Der Draghi-Bericht ist ein wichtiges Dokument, das das Programm der neuen Europäischen Kommission beeinflussen könnte. Er enthält viele lesenswerte und relevante Analysen zum Stand der EU im globalen Wettbewerb. Der Tenor des Berichts zur aktuellen Performance Europas im globalen Wettbewerb ist sehr pessimistisch. Damit trägt die Analyse dazu bei, die bisweilen noch vorherrschende Selbstzufriedenheit in der wirtschaftspolitischen Debatte in Brüssel zu erschüttern. All dies ist verdienstvoll. Neben vielen starken und überzeugenden Botschaften enthält der Bericht aber auch erhebliche Leerstellen und Unausgewogenheiten.
Zu begrüßen ist das Plädoyer, dass die EU endlich das Potenzial europäischer öffentlicher Güter ausschöpfen und die Fragmentierung des Binnenmarktes überwinden sollte. Stark sind auch die Passagen zur Eigenverantwortung der EU und der Europäischen Kommission für die Standortschwäche im Hinblick auf gesetzgeberischen Aktionismus und die damit verbundenen regulatorischen Belastungen für Unternehmen. Hier fordert Draghi nicht nur mehr Zurückhaltung bei neuen Gesetzen, sondern auch einen deutlich messbaren Abbau von Berichtspflichten für Unternehmen. In der Klimapolitik positioniert sich der Bericht klar auf der Seite der Befürworter von Technologieneutralität mit einem Plädoyer für mehr Offenheit gegenüber alternativen Kraftstoffen für die Mobilität.
Der Draghi-Bericht leidet jedoch an zahlreichen Schwächen. So ist der Bericht durchdrungen vom Glauben an den Erfolg einer europäischen Industriepolitik und an die Fähigkeit von Technokraten, zukunftsträchtige Industrien zu identifizieren. Fast planwirtschaftlich muten die Passagen an, in denen Industrien nach ihrer Zukunftsfähigkeit in Europa unterschieden werden.
Insgesamt lässt der Bericht die Wertschätzung marktwirtschaftlicher Instrumente in der Klimapolitik vermissen. Das sehr erfolgreiche Instrument des europäischen Emissionshandels wird vor allem in seiner Finanzierungsfunktion oder als Kostenbelastung für bestimmte Industrien diskutiert. Ideen, wie solche marktorientierten Instrumente weiter ausgebaut werden könnten, fehlen dagegen weitgehend. Dies wäre aber nach Ansicht vieler Umweltökonomen der Königsweg zu einer bezahlbaren Klimapolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit sichert.
Darüber hinaus blendet der Bericht ausgerechnet jene Standortfaktoren fast vollständig aus, die in allen Rankings die sehr schlechten Positionen der großen EU-Länder erklären. Dies betrifft z.B. die hohe Steuer- und Abgabenbelastung, die hohen Arbeitskosten, fehlende Arbeitsanreize im Sozialstaat und die starke Regulierung der Arbeitsmärkte. Die Notwendigkeit einer konsequenten Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die Alterung der Bevölkerung wird in diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt. Der europäische Sozialstaat wird zwar zu Recht als unverzichtbar für die Bewältigung des Strukturwandels bezeichnet, es fehlt aber weitgehend der Hinweis darauf, dass er in seiner jetzigen Form so hohe Steuern und Abgaben verursacht, dass er die Wettbewerbsfähigkeit Europas zunichte macht.
Wie andere vor ihm nährt auch Draghi das problematische Narrativ, dass Länder mit soliden Staatsfinanzen einen unfairen Vorteil im Binnenmarkt haben und damit den Binnenmarkt verzerren. Auf die Gefahren für den Binnenmarkt, die von einer nicht nachhaltigen Staatsverschuldung in den hoch verschuldeten Staaten ausgehen, geht er dagegen bis auf eine kurze Nebenbemerkung nicht ein. Hier findet also eine höchst problematische Umkehrung in der Benennung von verantwortungsvoller und unverantwortlicher Fiskalpolitik statt.
Viel zu unkonkret ist leider das Plädoyer, im EU-Haushalt endlich Prioritäten für europäische öffentliche Güter zu setzen. Von einem mutigen Bericht wäre zu erwarten gewesen, dass er hier z.B. Kürzungen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik fordert. Davon findet sich leider nichts. Auch die Ausführungen zur Neuausrichtung der Kohäsionspolitik bleiben viel zu vage.
Aufgrund des fehlenden Mutes, Umschichtungen im EU-Haushalt zu fordern, steht wie in allen prominenten Berichten im Auftrag der Kommission die Forderung nach großen zusätzlichen schuldenfinanzierten EU-Programmen im Vordergrund. Hunderte von Milliarden Euro sollen durch regelmäßige Emissionen von EU-Anleihen mobilisiert werden. Hier fehlt ein kritisches Problembewusstsein im Hinblick auf den großen Präzedenzfall des Corona-Wiederaufbauplans Next Generation EU. Auch dieser sollte ursprünglich europäische öffentliche Güter finanzieren und wurde dann zu einem Transferinstrument an finanziell bedrängte Mitgliedsstaaten umfunktioniert, dessen Erfolg durch aktuelle Evaluationen etwa des Europäischen Rechnungshofs in Frage gestellt wird.
Wie der Letta-Bericht zum Binnenmarkt operiert auch der Draghi-Bericht bei seinem Plädoyer für regelmäßige EU-Anleiheemissionen mit dem nicht überzeugenden Argument, dies würde ein europäisches „Safe Asset“ schaffen. Dabei übersieht er, dass EU-Anleihen an den Märkten einen deutlichen Risikoaufschlag gegenüber erstklassigen nationalen Schuldnern wie Deutschland oder den Niederlanden aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass die wachsenden Zweifel der Märkte an der Rückzahlungsfähigkeit der EU in den kommenden Jahrzehnten verhindern, dass eine sich immer stärker verschuldende EU wirklich ein sicheres Investment ist.
Insgesamt gibt der Draghi-Bericht trotz richtiger und wichtiger Detailempfehlungen Europa der neuen Kommission also keine wirklich erfolgversprechende Orientierung. Und er trägt ein Stück weit dazu bei, dass sehr wichtige Herausforderungen – Prioritätensetzung in den öffentlichen Haushalten, Reform der sozialen Sicherungssysteme, Begrenzung der Steuer- und Abgabenlast – in der europäischen Reformagenda weiter vernachlässigt werden.
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