen starken Einfluss auf die empirisch beobachteten Fairneß-Urteile hat. Gegenüber dem Krankenhaus galt den Probanden nicht der Maskenhersteller, sondern die Pflegekraft als vergleichsweise ohnmächtiger. Dies erklärt, warum die 30%ige Lohnsteigerung eher als ausgleichende Gerechtigkeit wahrgenommen wurde im Vergleich zur 30%igen Preissteigerung. Die Probanden fanden es fair, dass der von ihnen als schwächer wahrgenommene Vertragspartner stark profitiert.

Viertens wurde festgestellt, dass die Gerechtigkeitsurteile davon beeinflusst sind, ob die Probanden den zu bewertenden Tauschakt als Nullsummenspiel auffassen. Je stärker das Nullsummendenken ausgeprägt ist, desto stärker werden Preis- und Lohnsteigerungen als ungerecht empfunden.

Vor diesem Hintergrund stellen sich Folgefragen: Was genau lernt man nun aus diesen vier Erkenntnissen? Wie lassen sie sich in einen größeren Kontext einordnen? Worin besteht ihr theoretischer und praktischer Erkenntniswert?

Zur Beantwortung dieser Fragen seien hier drei Thesen zur Diskussion gestellt.

Erste These: Wir sind geborene Ptolemäer. Deshalb ist die moderne Physik mit ihrer Kopernikanischen Wende für den gesunden Menschenverstand so informativ. Zudem sind wir geborene Kreationisten. Deshalb ist die moderne Biologie, die die Evolutionstheorie als Erklärungsmuster verwendet, für uns so wertvoll. Und schließlich sind wir geborene Intentionalisten. Deshalb hat uns die moderne Ökonomik in der Nachfolge von Adam Smith so viel zu bieten, denn sie diszipliniert den gesunden Menschenverstand mit der systemischen Erkenntnis, dass unsere wettbewerblich verfassten Funktionssysteme darauf basieren, die nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns institutionell zu kanalisieren. Genau so, wie es eine folk physics und eine folk biology gibt, an deren wissenschaftlicher Erforschung und Aufklärung ein allgemeines Interesse besteht, gibt es analog auch folk economics und folk ethics, für die gleiches gilt (Pies 2023). Wir müssen lernen, in welchen Kontexten es angebracht ist, unserer angeborenen Motiv-Heuristik zu misstrauen und stärker auf die Systemkonsequenzen zu achten, zumal diese einer ordnungspolitischen Steuerung zugänglich sind bzw. gemacht werden können.

Zweite These: Die Studie von Jauernig et al. (2024) betreibt ganz in diesem Sinne empirische Moralforschung. Hier gehen nicht Philosophen der Frage nach, wie man Moralurteile begründen kann. Hier gehen Sozialwissenschaftler der Frage nach, wie man Moralurteile erklären kann. Sofern Moralurteile durch sachfremde oder fehlerhafte Erwägungen verzerrt werden – etwa durch eingebildete Machtasymmetrien oder durch ein Nullsummendenken, das für die Win-Win-Potentiale freiwilliger Tauschakte kategorial blind ist –, zeichnet sich hier ein Ansatzpunkt ab für neue Formen der Kritik und Korrektur von Moralurteilen, die die philosophische Theorietradition substanziell bereichern können.

Dritte These: Der moderne Rechtsstaat mutet seinen Bürgern zu, ihre Racheinstinkte und die damit einhergehende Neigung zur Selbstjustiz nicht auszuleben. Das alles ist seit langem bekannt und gut begründet. Aber wenn der Eindruck nicht täuscht, ist das Bewusstsein weniger stark ausgeprägt, dass auch die moderne Marktwirtschaft – mit ebenfalls guten Gründen – darauf angewiesen ist, den Bürgern Zumutungen zu machen. Hierzu gehört, tolerieren zu müssen, dass bestimmte Prozeduren und Ergebnisse den eigenen Gerechtigkeitsintuitionen zu widersprechen scheinen (Hayek 1976/1981). Dieses Toleranzverständnis ist gegenwärtig wenig ausgeprägt. So kommt es zum Moralparadoxon der Moderne (Pies 2022): zu dem denkwürdigen Phänomen, dass die moderne Gesellschaft wie keine Formation vor ihr moralische Anliegen verwirklichen kann und auch tatsächlich verwirklicht – und dass sie dennoch auf moralisch artikulierte Vorbehalte stößt, die so stark und fundamental(istisch) sein können, dass die wettbewerbliche Funktionslogik grundlegend abgelehnt wird.

Statt einer Zusammenfassung soll nun abschließend eine Frage aufgeworfen werden, die von der vorliegenden Studie nicht beantwortet wird, aber doch durch sie nahegelegt wird. Sie lautet: Welche (wirtschafts-)politische Bedeutung sollten wir in unserer demokratischen Gesellschaft moralischen Urteilen zuweisen, wenn wir mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass es sich um Vor- und Fehl-Urteile handelt?

Literatur

Hayek, Friedrich August von (1976/1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, aus dem Amerikanischen übertragen von Martin Suhr, Landsberg am Lech.

Jauernig, Johanna, Matthias Uhl und Ingo Pies (2024): When Goliath sells to David: explaining price gouging perceptions through power, in: Public Choice, Published Online: 29th July 2024 https://doi.org/10.1007/s11127-024-01191-z (letzter Zugriff 6.8.2024).

Pies, Ingo (2022): Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb).

Pies, Ingo (2023): Folk Economics und Folk Ethics als moralisches Problem – Ordonomische Anregungen zur Business Ethics, Diskussionspapier Nr. 2023-12 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=65972&elem=3505978 (letzter Zugriff 6.8.2024).

Reese, Alexander und Ingo Pies (2021): What about price-gouging by employees?, in: Business Ethics Journal Review 9(3), S. 14-20. https://doi.org/10.12747/j1i03 (letzter Zugriff 6.8.2024).

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