Die Schwarz-Rote Koalition kündigt im Koalitionsvertrag vollmundig an, „die Alterssicherung für alle Generationen auf verlässliche Füße“ zu stellen. Im Zentrum dieses Verlässlichkeitsversprechens steht dabei das Rentenniveau. Spätestens seit der Einführung der „Doppelten Haltelinie“ im Jahr 2018 hat sich die SPD dem Thema Rentenniveau verschrieben. Noch immer scheint sie die Bedeutung dieses Indikators nicht verstanden zu haben oder die gängigen Fehlinterpretationen bewusst in Kauf zu nehmen. Was als Signal der Stabilität gemeint ist, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck folgenschwerer politischer Prokrastination nach dem Motto „für uns wird es jawohl schon noch reichen“.
Kernstück der rentenpolitischen Pläne im Koalitionsvertrag ist die Wiederbelebung der Grundidee der sogenannten doppelten Haltelinie. Das Rentenniveau soll gesetzlich festgeschrieben werden, während die entstehenden Kosten steuerfinanziert werden. Anders als bei der „doppelten Haltelinie“ ist ein Anstieg des Beitragssatzes damit nicht vollständig ausgeschlossen. Lediglich die Mehrkosten durch die gesetzliche Fixierung des Rentenniveaus sollen nicht den Beitrags- sondern den Steuerzahler belasten. Die jungen Generationen werden folglich von zusätzlichen Beitragssteigerungen verschont. Die Kosten tragen die Steuerzahler, die letztliche mehrheitlich der jungen Generationen angehören. Darüber hinaus sind zum Unglück der jungen Generationen die Kosten einer Rentenniveaufixierung höher, wenn sie durch Steuern statt durch Beiträge finanziert werden. Ein geringerer Beitragssatz senkt die Maßzahl des Rentenniveaus und steigert damit den Finanzierungsbedarf zur Aufrechterhaltung eines Rentenniveaus von 48 Prozent.
Das „Rentenniveau“ bezeichnet genaugenommen das Standard-Netto-Rentenniveau vor Steuern. Es berücksichtigt die Entwicklung der Sozialversicherungsbeitragssätze (deshalb „netto“), nicht aber jene der Steuern (deshalb „vor Steuern“). Zusätzliche Belastungen der Beitragszahler steigern dementsprechend das Rentenniveau, weil Rentner keine Rentenversicherungsbeiträge bezahlen. Die Netto-Renten vor Steuern bleiben unverändert, während das Netto-Durchschnittsentgelt vor Steuern sinkt. Umgekehrt bewirkt eine Entlastung der Beitragszahler ein Absinken des Rentenniveaus. Um ein bestimmtes Rentenniveau sicherzustellen, müssen durch die Entlastung der Beitragszahler also höhere Renten bezahlt werden. Die Rentenniveauhaltelinie von 48 Prozent bewirkt höhere Renten, wenn sie steuer- statt beitragsfinanziert ist. Wer die vorgesehene Entlastung der Beitragszahler letztendlich tatsächlich trägt, ist aus dem Koalitionsvertrag unmöglich abzulesen. Bedeutet Steuerfinanzierung, dass die Steuerlast steigen soll, dass andere steuerfinanzierte Posten im Bundeshaushalt reduziert werden, oder dass das Defizit erhöht wird? Letzteres würde die Belastung zukünftiger Steuerzahler bedeuten. Als Träger der Entlastung kommen folglich drei Gruppen infrage: die heutigen Steuerzahler, die Steuerzahler der Zukunft und die Gemeinschaft der Nutznießer zu kürzender staatlicher Leistungen infrage. Wer von der Entlastung der Beitragszahler durch die Steuerfinanzierung der Rentenniveauhaltelinie auf jeden Fall profitiert sind paradoxerweise gerade die Rentenbezieher.
