Gastbeitrag
Die Pflegekatastrophe

Das Wort Katastrophe ist aus dem Lateinischen entlehnt und in seiner Bedeutung als Vernichtung oder Zerstörung eher im Kontext der Naturgewalten als in den Sozialwissenschaften gebräuchlich. In seiner ursprünglich griechischen Herkunft ist das Wort Katastrophe aber auch als Umkehrung oder Umwendung zu verstehen und passt damit nur allzu gut zur demografischen Entwicklung, die Sozialversicherungen im Allgemeinen und die SPV im Speziellen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten prägen werden.

Schon bei der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung war klar, dass die Bevölkerungspyramide sich zukünftig nicht mehr im gleichen Maße nach oben hin verjüngen würde, sondern durch den demografischen Wandel umgekehrt eine breite Spitze und eine schmale Basis aufweisen würde. Auch, dass eine umlagefinanzierte Pflegeversicherung dadurch zukünftig unter massiven Refinanzierungsdruck geraten würde, war damals bereits klar. Die politischen Entscheidungsträger hatten dementsprechend zwei Handlungsmöglichkeiten. Erstens die Einführung einer sozialen Pflegeversicherung mit einem zukunftsfesten Beitragssatz von etwa 3 bis 4 Prozent. Oder zweitens die Einführung einer sozialen Pflegeversicherung mit einem Beitragssatz von einem Prozent, die die Tatsache des demografischen Wandels ignorierte. Die damals Alten, die von der Einführung profitieren sollten, hatten selbstredend gar keine Beiträge bezahlt. Aus dieser Perspektive war die Einführung eines Beitragssatzes von 3 bis 4 Prozent für die neuen Beitragszahler natürlich in etwa drei- bis viermal so ungerecht wie die Einführung eines Beitragssatzes von einem Prozent. Mit ihren Beiträgen erwarben die damals Jungen jedoch Leistungsansprüche, die wegen des demografischen Wandels zukünftige Beitragszahler drei- bis viermal so stark belasten würden. Auf diese Weise wurde die intergenerative Ungleichbehandlung, sehenden Auges in die Zukunft geschoben.

Die Leistungen der Pflegeversicherung sind bedürftigkeitsgeprüft. Niemand macht sich ein schönes Leben in der Pflegebedürftigkeit. Dennoch bricht die SPV das Gebot der Generationengerechtigkeit, indem sie eine intergenerative finanzielle Ungleichbehandlung bewirkt. Der Bruch dieses Gebots der intergenerativen Gleichbehandlung beruht dabei nicht etwa auf dem Eintritt unerwarteter Ereignisse, sondern darauf, dass es so kommt, wie es schon bei Einführung der Pflegeversicherung absehbar war. Niemand macht sich ein schönes Leben in der Pflegebedürftigkeit. Aber Pflegebedürftige, die keine intergenerativ fairen Beiträge zur Pflegeversicherung geleistet haben und nun über Vermögen verfügen, ermöglichen sich oder ihren Erben Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit. Die Bedürftigkeitsprüfung der Pflegeversicherung bezieht sich allein auf den Gesundheitszustand. Das wäre nur dann richtig, wenn die Beitragszahler intergenerativ faire Beiträge geleistet hätten. In der Realität der systematisch steigenden Beitragssätze ist die finanzielle Unterstützung von zahlungsfähigen Pflegebedürftigen dagegen zu beschränken. Wenn ein Großvater zehntausende Euro für Pflegeleistungen bezogen hat, für die er keine adäquaten Beiträge geleistet hat und dann ein schuldenfreies Haus vererbt, leistet die SPV dagegen eine Erbenbezuschussung.

Längst ist die Misere der Pflegeversicherung jedoch nicht mehr eine reine Misere der Finanzierbarkeit, sondern auch eine Misere der Umsetzbarkeit. Die Ausweitungen der (finanziellen) Leistungsansprüche der vergangenen Jahre bewirken über die Effekte der Alterung hinaus, einen Anstieg der Nachfrage nach Pflegedienstleistungen. Diesem steht durch den Fachkräftemangel ein Rückgang des Arbeitsangebots in der Pflegebranche gegenüber. In einer alternden Gesellschaft muss man sich nicht nur die Frage stellen, wer die Pflege bezahlen soll, sondern auch, wer sie erbringen soll. Der Ruhestandseintritt der geburtenstarken Jahrgänge bedeutet nicht nur entfallende Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch entfallende Arbeitsleistung. Die Verknappung des Faktors Arbeit bewirkt in arbeitsintensiven Branchen überproportional steigende Kosten. Ohnehin leidet die Pflegebranche darunter, dass sie deutlich weniger von Produktivitätssteigerungen durch technologischen Fortschritt profitieren kann als andere Branchen. Einen Menschen zu waschen und anzuziehen, ihm dabei die menschliche Zuwendung zu geben, die er braucht, dauert heute so lange wie vor 150 Jahren. Pflege kann und darf nicht am Fließband erbracht werden.

Derzeit setzen die Generationenverträge auf das alte Motto der Solidargemeinschaft „Unus pro omnibus, omnes pro uno – Einer für alle, alle für einen“ eher einseitig als „Omnes generationes pro senibus – Alle Generationen für die Alten“ um. Das zeigt sich sowohl in den Leistungsauweitungen der SPV in den vergangenen Jahren als auch in den Plänen zum sogenannten Rentenpaket II. Die jüngsten Beitragssatzerhöhungen in der GKV und SPV sowie die Planung zusätzlicher Beitragssatzerhöhungen und Ausweitungen der Beitragsbemessungsgrenzen im kommenden Jahr verdeutlichen, dass ein „Weiter so!“ in den beiden Sozialversicherungssystemen der GKV und der SPV die Gefahr einer Überlastung der Beitragszahler birgt. Unter Berücksichtigung eines Kostendruckszenarios zeigen Raffelhüschen et al. (2023) auf, dass der SPV-Beitragssatz bis 2060 auf bis zu 7,1 Prozent ansteigen könnte.

Angesichts dieser Aussichten gilt es, die Umkehrung der Bevölkerungspyramide, die Katastrophe der Sozialversicherung, endlich gemeinsam zu adressieren und nicht in das Motto „Omnes generationes pro Boomers“ zu verfallen, für das Demokratien so empfänglich sind. Das schwedische Motto „Lagom är bäst.“ bedeutet wörtlich „gemäßigt ist am besten.“. In Bezug auf gesellschaftliche Verteilungsfragen ist die zutreffendere Übersetzung dagegen „für jeden genug, für keinen zu viel“. Den deutschen Sozialversicherungen ist im demografischen Wandel zu wünschen, dass das Motto zukünftig lautet „Omnes generationes una“ – „alle Generationen gemeinsam“. Reformmöglichkeiten zur Aufteilung der demografischen Belastung in der SPV existieren beispielsweise in Form eines Nachhaltigkeitsfaktors für die Pflegeversicherung. Darüber, welche Aufteilung der demografischen Belastung richtig wäre, lässt sich streiten. Die derzeitige Herangehensweise einer vollständigen Verschiebung der Traglast auf die jungen und nachfolgenden Generationen birgt dagegen die Gefahr, dass dieser Streit eskaliert und die jungen Generationen einseitig aus dem Generationenvertrag aussteigen.

Hinweis: Der Beitrag erschien in gekürzter Form als Leitartikel in Heft 12 (2024) der Fachzeitschrift WiSt.

Stefan Seuffert
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