In Deutschland flüchten immer mehr Menschen vor hohen Steuern und Abgaben in die Freizeit. In den kommenden Jahren droht eine fatale Abwärtsspirale: Weil die Arbeitsbereitschaft erodiert, muss jede Arbeitsstunde immer stärker belastet werden. Die nächste Bundesregierung sollte versuchen, die Abgabenlast teilweise von der Arbeitszeit zu entkoppeln. Dazu würden Beitragspauschalen in Gesundheit und Pflege ebenso beitragen wie eine stärkere Orientierung von Gebühren und Transfers am Einkommenspotenzial. Eine solche Reform würde nicht nur die Arbeitsanreize erhöhen, sondern auch eine Ungerechtigkeit des heutigen Systems beseitigen, in dem Vollzeitbeschäftigte mehr für öffentliche Leistungen zahlen müssen und als Teilzeitbeschäftigte.
Bis zum Jahr 2036 gehen dem deutschen Arbeitsmarkt 16,5 Millionen Babyboomer durch Renteneintritt verloren. Gleichzeitig werden nur 12,5 Millionen junge Menschen nachrücken. Dass diese Schrumpfkur der Erwerbsbevölkerung das Wachstum in Deutschland belasten wird, hat sich inzwischen herumgesprochen. Viel zu wenig Beachtung findet dagegen ein anderes Problem: die Flucht der verbleibenden Erwerbsfähigen in die Freizeit. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen ist in Deutschland mit 1347 Stunden pro Jahr (2022) die niedrigste in der OECD, während der OECD-Durchschnitt bei 1746 Stunden liegt. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf ist in Deutschland seit 1980 um 18 Prozent gesunken und damit deutlich stärker als in den meisten anderen Ländern. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern allein kann diese Entwicklung nicht erklären. Längst sind es nicht mehr nur Mütter mit Kindern, die in Teilzeit flüchten. Auch Frauen ohne Kinder arbeiten heute zu 40 Prozent in Teilzeit, Männer ohne Kinder zu 11 Prozent. Hinzu kommt, dass auch die Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten in den Tarifverträgen immer weiter nach unten gedrückt werden. Tarifverträge mit Wahlrechten „mehr Freizeit statt mehr Lohn“ haben Hochkonjunktur. Damit sinkt auch die Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten.
Setzt sich dieser Trend zu Teilzeit und Arbeitszeitverkürzung fort, ist der wirtschaftliche Abstieg Deutschlands unausweichlich. Es bedürfte schon eines wahren Produktivitätswunders, selbst bei einer weiteren nennenswerten Zuwanderung, um trotz sinkender Erwerbstätigenzahl in Kombination mit sinkenden Arbeitsstunden pro Kopf einem stetigen Schrumpfen der Wirtschaftsleistung und damit dem wirtschaftlichen Abstieg zu entgehen.
Es gehört zu den großen Versäumnissen in der Debatte um die deutsche Steuer- und Abgabenpolitik, dass der Zusammenhang zwischen der hohen Belastung der Arbeitseinkommen und der Flucht in die Freizeit weitgehend ignoriert wird. Als vage Erklärung werden immer wieder angebliche Freizeitpräferenzen angeführt, die für ein wohlhabendes Land typisch seien. Tatsache ist aber, dass die Menschen in der Schweiz, den USA, Skandinavien und anderen OECD-Ländern mit vergleichbarem oder sogar höherem Wohlstand mehr oder sogar deutlich mehr arbeiten. Der Wohlstand allein kann also nicht erklären, warum Deutschland Freizeitweltmeister ist.
Sind die Deutschen also faul und die Schweizer fleißig? Weit gefehlt! Die Menschen in beiden Ländern reagieren in ihren Freizeitentscheidungen ganz rational auf die Anreize des Abgabensystems. Während ein Durchschnittsverdiener in Deutschland als Single ohne Kinder 49 Prozent der Arbeitskosten einer zusätzlichen Arbeitsstunde an den Staat und die Sozialversicherungen abgeben muss, liegt diese Grenzbelastung in der Schweiz nur bei 33 Prozent. Teilzeitarbeit oder eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit sind in der Schweiz folglich deshalb nicht so beliebt, weil sie spürbar eigenes Geld kosten würde. Dagegen ist zusätzliche Freizeit aus Sicht deutscher Arbeitnehmer äußerst billig zu haben. Da der Löwenanteil der letzten Arbeitsstunde ohnehin an den Fiskus und die Sozialkassen abgeführt werden muss, ist ein früherer Feierabend oder ein zusätzlicher freier Tag pro Woche die deutlich attraktivere Wahl.
