GastbeitragExperimentierrepublik Deutschland

Um die großen langfristigen Herausforderungen zu bewältigen, benötigen wir gesellschaftliche und wirtschaftliche Innovationen von ungekanntem Ausmaß. Sowohl die Wissensproduktion als auch der Wissenstransfer gedeiht besonders in Reallaboren – in Freiräumen für zeitlich, räumlich oder thematisch begrenzte Experimente unter veränderten Regeln.

Reallabore beruhen auf der Grundannahme, dass innovative und kluge Lösungen besser im freien Wettbewerb der Ideen und Regeln als im Ringen um staatliche Förderung entstehen. Unternehmen sollen von Subventionsempfängern, die ihr Handeln stärker auf Förderrichtlinien als auf die Bedürfnisse ihrer Kunden ausrichten, wieder zu selbstbestimmten Treibern des Fortschritts werden. Aus den täglichen Erfahrungen von Millionen Menschen lernen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

In der Transformationsforschung sind Reallabore als Forschungsmethode für komplexe oder dynamische Systeme anerkannt. Bisher kamen Reallabore lediglich in eng gefassten, meist technologischen, Bereichen zur Anwendung, etwa um autonome Fahrzeuge, Telemedizin oder Drohnen zu testen. Um eine Experimentierrepublik zu werden, müssen wir die Grundidee von Reallaboren auch in der Struktur- und Mittelstandsförderung, zur Planungsbeschleunigung und Bürokratieabbau oder im Wettbewerbs-, Beihilfe-, Vergabe-, Sozial-, Straf-, Familien- und Baurecht anwenden und mehr Experimente im Kleinen zulassen, um sie bei Erfolg im Großen auszurollen.

Ein neuer Anlauf für die Experimentierrepublik

Reallabore benötigen Experimentier- oder Öffnungsklauseln in Gesetzen, die zeitlich befristete Ausnahmen und Abweichungen vom Gesetz zulassen. Der europäische Rat hat Experimentierklauseln als Instrument zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter anerkannt (Europäischer Rat, 2020). Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung ein Konzept vorgelegt, für welches ein Konsultationsprozess in diesem Jahr geplant ist (BMWK, 2022). Im Paket für Bürokratieerleichterungen hat die vormalige Bundesregierung eine Prüfpflicht für die Aufnahme von Experimentierklauseln in alle neuen Gesetze vorgeschlagen – umgesetzt wurde dieser Vorschlag nicht.

Ein neuer Anlauf ist notwendig. Um das Instrument der Reallabore auszuweiten, seine Anwendung zu erleichtern und ihre Grundidee in weiteren Bereichen umzusetzen, müssten folgende Punkte umgesetzt werden:

1. Rechtliche Spielräume erweitern

Um die rechtlichen Spielräume für Reallabore zu erweitern, müssen alle Hebel genutzt werden. Alle bestehenden Gesetze – auch solche in technologiefernen Rechtsbereichen – müssen darauf durchforstet werden, ob sie durch neue Experimentierklauseln erweitert werden können. Künftige Gesetze müssen – wo sinnvoll – eine Experimentklausel vorsehen. Neben spezialgesetzlichen Klauseln können sogenannte Generalklauseln effizient viele ähnlich gelagerte Vorhaben abdecken.

Für das autonome Fahren waren beispielsweise aufwändige Einzelgenehmigungen für jedes einzelne Testfahrzeug notwendig, bevor nach vielen Jahren der regulatorische Rahmen für Typenzulassungen geschaffen wurde. Über eine Generalklausel könnten mehrere unterschiedlich konfigurierte Testfahrzeuge temporär zugelassen werden und so den Unternehmen wertvolle Entwicklungszeit ersparen.

Ein weiteres gutes Beispiel ist der Bau. Hier knebeln überbordende Vorschriften die Innovationskraft der Architekten und Baustoffhersteller. Mehr Freiräume könnten zu einer neuen Bauhaus-Bewegung führen, so wie damals die Bauhaus-Gründer vor 100 Jahren mit neuen Ideen Design und Bauen revolutionierten. Dazu schlagen Mitglieder der bayerischen Architektenkammer eine normenreduzierte Gebäudeklasse „E“ vor, welche Spielräume für Experimente einräumt (Bayerische Architektenkammer, 2021).

2.   Evidenzbasierte Folgeregelungen durchsetzen

Experimentierklauseln sollten nicht einfach auslaufen, sondern wissenschaftlich evaluiert werden und in Folgeregelungen münden. Bewähren sich die erprobten Technologien und Regeln, so sollten sie bundes- oder gar EU-weit ausgerollt werden. Gleichzeitig sollten verwandte Technologien und Bereiche identifiziert werden, die von einer ähnlichen regulatorischen Verschlankung profitieren. Die Reallabore werden so Schritt für Schritt in einen modern und effizient regulierten Wirtschaftsraum münden.

3. Pilotstädte und -regionen sowie Gründer- und Mittelstandsschutzzonen einrichten

Experimentelle Regeln, die sich nicht an einer bestimmten Technologie, sondern an einem räumlich abgegrenzten Gebieten festmachen, kommen in Pilotstädten oder Regionen zum Einsatz. Regulatorische Freiräume können in der Strukturförderung steuerliche Erleichterungen und Subventionen ergänzen und den föderalen Regelwettbewerb beleben.

An bestimmte Personen- und Unternehmensgruppen richten sich regulatorische Ausnahmen in Gründer- oder Mittelstandsschutzzonen. Schon heute gelten regulatorische Ausnahmen etwa beim Lieferkettengesetz für Unternehmen unter einer bestimmten Größe. In einer Mittelstandsschutzzone werden soweit vertretbar und notwendig solche Schwellenwerte auf alle Gesetze ausgeweitet.

Eine Gründerschutzzone fährt die bürokratische Last für neue Unternehmen in den ersten zwei Jahren nach Gründung auf ein Minimum zurück. Neben Bürokratie im engeren Sinne kommen hier zum Beispiel auch Ausnahmen von der Arbeitszeit- oder der Arbeitsstättenverordnung in Betracht.

Vorbehalte entkräften statt endlos debattieren

Reallabore und regulatorische Experimentierräume sind ordnungspolitisch saubere Alternativen zu einer auf Zuschüssen setzenden Industriepolitik. Sie sind ebenfalls kluge Instrumente, um politische Widerstände und Vorbehalte gegen Deregulierungen und technologische oder soziale Innovationen zu entkräften. Statt auf abstrakte, theoretische und damit unsichere Vorhersagen zu setzen, liefern Reallabore empirische Belege aus dem härtesten empirischen Test, den wir kennen: Das echte Leben.

Referenzen

Bayerische Architektenkammer, 2021, „Gebäudeklasse ‚E’xperiment“, DAB 01-21. DAB 01 2021.pdf (byak.de) (abgerufen am 5.2.2023).

BMWK, 2022, “Reallabore – Testräume für Innovation und Regulierung”. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation-und-regulierung.html (abgerufen am 10.10.2022).

Rat der Europäischen Union, 2020, “Schlussfolgerungen des Rates zu Reallaboren und Experimentierklauseln als Instrumente für einen innovationsfreundlichen, zukunftssicheren und resilienten Rechtsrahmen zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter.” https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-13026-2020-INIT/de/pdf (abgerufen am 10.10.2022).

Jochen Andritzky und Nils Hesse
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