Das Schuldenbremsen-Urteil
Ein Pyrrhus-Sieg?

Das Verfassungsgericht hat die Schuldenbremse gestärkt. Aber es ist unklar, ob die Politik im engeren Korsett leben will. Die politische Reaktion auf das Urteil könnte zu ihrer Schwächung führen.

Die Stärkung der Schuldenbremse

Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Schuldenbremse erscheint auf den ersten Blick als klarer Sieg der Befürworter einer nachhaltigen Finanzpolitik. Der kreative Umgang mit Sondervermögen ist nunmehr klar verfassungswidrig. Konkret: Die etablierten und jetzt in Stein gemeißelte Haushaltsgrundsätze der Jährlichkeit und Jährigkeit verbieten es, in einem Notlagenjahr Reserven in Form von Kreditermächtigungen in Sondervermögen zu parken, die dann in Jahren normaler Anwendung der Schuldenbremse den Ausgabenspielraum erweitern.

Das ist erst einmal positiv zu bewerten. Denn nun funktioniert die Schuldenbremse so, wie sie ihrem Wortlaut nach tatsächlich funktionieren sollte. Ganz einfache und unproblematische Auswege gibt es nicht mehr. Vielleicht hatte die Bundesregierung vor dem Urteil darauf gehofft, dass die Haushaltsgrundsätze durch das Gericht großzügiger interpretiert werden. Vielleicht hoffte sie, nur eine stichhaltigere Begründung nachliefern zu müssen, die Ausgaben aus Sondervermögen inhaltlich enger mit der ursprünglichen Notlage verknüpft. Mit einem solchen Urteil hätte man umgehen können.

Es kam anders, aber erstaunlicherweise führt dies bisher nicht primär zu demütigem Aufarbeiten eigener Fehler in der Koalition. Stattdessen bezichtigen vor allem grüne und sozialdemokratische Politiker die Union des Populismus. Erfolgreiche Verfassungsklagen in Karlsruhe, Durchsetzung von Grundregeln des politischen Handelns als Populismus? Solche Vorwürfe sind erstaunlich.

Aussetzung der Schuldenbremse 2023 und 2024?

Auch finanzpolitische Kreativität wird bereits mobilisiert, allerdings nicht so sehr beim Versuch, Einsparpotentiale zu finden, mit denen sich die kommenden Haushalte grundgesetzkonform gestalten ließen. Im Zentrum des Interesses steht die Frage, wie man die Schuldenbremse für neue Haushaltsspielräume biegen kann, ohne sie noch einmal zu brechen. Manche dieser Vorschläge sind zwar trotzdem selbst wieder dem Risiko ausgesetzt, in Karlsruhe kassiert zu werden. Sie könnten der Koalition aber Zeit bis zu einem neuen Urteil verschaffen.

Ein solcher Vorschlag besteht darin, einfach für 2023 und mindestens für 2024 eine neue Notlage zu beschließen. Natürlich kann ein Urteil des Verfassungsgerichtes kein Grund für eine neue Notlage im Jahr 2023 sein. Man könne aber, so Befürworter dieses Vorschlags, argumentieren, dass schon das ganze Jahr eine Notlage bestand, diese aus politischen Gründen aber bisher nicht in Anspruch genommen wurde.

Aber worin sollte diese bestehen? Sicherheitspolitische Risiken infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine wurden bereits mit dem Bundeswehr-Sondervermögen adressiert, das im Übrigen nicht bedroht ist, da es mit einer Zweidrittelmehrheit abgesichert wurde. Und die Energiekrise hat sich im Jahresverlauf bereits relativ früh mit sinkenden Energiepreisen normalisiert. Nun ist es allerdings so, dass Karlsruhe einer Bundesregierung bei solchen inhaltlichen Erwägungen oft einen großen Spielraum zugesteht, den diese argumentativ nutzen kann.  

Nicht jedes Problem begründet eine Notlage

Man könnte es also für 2023 tatsächlich noch einmal versuchen. Ob dies auch politisch klug wäre, ist eine andere Frage. Gerade für die FDP, die stark auf die Rolle als Hüterin der Schuldenbremse setzt, könnte ein solcher Schritt eine massive Entfremdung von ihrer Wählerschaft bedeuten. Noch schwieriger wird es 2024. Eine Notlage ist hier kaum zu begründen. Auch und schon gar nicht mit konjunkturellen Risiken, denn diese werden ja schon durch die normalen Verfahren der Konjunkturbereinigung in der Schuldenbremse berücksichtigt.

Auch Vorschläge, eine Notlage mit der „Klimakrise“ zu begründen, sind nicht stichhaltig. Denn diese ist keine überraschende Notlage, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und für die schnell außerordentliche Budgetspielräume geschaffen werden müssten. Vielmehr handelt es sich um einen politischen Marathon, der nachhaltig und planmäßig gelaufen werden kann und muss. Und es stehen effiziente Instrumente wie der CO2-Preis zur Verfügung, die sogar neue Einnahmen generieren.

Reformierte Konjunkturbereinigung?

Ein anderer Ausweg könnte eine Änderung der Berechnung des zulässigen strukturellen Defizits sein. Diese wäre mit einfacher Mehrheit zu beschließen. Hierzu gibt es schon länger Diskussionen, ob der aktuelle Ansatz zur Konjunkturbereinigung sinnvoll ist, da es immer wieder ex ante zu Fehleinschätzungen und ex post zu Korrekturen kommt. Dies ist eher eine Debatte für Feinschmecker, und eine Anpassung wäre hier durchsetzbar, ohne eine aufgeregte politische Diskussion zu provozieren.