Auch die Pläne zur „Aktivrente“ sind aus finanzwissenschaftlicher Perspektive fragwürdig. Wer nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters „freiwillig“ weiterarbeitet, soll bis zu 2.000 Euro monatlich steuerfrei hinzuverdienen dürfen. Sicherlich, eine verringerte Einkommensteuerlast bedeutet einen erhöhten finanziellen Arbeitsanreiz. Doch um dem subjektiven Nettoprinzip in der Einkommensteuer zu genügen, müsste eine solche Steuerbefreiung über eine altersspezifische Mehrbelastung gerechtfertigt werden. Davon wären nicht nur Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung betroffen, sondern auch alle anderen abhängig Beschäftigten, also insbesondere Beamte und Versicherte der berufsständischen Versorgung. Genaugenommen sind Beamte sogar die einzige Berufsgruppe, bei der freiwillige Weiterarbeit in Abgrenzung zur verpflichtenden Weiterarbeit vorliegen kann. Die Umsetzung von Arbeitsanreizen für eine sozialpolitisch definierte Zielgruppe verkennt die systematische Funktion der Einkommensteuer. Diese ist kein Werkzeug für die arbeitsmarktpolitische Feinsteuerung und die Bedienung von Partialinteressen. Sie ist der zentrale Baustein der Leistungsgerechtigkeit der Besteuerung.
Noch absurder wird diese Vermischung von Renten- und Steuerpolitik, durch die explizite Erwähnung der „besonders langjährig Versicherten“. Die Koalitionäre haben offenbar erkannt, dass der abschlagsfreie Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren eine zwar populäre, fiskal- und arbeitsmarktpolitisch aber kontraproduktive Maßnahme darstellt. Die Arbeitsanreize zum „freiwilligen“ Weiterarbeiten beziehen sich aber explizit auf das Regelrenteneintrittsalter. Dieses liegt zwei Jahre über dem abschlagsfreien Renteneintrittsalter für besonders langjährig Versicherte. Der vorzeitige Rückzug aus dem Erwerbsleben wird also subventioniert. Wer davon keinen Gebrauch macht, wird erst zwei Jahre später belohnt. Diese Logik erinnert an die absurde Geste, einem seiner Kinder ein Smartphone zu schenken – und ihm anschließend Süßigkeiten dafür zu versprechen, dass es das Smartphone nicht benutzt. Was hier wie kluger Pragmatismus wirken soll, offenbart sich als praktisch inhaltsloses Flickwerk zur Kaschierung politischer Selbstwidersprüche.
Der Koalitionsvertrag versucht, gegensätzliche Erwartungen miteinander zu versöhnen: Stabilität für heutige Rentner, Entlastung künftiger Generationen, Systemtreue und Flexibilität. Doch unter dem Etikett der Generationengerechtigkeit verbirgt sich ein Verschiebebahnhof politischer Belastungen, der fiskalische und institutionelle Risiken in Kauf nimmt. Generationengerechtigkeit verlangt mehr als stabile Rentenzahlungen und unveränderte Regeln des Rentenzugangs. Sie erfordert in erster Linie die Anerkennung der demografischen und fiskalischen Realitäten. Wer die demografisch induzierte Knappheit in den Sozialversicherungen ignoriert und suggeriert, durch steuerliche Anreize den Status quo aufrechterhalten zu können, täuscht sich und seine Wählerschaft. Es ist irrational und vor allem ungerecht gegenüber nachfolgenden Generationen, zu hoffen, dass es für die nächste Legislaturperiode beziehungsweise die individuell verbleibenden zwei, drei oder auch mehr Lebensjahrzehnte schon noch weitergehen wird wie bisher. Die Sozialversicherungen sind gefangen im Generationenvertrag der Umlagefinanzierung. Wer sich heute über die rentnerfreundliche Politik freut, sollte bedenken, dass der Generationenvertrag junge und zukünftige Generationen nicht an eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in Deutschland fesseln kann.
Serie: „Was Schwarz-Rot verspricht„
Alexander Eisenkopf (Zeppelin): Was bleibt vom Sondervermögen Infrastruktur für den Verkehr?
Markus Brocksiek (BdSt): Bürokratieabbau quo vadis?
Holger Schäfer (IW): Was wird neu an der „Neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende“?
Norbert Berthold (JMU) und Jörn Quitzau (Bergos): Was Schwarz-Rot verspricht