Kürzlich bin ich bei einer Recherche auf die «Farewell Address to the Nation» von Ronald Reagan gestossen, die er am 11. Januar 1989 gehalten hatte. Was für eine Rede. In Europa wird er notorisch unterschätzt und kaum verstanden, weil er einst als Schauspieler in B-Movies auftrat. In seinem Heimatland hingegen wurde und wird der 40. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, in Amt und Würden von 1981 bis 1989, verehrt. Sein ordnungspolitisches Vermächtnis fasste er wie folgt zusammen, so anschaulich wie eingängig, so knapp wie tiefgründig:
„Unsere war die erste Revolution in der Geschichte der Menschheit, die den Kurs der Regierung wirklich umkehrte, und zwar mit drei kleinen Worten: „Wir, das Volk“. „Wir, das Volk“ sagen der Regierung, was sie tun soll; sie sagt es nicht uns. „Wir, das Volk“ sind der Fahrer, die Regierung ist das Auto. Und wir entscheiden, wohin es fahren soll, auf welcher Route und wie schnell. Fast alle Verfassungen der Welt sind Dokumente, in denen die Regierungen den Menschen sagen, was ihre Privilegien sind. Unsere Verfassung ist ein Dokument, in dem „Wir, das Volk“ der Regierung sagen, was sie tun darf. „Wir, das Volk“, sind frei. Diese Überzeugung war die Grundlage für alles, was ich in den letzten acht Jahren versucht habe zu tun […] Und ich hoffe, wir haben die Menschen wieder einmal daran erinnert, dass der Mensch nicht frei ist, wenn die Macht des Staats nicht eingehegt wird.“
Kein Wunder, erhielt Ronald Reagan den Beinamen «The Great Communicator». Er wendet sich in seiner Farewell Address einer der grossen und existenziellen Fragen zum Verhältnis Mensch und Staat zu. Er nimmt direkten Bezug zu den Kardinalfragen in der Philosophie, dem Recht und der Ökonomie: Welche Verfassung und damit welche Grundregeln des Zusammenlebens soll sich eine freie Gesellschaft geben, um genau diese Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen? Es ist wohl die staatspolitische Frage schlechthin.
Die Frage nach dem Zusammenhang von Macht, Freiheit und Sicherheit trieb bereits Thomas Hobbes um – und ihn vor allen anderen. In seinem Hauptwerk «Leviathan» aus dem Jahre 1651 entwickelt er eine Theorie des Gesellschaftsvertrags, die einseitiger nicht hätte ausfallen können. Er argumentiert für die Übertragung aller Gewalt auf einen souveränen Herrscher, da im «Naturzustand» ein egoistischer «Krieg aller gegen alle» um Besitz und Ansehen herrsche, der nur durch die Angst vor der Strafe durch eine übermächtige Gewalt verhindert werden könne. In einem impliziten Vertrag sollten demzufolge die Einzelnen ihre natürlichen Rechte auf eine zentrale Gewalt übertragen, die am besten in einer Person, dem absoluten Herrscher, repräsentiert werde – eben dem Leviathan.
Fazit: Freiheit kann der einzelne nur erlangen, wenn er sich einer allumfassenden Macht mit unbeschränkten Eingriffsmöglichkeiten unterwirft. Das gilt für Menschen gegenüber ihrer Regierung im Speziellen. Der einzelne Mensch ist nicht stark allein, sondern schwach – und tritt freiwillig Macht an das grössere Kollektiv ab, das allein Sicherheit und Freiheit garantieren kann.
Das Argument pro Macht und pro Herrschaft erinnert unschön an eine Rechtsphilosophie, wie sie Carl Schmitt vertreten hat: «Die Ordnung muss hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat», denn «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet». Auch hier wieder: die Macht, unabhängig von ihrer Legitimation, definiert und verteidigt «top-down» den Freiheitsbereich.
Zugespitzt: Die staatliche Macht schafft erst die Sicherheit und damit die Freiheit, indem sie sie garantiert. Freiheit ohne Macht ist hingegen – Anarchie, Unordnung, Chaos, Unfreiheit. Es ist im Interesse des einzelnen, sich einer robusten Gewalt unterzuordnen. Die Anmassung dabei ist unübersehbar: Die Macht der Mächtigen entscheidet, was für den Einzelnen gut und geboten ist, um seine Freiheit effektiv zu schützen. Und die unbedachte Konsequenz ist dabei ebenfalls unübersehbar: Es gilt die Staatsräson, hinter der das Interesse der einzelnen zurückzustehen hat.
