Des Kaisers grüne Kleider

Es war einmal ein Kaiser, der versprach seinem Volk ein Leben ohne fossile Energie und ohne Atomkraft. Wer fest daran glaube, der dafür nötige grüne Strom werde schon irgendwo herkommen, sei fortschrittlich; wer nicht daran glaube, sei rückschrittlich. Natürlich wollten alle zu den Fortschrittlichen gehören. Doch schließlich gab es ein böses Erwachen – auch für den Kaiser.

Es war einmal ein Kaiser, der hatte sein Volk sehr lieb und wollte ihm ein Leben in Sünde ersparen. Er ließ die Kammerherren aus seinem Hofstaat kommen und befragte sie, was die größte aller Sünden sei. Als größte aller Sünden benannten sie das Ausgasen – damit meinten sie den Ausstoß von CO2. Der Kaiser bekam zunächst einen gehörigen Schrecken, da er selbst ja beim Atmen ständig ausgaste. Wenn ein Leben ohne Sünde ein Leben ohne Atmen bedeute, dann werde ihm angst und bange. Doch die Kammerherren erklärten, nicht das Atmen sei gemeint, sondern das Verbrennen fossiler Rohstoffe.  Wer das nicht erkenne, sei ein Rückschrittler und kein Fortschrittler.

Nachdem dieser Punkt geklärt war, sandte der Kaiser seine Herolde aus und ließ sie im ganzen Reich verkünden, künftig würden alle Heizungen, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, nicht mehr erlaubt seien. Das Volk jubelte ihm zu, weil es sich jetzt endlich von der allergrößten Sünde befreit fühlte und weil niemand als Rückschrittler dastehen wollte.  Außerdem dachten die Leute im Stillen, für eine warme Stube könne ja auch eine E-Heizung mit Strom aus Atomkraft sorgen.

Das kam den Kammerherren zu Ohren und sie wiegten bedenklich ihre Köpfe hin und her. Sie erklärten, die zweitgrößte aller Sünden sei der Atomstrom. Da sie dieses Wissen schon von ihren Urvätern geerbt hatten, hieß der Atomstrom bei ihnen die Erbsünde. Flugs befreite der Kaiser das Volk auch von dieser Sünde, indem er alle Atomkraftwerke im Lande stilllegen ließ. Das Volk jubelte abermals, denn natürlich wollte auch hier jedermann zu den Fortschrittlern und nicht zu den Rückschrittlern zählen. Insgeheim fragte es sich allerdings, wie es denn im kalten Winter warme Füße bekommen solle.

Doch der Kaiser versprach dem Volk kuschelig warme Stuben, wenn es nur bereit wäre, sich die neuen niedlichen Wärmepumpen anzuschaffen. Da das Volk niedliche Sachen über alles liebte, gab es auch diesmal beim Jubel kein Halten. Dann erfuhr das Volk, die Preise für die kleinen niedlichen Wärmepumpen seien gar nicht klein und niedlich. Aber der Kaiser beruhigte es abermals und versprach, dass er die allzu hohen Preise  aus seiner eigenen Schatulle bezahlen werde. Wie allgemein bekannt, war diese Schatulle allerdings längst leer. Und das Volk begann zu ahnen, dass sich der Kaiser das Geld wohl erst von ihm holen werde, bevor er es verteilen könne. Aber alle fuhren fort zu jubeln, weil sie nicht abseits stehen und als Bremsklötze des Fortschritts gelten wollten.

Ob denn die teuren niedlichen Wärmepumpen auch im eisigen Winter die Häuser warm machen, wollte das Volk wissen. Aber natürlich, sprachen die Kammerherren, schaut nur zu unseren nordischen Nachbarn. In Nordland stünden überall Wärmepumpen herum, die sogar bei minus 40 Grad Lufttemperatur hervorragend funktionierten. Dass viele Pumpen dort die Wärme nicht aus der Luft, sondern aus der Erde gewinnen, sagten sie nicht, denn das schien ihnen nicht sonderlich wichtig zu sein. Und wenn es wirklich kalt werde, könnten die niedlichen Wärmepumpen die Häuser ja direkt mit Strom beheizen. Auch das sei in Nordland wohlerprobt.  Hierzulande sei der Strom zwar zehnmal so teuer wie in Nordland, aber auch dafür wolle der Kaiser aus seiner eigenen Schatulle aufkommen. Das Volk war nicht wirklich überzeugt, da es ahnte, mit der großen Schatulle des Kaisers seien wieder einmal die vielen kleinen Schatullen des Volkes gemeint. Aber keiner wollte sich die Blöße geben, vor den anderen als Rückschrittler dazustehen.

Wo all der Strom denn herkommen solle, fragte das Volk. Er werde doch nicht nur für die warmen Stuben, sondern auch für die neuen Autos und für die Industrie der Zukunft gebraucht. Nicht aus fossilen Brennstoffen und erst recht nicht aus Atomkraftwerken, verkündete der Kaiser, sondern aus Grünstoff, der aus Wind und Sonne gemacht werde. Die Kammerherren hätten ihm erklärt, wie man ganz schnell und mit ganz vielen Fachkräften ganz viel Grünstoff herstellen könne. Sie hatten ihm auch erklärt, wie dann der Grünstoff durch ganz viele neue Stromtrassen dorthin gebracht werden könne, wo er gebraucht werde. Genau verstanden hatte der Kaiser diese Erklärungen nicht, aber schließlich wollte auch er nicht als Rückschrittler, sondern als Fortschrittler dastehen.

Selbst für die Zeiten, in denen kein Wind weht und keine Sonne scheint, hatten die Kammerherren eine Lösung parat. Man müsse nur ganz große Stromspeicher bauen, bei denen man zwar noch nicht wisse, wie sie funktionieren sollten, mit denen sich aber gewiss ganz viel Geld verdienen lasse. Wenn es ums Geldverdienen gehe, könne man getrost auf den Erfindungsreichtum der Unternehmer vertrauen, denn zu irgendetwas müsse der Kapitalismus doch auch einmal nütze sein. Das Volk allerdings beobachtete, wie manche Unternehmer sich bereits aufmachten, in andere Länder zu ziehen, wo die Leute weniger Furcht vor der Erbsünde hatten und wo die Strompreise niedrig waren. Und es beobachtete auch, wie die Unternehmer die Arbeitsplätze, die das Volk zwar nicht wirklich mochte, an die es sich aber irgendwie gewöhnt hatte, gleich mitnahmen. Doch noch immer scheute sich das Volk, seine wachsenden Zweifel auszusprechen, um sich vor den anderen keine Blöße zu geben.

Da kam ein blinder Seher, der lange Jahre in einem fernen, finsteren Tann von Honig und Nüssen gelebt hatte, in sein Heimatland zurück. Er war weder beim Volk noch beim Kaiser und seinen Kammerherren sonderlich beliebt – man nannte ihn nur den Oeconomicus. Der hörte sich im Lande um und sprach: „Aber der Kaiser ist ja nackt.“ Das stimmte zwar nicht, denn der Kaiser trug einen wohlgeschnittenen Anzug  aus feinstem Zwirn. Aber das Volk verstand, was Oeconomicus gemeint hatte, und rief nun ebenfalls: „Der Kaiser ist ja nackt.“

Wie es dem Kaiser weiter erging? Das liest man am besten im Original von Hans Christian Andersen nach:

Es schien ihm, sie hätten recht, aber er dachte bei sich: „Nun muss ich die Prozession aushalten.“ Und so hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen seine Schleppe, die gar nicht da war.

Henning Klodt

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