Bundestag und Bundesrat haben die Schuldenbremse im Grundgesetz reformiert. Es überrascht nicht, dass die Bewertungen dieser Reform unterschiedlich ausfallen. Für die einen kommt die Reform einer Abschaffung gleich, für die anderen geht die Lockerung der Verschuldungsgrenzen nicht weit genug. Für eine ausgewogene Bewertung können drei Kriterien herangezogen werden: erstens ihre strategische Signalwirkung gegenüber Russland, zweitens ihre Anreize für die Priorisierung von Zukunftsausgaben und drittens ihre nachhaltigen Folgewirkungen für die Begrenzung der Staatsverschuldung und die Schuldentragfähigkeit.
Das erste Kriterium betrifft den Umgang mit der neuen sicherheitspolitischen Konstellation und der strategischen Interaktion mit Russland. Russland führt einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen einen souveränen europäischen Staat und wird als Bedrohung für die Existenz von EU-Mitgliedstaaten wahrgenommen. Hinzu kommt, dass die bisherigen Beistandsgarantien der USA im Rahmen der NATO nicht mehr als verlässlich angesehen werden können. In dieser Situation ist es ein wichtiges Signal für die künftige Verteidigungs- und Beistandsfähigkeit, dass das Grundgesetz künftig eine unbegrenzte Schuldenfinanzierung aller deutschen Verteidigungsausgaben oberhalb von einem Prozent des deutschen BIP zulässt. Das an keinerlei demokratische oder rechtsstaatliche Grenzen gebundene Russland kann nicht mehr darauf spekulieren, dass das wirtschaftlich stärkste EU-Land in seinem finanziellen Engagement für die Ukraine und die Verteidigung erlahmt, weil das Grundgesetz Grenzen setzt. Das verändert die strategische Lage zum Nachteil Russlands. Unter diesem ersten Kriterium verdient die Grundgesetzreform die Note „sehr gut“.
Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, der Schaffung von Anreizen für Zukunftsinvestitionen, kann ein „gut bis befriedigend“ vergeben werden. Die nun zusätzlich erlaubte Kreditaufnahme betrifft neben den bereits diskutierten Verteidigungsausgaben vor allem den 500-Milliarden-Investitionsfonds. Problematisch an einem schuldenfinanzierten Investitionsfonds ist, dass die Einrichtung eines solchen Fonds im Kernhaushalt zu einer Vernachlässigung der Investitionen führen kann. Auf dem Papier würden dann Kredite für Investitionen aufgenommen, die aber de facto in der Gesamtbetrachtung für Gegenwartsausgaben wie z.B. Renten zweckentfremdet werden. Hier wurde in den Verhandlungen eine wichtige Absicherung durch eine Zusätzlichkeitsregel erreicht. Der neue Art. 143h GG knüpft die Verwendung des Investitionsfonds an die Bedingung, dass im Bundeshaushalt eine „angemessene“ Investitionsquote beibehalten wird. Diese „Angemessenheit“ wird im Grundgesetz allerdings nicht definiert. Lediglich in der Gesetzesbegründung wird sie mit einer Mindestinvestitionsquote von zehn Prozent im Kernhaushalt beziffert. Insgesamt werden damit zwar richtige Anreize gesetzt, aber die Absicherung ist nicht perfekt. Hinzu kommt, dass es für die neuen dauerhaften Verschuldungsmöglichkeiten der Länder in Höhe von 0,35 Prozent des BIP keine Zusätzlichkeitsregel für Investitionen gibt. Die Länder sind in der Verwendung dieser Mittel völlig frei.
Beim dritten Kriterium, der Sicherung der künftigen Schuldentragfähigkeit, dürfte der Kompromiss mit einem „befriedigend“ gerecht bewertet sein. Wichtig ist hier, dass der Investitionsfonds in Volumen und Laufzeit begrenzt ist. In zehn Jahren läuft der Fonds aus und der Bund sieht sich wieder mit einer verschärften Schuldenbremse konfrontiert. Die Ein-Prozent-Regel für Verteidigungsausgaben gilt aber dauerhaft. Dies entspricht der beschriebenen strategischen Notwendigkeit, wirft aber Fragen der Schuldentragfähigkeit auf. Denn anders als Investitionsausgaben erhöhen Verteidigungsausgaben kaum das Potenzialwachstum und sollten daher eigentlich aus laufenden Einnahmen finanziert werden. Hier wäre es besser gewesen, die genannte Ein-Prozent-Grenze im Zeitablauf anzuheben. Klar ist aber auch, dass keine künftige Bundesregierung hohe Verteidigungsausgaben „aus Vergnügen“ beschließen wird, wenn die Notwendigkeit dafür nicht mehr besteht.
Nach dieser Ad-hoc-Reform ist jetzt eine weitere dauerhafte Reform der Schuldenbremse geplant. Ob es dazu kommt, ist angesichts der veränderten Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ungewiss. Ein Scheitern dieses Reformvorhabens wäre allerdings kein Beinbruch. Mit der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form verfügt Deutschland weiterhin über eine zwar nicht perfekte, aber solide Schuldenregel.
Hinweis: Der Beitrag erschien als Leitartikel in der Fachzeitschrift WiSt (Heft 5 – 6, 2025).
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