Allerdings ist die Frage, ob wirklich sinnvolle, ausgewogene Alternativen zum aktuellen Verfahren existieren, akademisch durchaus stark umstritten. Es bestünde jedenfalls die Gefahr, dass ein neues Verfahren so gewählt wird, dass systematisch eine Verzerrung hin zu einer dauerhaften Rechtfertigung hoher Defizite eingeführt wird. Dennoch würde auch dieser Schritt die aktuelle Not der Bundesregierung sicherlich nur etwas lindern, aber nicht beseitigen.

Und der Wirtschaftsstabilisierungsfonds?

Wie empfindlich die Ausgabenpläne betroffen sind, wird klar, wenn man sieht, dass nicht nur die verschobenen Notlagenmittel im Umfang von 60 Mrd. Euro im Klima- und Transformationsfonds grundgesetzwidrig sind. Auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) dürfte betroffen sein, aus dem bis Mitte 2024 noch die Gas- und Strompreisbremse finanziert werden sollte. Das dürfte angesichts der inzwischen stark gesunkenen Energiepreise zwar verkraftbar sein. Aber auch eine weitere Umwidmung der Mittel ist nun nicht mehr möglich.

Falsch wäre es jedenfalls, die 200 Mrd. Euro des WSF nun als Haushaltslücke zu sehen. Hier handelte es sich immer um einen hoch gegriffenen Deckel. Im ersten WSF der Coronakrise wurde nur ein kleiner Bruchteil des damaligen Volumens tatsächlich ausgegeben. Vom aktuellen zweiten WSF hat die Bundesregierung zwar bereits über 30 Mrd. Euro für Gas- und Strompreisbremse, Erdgas-Soforthilfe und Netzentgelte ausgegeben. Beim Blick nach vorne helfen aber gesunkene Marktpreise.

Die politische Dramatisierung der Lage

So schwierig die Lage auch ist, so wird sie von Teilen der Bundesregierung in der öffentlichen Diskussion doch offensichtlich bewusst und gezielt weiter dramatisiert. Wenn etwa der Bundeswirtschaftsminister vor großen Belastungen durch steigende Strompreise warnt, oder wegen nun möglicherweise nicht mehr finanzierbarer Subventionen eine Deindustrialisierung oder ein Verlust von Zukunftstechnologien für das Land beschworen wird, so kann man dies wohl als starke Übertreibung verbuchen. Der Standort wird durch Fachkräftemangel, hohe Steuerlasten und bürokratische Fesseln deutlich stärker bedroht als durch nun angeblich fehlende staatliche Beihilfen.

Die Dramatisierungen erfüllen aber einen politischen Zweck. Sie sollen Druck in Richtung einer Lockerung der Schuldenbremse oder ihrer erneuten Umgehung aufbauen. Für beides bräuchte man die Kooperation der Union. Vorschläge gibt es hierzu viele. Mit Zweidrittelmehrheit könnte die Schuldenbremse so geändert werden, dass zum Beispiel Investitionsausgaben nicht von ihr erfasst werden. Dies wäre jedoch problematisch, schon wegen der dann nötigen Abgrenzung von Investitionsausgaben. Einer Politik, die auch reine Umverteilung wie die Kindergrundsicherung als Zukunftsinvestition etikettiert, ist hier alles zuzutrauen.

Diskutiert wird auch, gemeinsam mit der Union ein (ähnlich wie das Bundeswehr-Sondervermögen) mit Zweidrittelmehrheit abgesichertes Sondervermögen einzurichten, ansonsten die Schuldenbremse aber unangetastet zu lassen. Das wäre verfassungskonform. Beim Volumen werden Summen genannt, bei denen einem schwindlig werden kann, etwa wenn Investitionsbedarfe im Zuge der Klimapolitik mit 500 bis 1.000 Mrd. Euro beziffert werden. Es besteht allerdings tatsächlich die Gefahr, dass, wenn man sich einmal zu einem solchen Schritt entscheidet, gleich der ganz große Schluck aus der Pulle genommen wird, der jedenfalls für die aktuelle Politiker-Generation die Notwendigkeit zur Ausgabendisziplin beseitigt.

Man muss sich auch darüber klar sein, dass dies eine Auslagerung der staatlichen Investitionstätigkeit aus den Kernhaushalten hinaus bedeuten würde. Dort würden Spielräume für noch mehr Umverteilung und noch mehr öffentlichen Konsum eröffnet, mit potentiell deutlich negativen Wachstumseffekten. Für die Union könnte dieser Weg aber attraktiv sein. Formal könnte sie sich als Unterstützerin der Schuldenbremse positionieren, gleichzeitig aber Spielräume für zukünftige eigene Regierungsbeteiligungen schaffen.

Wird die finanzpolitische Regelbindung durchgehalten?

Die Lehre der vergangenen Jahre ist, dass Politik sich nicht gerne durch Regeln binden lässt. Auswege werden mit hoher Kreativität gesucht und gefunden. Wenn wir Pech haben, wird in einigen Jahren das Urteil aus Karlsruhe als Impuls gelten, der eine ganz große Koalition zur Aufweichung der Schuldenbremse angestoßen hat. Dann wäre es, aus stabilitätsorientierter Sicht, tatsächlich nur ein Pyrrhus-Sieg gewesen.

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