Das Problem der kommenden Jahre ist, dass sich steigende Abgaben und die Flucht vor diesen Abgaben in die Freizeit gegenseitig verstärken werden. Wenn nicht gegengesteuert wird, werden die Grenzabgaben wegen der immer kürzeren Arbeitszeiten und der hohen Renten-, Kranken- und Pflegekosten aufgrund der Alterung der Bevölkerung weiter stark ansteigen. Wo der Arbeitnehmer mit Durchschnittsverdienst heute noch 50 Prozent des Lohns der letzten Arbeitsstunde mit nach Hause nehmen kann, wird dieser Wert angesichts der zu erwartenden höheren Sozialabgaben in den kommenden Jahren rasch in Richtung 40 Prozent sinken.
Die nächste Bundesregierung sollte daher ihre Steuer- und Abgabenpolitik auf die Grenzabgaben ausrichten. Bereits unter der Ampel-Koalition und im aktuellen Wahlkampf ist das Bewusstsein für diese Thematik gestiegen. Vorschläge wie die steuerliche Begünstigung von Überstunden gehen in die richtige Richtung, sind aber noch nicht ausgereift. Zu offensichtlich ist, dass eine reine Steuerbefreiung von Überstunden das Problem nicht löst und vielfältige Manipulationsmöglichkeiten eröffnet. Das Problem wird nicht umfassend angegangen, da nur bei einer Begünstigung von Überstunden kein Anreiz für Teilzeitbeschäftigte besteht, ihre Arbeitszeit in Richtung Vollzeit aufzustocken. Manipulationsmöglichkeiten bestehen auch deshalb, weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer dann einen gemeinsamen Anreiz hätten, „Normalarbeitszeit“ und „Überstunden“ neu zu definieren, um den Beschäftigten einen Steuervorteil zu verschaffen.
Wie sonst könnte man die Grenzsteuersätze für alle senken, unabhängig davon, ob sie Teilzeit oder Vollzeit arbeiten? Auch hier macht es die Schweiz vor, mit ihrem Gesundheitssystem. Dort sind die Beiträge zur Krankenversicherung weitgehend vom Arbeitseinsatz entkoppelt. Stattdessen zahlen die Schweizer je nach Altersgruppe eine Pauschalprämie. Soziale Härten werden durch Steuerzuschüsse für Geringverdiener abgefedert. Bevor man, wie in der deutschen Debatte üblich, reflexartig über die vermeintliche Ungerechtigkeit eines solchen Systems klagt, sollte man es sich genauer ansehen. Bemerkenswert sind zwei Merkmale, die zum einen mit Anreizwirkungen zu tun haben und zum anderen eben mit Gerechtigkeitsfragen.
Zum Anreizaspekt: Bei einem Pauschalbeitrag wird eine zusätzliche Arbeitsstunde mit einer Grenzabgabe von Null belastet. Mit anderen Worten: Der individuelle finanzielle Vorteil einer zusätzlichen Arbeitsstunde wird für den Arbeitnehmer (bezogen auf die Krankenkassenbeiträge) nicht mehr geschmälert. Arbeit lohnt sich endlich wieder, weil der Arbeitnehmer einen größeren Teil seines Lohnes mit nach Hause nehmen kann.
Das Schweizer Modell hat aber nicht nur bei den Anreizen die Nase vorn. Es hat auch einen Gerechtigkeitsvorteil und korrigiert eine Ungerechtigkeit, die hierzulande gerne übersehen wird. Ein Vollzeitbeschäftigter, der vielleicht noch dazu Überstunden macht, beansprucht das Gesundheitssystem nicht mehr als ein Teilzeitbeschäftigter. Dennoch muss er hierzulande deutlich höhere Krankenkassen- und Pflegebeiträge zahlen. Das heißt, der Vollzeitbeschäftigte muss für den Arzt oder die Krankenhausleistung und seinen späteren Pflegezuschuss mehr Geld auf den Tisch legen als der Teilzeitbeschäftigte. Dieses Problem lässt sich verallgemeinern: Teilzeitbeschäftigte nehmen nicht nur Ärzte und Pflege, sondern auch Straßen, Bildungseinrichtungen, den Schutz durch Polizei und Militär, die Vorteile der Klima- und Umweltpolitik und die gesamte öffentliche Infrastruktur nicht weniger in Anspruch als Vollzeitbeschäftigte. Dennoch erhalten sie für all diese öffentlichen Leistungen einen enormen Rabatt im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten. Hinzu kommt ein weiteres Gerechtigkeitsproblem: Eine vollzeit- und überstundenbeschäftigte Krankenschwester mit einem Bruttoeinkommen von beispielsweise 4.000 Euro wird heute in Deutschland fast genauso hoch besteuert wie ein teilzeitbeschäftigter Rechtsanwalt, der das gleiche Einkommen bequem mit einem Tag Arbeit pro Woche nach Hause bringt. Dass dies unter Gerechtigkeitsaspekten das bestmögliche System sein soll, ist zu bezweifeln.
