Nach langem politischem Tauziehen liegt nun ein Gesetzentwurf für die Kindergrundsicherung vor. Die Ziele wurden hoch gesteckt. So verspricht das Bundesfamilienministerium, mit der neuen Kindergrundsicherung neue Chancen zu eröffnen und mehr Kinder und Jugendliche aus der Armut zu holen. Die fragmentierte Kinderförderung soll in einer einzigen Leistung gebündelt werden, „die das Leben für Familien leichter macht“. Bürokratische Abläufe sollen verschlankt und mehr Familien als bisher erreicht werden. Damit will die Ampelkoalition 2025, nach der Bürgergeld- und der Wohngeldreform, auch das letzte der drei im Koalitionsvertrag angekündigten sozialpolitischen Großprojekte verwirklichen.
Voraussichtlich muss sich Familienministerin Paus anstatt der anfangs geforderten 12 Milliarden Euro pro Jahr zunächst mit bescheidenen 2,4 Milliarden Euro zufriedengeben. Doch welche Familien profitieren wirklich von dieser Finanzspritze? Kinder aus Bürgergeldhaushalten sollen anstatt des Regelbedarfs und der Leistungen für den Wohnbedarf nun die Kindergrundsicherung erhalten, die sich zusammensetzt aus Kinderzusatzbetrag, Kindergarantiebetrag und Kinderwohnkostenpauschale. Stand heute wären das, abgesehen von den neuen Leistungen für Bildung und Teilhabe, monatlich 120 Euro mehr pro Kind. Klingt gut, doch nur bis man das Kleingedruckte liest. Denn die Kinderwohnkostenpauschale von 120 Euro wird vollständig mit der Wohnkostenunterstützung der Eltern verrechnet. Unter dem Strich gibt es für diese Familien keinen Cent mehr. Dafür müssen sie sich zukünftig nicht nur an das Jobcenter, sondern auch an den neu zu schaffenden Familienservice als zusätzlichen Ansprechpartner wenden, um die neue vorrangige Leistung für ihre Kinder zu beantragen.
Und wie sieht es bei den Haushalten aus, die bislang Wohngeld und zusätzlich den Kinderzuschlag und Kindergeld erhalten haben? Sie dürfen einen Teil der im Kinderzusatzbetrag verankerten Kinderwohnkostenpauschale behalten, so dass der Wohnbedarf der Kinder doppelt bezuschusst wird. Das war auch schon beim Kinderzuschlag gängige Praxis. Da die Anrechnungsregeln, mit denen eigenes Einkommen mit den Förderleistungen verrechnet wird, ebenfalls nahezu unverändert bleiben, ändert sich auch für diese Leistungsbezieher im Durchschnitt fast nichts. Eine Neuerung gibt es jedoch: Während der Kinderzuschlag altersunabhängig gewährt wird, soll der Kinderzusatzbetrag altersabhängig ausgestaltet werden. In der Regel gibt es für jüngere Kinder weniger, für ältere mehr Geld. Nur für alleinerziehende Bürgergeldbezieher springt durchweg mehr heraus. Unterhaltszahlungen sollen nur noch teilweise auf die Kinderförderung angerechnet werden. Dafür hätte es aber keiner neuen Kindergrundsicherung bedurft. Man hätte es auch in dem bestehenden System umsetzen können.
Um die Schnittstellen zu den anderen Grundsicherungsleistungen, Bürgergeld und Wohngeld, kümmert sich der Gesetzentwurf des Familienministeriums augenscheinlich nicht. Die Kindergrundsicherung führt die bestehende Praxis fort, die verschiedenen Förderinstrumente nicht aufeinander abzustimmen. Damit werden die Schwächen des bestehenden Systems fortgeschrieben. Das wird deutlich, wenn man die Leistungen nach Einführung der Kindergrundsicherung der Förderung im Status quo gegenüberstellt. Ein solcher Vergleich offenbart, dass das Familienministerium mit der Kindergrundsicherung nur eine perfekte Mimikry des bestehenden inkonsistenten und intransparenten Grundsicherungssystems plant. Das System bleibt so undurchsichtig wie zuvor. Es schafft keine neuen Anreize für Haushalte mit Kindern, mehr zu arbeiten, denn durch die parallele Verrechnung von Erwerbseinkommen mit dem Wohngeld und der Kindergrundsicherung wird auch zukünftig Familien bis in mittlere Einkommensbereiche hinein bis zu 100 Prozent des Mehrverdiensts abgezogen.
Von dem versprochenen „Systemwechsel” ist in dem Gesetzentwurf nichts zu sehen. Dieser hätte vorausgesetzt, die Kindergrundsicherung in eine größere Reform einzubetten, die auch die beiden anderen Säulen der Grundsicherung, das Wohngeld und das Bürgergeld, umfasst. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium hat in einem Gutachten gezeigt, wie das ohne allzu tiefe Eingriffe in das bestehende System möglich ist (hier). Konkret spricht er sich dafür aus, die Kinderwohnkostenpauschale aus der Kindergrundsicherung herauszulösen und in ein neu gestaltetes Wohngeld zu integrieren. Das Ergebnis wäre eine Grundsicherung aus einem Guss, in dem die Absicherung des alltäglichen Bedarfs der Eltern durch das Bürgergeld erfolgt, die Kindergrundsicherung der Kinderförderung dient und der Wohnbedarf der Familie durch ein ganzheitliches Wohngeld abgesichert ist.
Eine Kindergrundsicherung kann und sollte ein wichtiger Bestandteil der Grundsicherung sein. Allerdings braucht es dafür die Bereitschaft, die in die Jahre gekommenen Strukturen unseres aktuellen Systems der sozialen Sicherung zu überdenken. Diesem Anspruch hält der vorliegende Gesetzentwurf nicht stand.
Hinweis: Der Beitrag erschien als Leitartikel in Heft 12 (2023) der Fachzeitschrift WiSt.
- Gastbeitrag
Die neue Kindergrundsicherung wiederholt alte Fehler - 6. Januar 2024