Ist das „japanische Niedriginflations- und -zinsmodell“ am Ende?

Die makroökonomische Lage in Japan scheint sich zuzuspitzen. Als die Bank von Japan unter ihrem Präsidenten Haruhiko Kuroda am 20. Dezember 2022 bekannt gab, ihre Zinsobergrenze bei 10jährigen japanischen Staatsanleihen von 0,25% auf 0,5% anzuheben, brachen die Aktienkurse in Tokio ein und der japanische Yen wertete stark auf. Der „Kuroda-Schock“, der in den Augen einiger Beobachter eine Wende in der 30jährigen Niedrig-, Null- und Negativzinspolitik Japans ankündigte, sandte Schockwellen auf die internationalen Finanzmärkte aus. In den USA und Europa fielen die Kurse von Aktien und Anleihen. Kündigt sich in Japan ein Ende der Niedriginflation und der Niedrigzinsen an? Wir haben das japanische Modell untersucht (Mayer und Schnabl 2022) und sehen einige Hinweise dafür.

Der Osten ist uns nicht nur in der Tageszeit, sondern manchmal auch in der Zeitgeschichte voraus. Ein Vorsprung der zweiten Art entstand, als die japanische „Blasenökonomie“ Ende der 1980er Jahre platzte. Eine zu lockere Geldpolitik hatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Blase auf den Aktien- und Immobilienmärkten geschaffen (siehe Abbildung 1). Als die Bank von Japan in Reaktion auf deren Platzen ab den frühen 1990er Jahren die Zinsen immer weiter senkte, entstand ein Umfeld niedriger Inflation verbunden mit magerem Wirtschaftswachstum, das den Westen erst nach beinahe zwei Jahrzehnten infolge der globalen Finanzkrise von 2007/08 erreichte.

Japan war nicht immer ein Land der niedrigen Inflation und Zinsen. Während der Zeit des Bretton-Woods-Wechselkurssystems (1944-1973), in dem der Yen fest an den US-Dollar gekoppelt war, lag die Inflation in Japan – getrieben vom wirtschaftlichen Aufholprozess – über der in den USA. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre stieg die Inflation während des Ölpreisschocks von 1973/74 auf mehr als 25 Prozent. Ab den frühen 1980er Jahren sank im Zuge des weltweiten Rückgangs auch die Inflation in Japan, während in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die japanischen Aktien- und Immobilienpreise explodierten. Nachdem diese Vermögenspreisblase geplatzt war, entstand das japanische Modell niedriger Inflation, niedriger Zinsen und mageren Wachstums. Es hat vier Elemente:

Erstens verhinderten seit den 1990er Jahren die Zinssenkungen der Bank von Japan, umfangreiche Konjunkturprogramme des Staates und ein wachsender Berg an Hilfskrediten an marode Unternehmen nicht nur eine größere Rezession, sondern auch die Anpassung überkommener Strukturen. Die daraus resultierende Zombifizierung vieler japanischer Unternehmen mündete in mageres Wachstum, Reallohnverluste und damit einen geringen Inflationsdruck von der Nachfrageseite her.

Zweitens drückte die niedrige Inflation über einen langen Zeitraum hinweg die Inflationserwartungen aller Wirtschaftsakteure, während scheinbar festzementierte niedrige Zinsen den Unterschied zwischen Geldhortung (in liquide Bankeinlagen) und Geldersparnissen (in Finanzanlagen) verwischten. Die Bank von Japan konnte die steigende Staatsverschuldung durch Geldemission finanzieren, ohne einen Vertrauensverlust ins Geld zu riskieren.

Drittens half der Staat bei der Zementierung der Niedriginflation, indem er die Preise einer zunehmenden Anzahl von Gütern und Dienstleistungen durch Subventionen niedrig hielt. Die Mittel für die Subventionszahlungen konnte er sich durch Neuverschuldung verschaffen, ohne dass die Zinsen stiegen. Denn die Bank von Japan konnte viele Staatsanleihen in Geld verwandeln, das die Menschen zu halten bereit waren. Inzwischen liegt die Staatsverschuldung bei ca. 260% des Bruttoinlandsprodukts, während rund 50% der ausstehenden japanischen Staatsanleihen von der Bank von Japan gehalten werden.