Das oben nur exemplarisch aufgezeigte Schweizer Beispiel aus dem Gesundheitsbereich lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen: Wir brauchen ein grundsätzliches Umdenken in der gesamten Abgabenpolitik hin zu pauschalierten Steuern und Abgaben, die nicht mehr einseitig den Vielarbeiter gegenüber dem Wenigarbeiter belasten. Wie aber könnte ein tendenzielles Umsteuern in Richtung Pauschalbesteuerung aussehen? Zunächst sollte die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme im Bereich Gesundheit und Pflege genau in diese Richtung weiterentwickelt werden. Die zu erwartenden Pflegekosten sind für einen Teilzeitbeschäftigten nicht geringer als für einen Vollzeitbeschäftigten. Bei einer Pauschalierung können selbstverständlich auch Kindererziehungszeiten und Zeiten der Pflege von Angehörigen berücksichtigt werden. Solche Zeiten können durch angemessene Abschläge von den Pauschalbeiträgen für Gesundheit und Pflege berücksichtigt werden. Dagegen sollten zumindest Hochqualifizierte mit hohen Stundenlöhnen, die ohne familiäre Verpflichtungen lediglich ihren Freizeitpräferenzen in Teilzeit nachgehen, nicht länger Rabatte auf ihre Pflege- und Gesundheitskosten erhalten.
Ein weiterer Bereich, in dem die Idee der Arbeitszeitneutralität staatlicher Belastungen stärker durchgesetzt werden könnte, ist der gesamte Bereich der öffentlichen Gebühren und ergänzenden Sozialleistungen. Heute kann man sich in Deutschland auch als hochqualifizierter Akademiker viele Ermäßigungen bei öffentlichen Leistungen von der Kita über das Wohngeld bis hin zum Bafög für die eigenen Kinder einfach dadurch „verdienen“, dass man seine Wochenarbeitszeit und damit sein erzieltes Einkommen nach unten korrigiert. Auch dies ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten letztlich eine problematische Strategie, weil sich hier Menschen mit hohem Wertschöpfungspotenzial der Finanzierung öffentlicher Leistungen entziehen und diese Lasten auf die Vielarbeiter abwälzen. Würden Abgaben und Vergünstigungen künftig von der Qualifikation und dem Stundenlohn eines Arbeitnehmers und nicht mehr von seinem monatlichen Bruttoeinkommen abhängig gemacht, würden auch hier die Arbeitsanreize erhöht und zugleich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen.
Die Steuer- und Abgabenpolitik muss in den nächsten Jahren die Spirale aus sinkender Arbeitsbereitschaft und steigenden Grenzsteuern stoppen, sonst ist der Wohlstandsabstieg Deutschlands nicht mehr aufzuhalten. Angesichts des hohen Finanzierungsbedarfs in den Bereichen Verteidigung, Klima, Infrastruktur und Demografie ist der Spielraum für Abgabensenkungen durch Einsparungen realistischerweise alleine nicht ausreichend. Deshalb ist ein grundlegendes Umdenken in der Besteuerung erforderlich. Der Übergang zu einer Pauschalbesteuerung wichtiger Abgabenkomponenten weist dabei in eine Richtung, die nicht nur die Arbeitsanreize verbessert, sondern auch zentrale Gerechtigkeitsfragen des gegenwärtigen Systems adressiert.
Zitierte Daten:
https://www.oecd.org/en/data/indicators/hours-worked.html
https://clockify.me/working-hours
https://www.oecd.org/en/publications/taxing-wages-2024_dbcbac85-en.html
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