Wo liegt das Problem? Politik ist mehr als ein Spiel von Macht und Interessen; Politik bedarf der moralischen Grundlage und der sittlichen Orientierung. Und hier hat die individuelle Freiheit einen wichtigen, unverrückbaren Platz. Was im so mächtig definierten, impliziten bzw. unterstellten Gesellschaftsvertrag verdrängt wird, hat der Stanford-Ökonom und Politologe Barry Weingast treffend zusammengefasst, denn Macht hat immer zwei Seiten. Weingast sagt: «Ein Staat, der stark genug ist, den Freiheitsbereich des Einzelnen effektiv zu schützen, ist auch stark genug, durch seine Machtbefugnisse den Freiheitsbereich des Bürgers für sich zu reklamieren und damit übermässig einzuschränken.»
Anders gesagt bzw. gefragt: Der mächtige Leviathan definiert die Freiheit – wer aber definiert, was der mächtige Leviathan definieren darf und was nicht?
Darum: ja, keine Freiheit ohne einhegende Macht, aber keine schützende Macht ohne eine Einhegung ebendieser Macht. Die schottischen Aufklärer um John Locke – und wenig später Montesquieu – sahen die Lösung in der Machtteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Andere argumentieren ähnlich, wenn es um die Machtteilung im Föderalstaat geht. Am weitesten geht wohl David Hume, wenn er fordert: „Eine Verfassung ist nur insoweit gut, als sie ein Mittel gegen schlechte. Amtsführung bietet“. Macht muss also sehr stark beschränkt werden, damit der Missbrauch der Macht verhindert werden kann.
Genau das ist es, was Ronald Reagan meinte, wenn er sagte: « Und ich hoffe, wir haben die Menschen wieder einmal daran erinnert, dass der Mensch nicht frei ist, wenn die Macht des Staats nicht eingehegt wird”.
Macht ist nicht oder nicht nur die Lösung – es ist zugleich und immer auch das Problem. Wer so denkt, ist ein echter politischer Realist, und Ronald Reagan dachte offensichtlich als Realist. Ein Realist formuliert den Gesellschaftsvertrag anders als ein Realpolitiker der Macht: Der Staat bietet seinen Angehörigen in einem vertragstheoretischen Sinn Schutz und Gerechtigkeit im Tausch gegen Steuereinnahmen. Aber er hat sich selbst an die definierten Regeln zu halten und bleibt in seinen Machtbefugnissen limitiert.
Konkret sichert der Rechtsstaat die Eigentums- und Verfügungsrechte des Einzelnen sowie die Kollektivgüter der Gemeinschaft als Klub. Er sichert und setzt sie mit seinem demokratisch gebundenen Gewaltmonopol durch. Damit schafft er die Vertrauensgrundlage für eine lebendige Zivilgesellschaft mit prosperierender Wirtschaft. Es liegt zwar tatsächlich im Interesse aller, sich einem solchen Staat anzuschliessen – Schutz und Gerechtigkeit können nur im Kollektiv, nicht individuell bereitgestellt werden. Aber nicht «top-down», sondern «bottom-up». Das ist der entscheidende Unterschied.
Das Geheimnis erfolgreicher Staaten liegt zu wesentlichen Teilen in der klugen Machtbalance. Demokratische Rechtsstaaten kennen komplexe Machtstrukturen (Checks and Balances), um dem fundamentalen Dilemma der Macht zu begegnen. Die Balance gelingt nicht jedem Staat im gleichen Masse – doch der Schweiz besonders gut. Die Schweiz bringt die Macht zwar nicht zum Verschwinden, aber sie zersplittert sie maximal – in der Schweiz haben alle ein wenig, aber niemand hat (zu) viel Macht. Das erlaubt ein wenn nicht machtfreies, so doch ziemlich freies Leben und Wirtschaften. Für Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Douglas North ist diese Art von internem Systemwettbewerb ein zentraler Erfolgsfaktor für den Aufstieg und Niedergang von Nationen. Das freie Leben ist anstrengender als das erzwungen geordnete – aber es ist zugleich viel lebenswerter und auf die Dauer erfolgreicher.
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