Viertens ging die Finanzierung steigender Staatsverschuldung durch Geldemission und Geldhortung auf Kosten riskanterer Anlagen. Der Aktien- und Immobilienmarkt, die Unternehmensinvestitionen und das Wirtschaftswachstum dümpelten lange Zeit dahin. Auch die „Abenomics“ ab dem Jahr 2013 brachten keine Wende. Trotz beispielloser Geldschwemme erreichten weder Wachstum noch Inflation wieder das Niveau vor dem Platzen der Blase.

Das japanische Modell war nicht nur der Pionier für das globale Niedriginflations- und Niedrigzinsumfeld, sondern wurde von ihm auch bis in die jüngste Vergangenheit gestützt. Mit dem steilen Anstieg der Inflation in den USA und vielen anderen westlichen Industrieländern ist diese Stütze weggebrochen. Im Prinzip könnte der Staat dem jüngsten Anstieg der Inflation auf 3,8% im November 2022 nach bewährter Manier mit der Ausdehnung der Preissubventionen begegnen. Der Preis dafür wären weitere Staatsschulden, die mit noch mehr Geldemission finanziert werden müssten. Dies würde aber nur funktionieren, wenn die Inflationserwartungen der Wirtschaftsakteure weiterhin fest auf niedrigem Niveau verankert und ihre Bereitschaft zur Geldhortung unverbrüchlich bliebe. Die Gewerkschaften müssten sich – beispielsweise aufgrund von Angst vor umfassenden Restrukturierungen der japanischen Zombieunternehmen – trotz höherer Inflation bei den Lohnforderungen weiter zurückhalten. Allerdings zeigen die Umfragen staatlicher Behörden, dass die Mehrheit der Konsumenten auf Jahressicht steigende Preise erwarten. Löhne und Preise scheinen den Erwartungen zu folgen (Abbildung 2).

Folglich rückt eine alternative Entwicklung ins Blickfeld. Höhere Preiserwartungen könnten vor dem Hintergrund von Arbeitsknappheit in der schnell alternden japanischen Gesellschaft nach vielen Jahren der Lohnausterität nun die Lohnforderungen anheizen. Steigender Lohnkostendruck und eine schwache Währung könnten zu einer Spirale höherer Inflation und höherer Inflationserwartungen führen. Bei einer ohnehin bereits sehr hohen Staatsverschuldung könnte der Staat überfordert sein, die Preise mit Subventionen niedrigzuhalten. Müsste die Bank von Japan dem Inflationsanstieg mit deutlichen Zinserhöhungen entgegentreten, würde sie nicht nur selbst erhebliche Verluste auf ihre Wertpapierbestände erleiden, sondern andere Finanzinstitute wie Banken und Versicherungen oder Pensionsfonds könnten in Schieflage geraten. Auch Japans zahlreiche Zombieunternehmen, die bisher dank niedriger Zinsen und Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften überlebt haben, wären in Bedrängnis.

Schlussendlich stünde die Regierung vor der Wahl, höhere Inflation bis zu Hyperinflation zuzulassen, um die üppige Staatsverschuldung und den von ihr erzeugten Geldüberhang in realer Größe gerechnet zu entwerten. Oder sie würde diesen Überhang durch eine Wirtschafts- und Währungsreform eliminieren. Sollte die Regierung dafür nach Vorlagen suchen, bietet die Wirtschaftsgeschichte ein breites Spektrum (Mayer and Schnabl 2021). Insbesondere die deutsche Geschichte nach dem ersten und zweiten Weltkrieg sowie die Abwicklung der „Deutschen Demokratischen Republik“ bei der deutschen Wiedervereinigung bieten reichhaltiges Anschauungsmaterial.

Literatur

Mayer, Thomas / Schnabl, Gunther 2021: How to Escape from the Debt Trap: Lessons from the Past CESifo Working Paper 9078.

Mayer, Thomas / Schnabl, Gunther 2022: Japan’s Low Inflation Conundrum. CESifo Working Paper 9821.

Thomas Mayer und Gunther Schnabl
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