Westliche Demokratien unter Druck
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben viele westliche Länder einen tiefgreifenden strukturellen Wandel durchlaufen. Dieser zeigt viele grundlegende Gemeinsamkeiten und verläuft stets nach ähnlichen Mustern: Ein toxischer Mix aus sozioökonomischen Fehlentwicklungen und politischem Versagen erzeugt seit Jahren zunehmende soziale Spannungen. Häufig geht es dabei um die unfaire Verteilung von Globalisierungsgewinnen und Krisenkosten, meist zu Lasten der Mittelschicht. Daraus erwächst gesellschaftliche Spaltung, was zwangsläufig auch zu einer ausgeprägten Polarisierung der Politik führt. Infolgedessen erodiert die Mitte der Gesellschaft, ebenso wie der Status früherer Volksparteien. Eklatante Politikfehler und objektiv schlechtes Regierungshandeln verschärfen diese Dynamik, wie sich zuletzt am Beispiel Deutschlands deutlich zeigt. Als Folge geraten bei den Wählern nicht nur gewählte Regierungen, sondern auch demokratische Prozesse insgesamt immer stärker in Misskredit. Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme befördert populistische Strömungen und verstärkt autokratische Neigungen. Extreme Positionen und radikale Parteien („Bewegungen“) finden wachsenden Zuspruch, was nicht nur den politischen Diskurs einschneidend verändert, sondern – nach einer gewissen Reaktionszeit – auch demokratische Werte und Strukturen destabilisiert. Letztlich entfaltet sich daraus ein zyklischer Prozess („soziodynamische Progression“), der den Anstieg populistischer und autokratischer Strömungen in den letzten Jahren gut erklärt (vgl. Abb. 1).
Nahezu zwangsläufig nimmt in dieser Dynamik die Glaubwürdigkeit eines freiheitlich verfassten Gesellschaftsmodells rapide ab. Letztlich unterliegt die Demokratie so dem Risiko, sich selbst abzuschaffen und es droht ein „Selbstmord der Demokratie“. Dieses alarmierende Phänomen zeigt sich zuletzt in vielen westlich geprägten Systemen (darunter Frankreich) – speziell aber in den USA.
USA bereits auf direktem Weg zur Autokratie
Besonders weit vorangeschritten ist der Niedergang demokratischer Werte in den USA. Schon seit Jahren zeigen Studien für die USA ein extremes Ausmaß an politischer Spaltung. Die Mehrzahl der Amerikaner hat das Vertrauen in die Regierung verloren und sieht die Demokratie als unbrauchbares System, das nicht mehr in der Lage ist, wichtige Probleme zu lösen. Viele US-Wähler lehnen inzwischen das vorherrschende System ab und wünschen sich einen „starken Anführer“ (vgl. Abb. 2).
Mittlerweile befindet sich die älteste Demokratie der modernen Welt auf direktem Weg zu einer Autokratie. Maßgeblich verantwortlich dafür ist der selbsternannte Volkstribun Donald Trump, der seit Jahren das Prinzip der Gewaltenteilung attackiert und demokratische Strukturen untergräbt. Sollte Trump die anstehenden US-Wahlen gewinnen, droht den USA wohl der Umbau in eine Präsidialdiktatur. Denn: nach eigener Aussage würde „Trump reloaded“ sofort damit beginnen, die gesamte Staatsmacht auf seine Person zu konzentrieren. Seine Pläne, bekannt als „Project 2025“, zielen unter anderem darauf ab, demokratische Prozesse auszuhebeln und den administrativen Unterbau der USA zu schleifen. Wichtige Schaltstellen würden mit Trump-Loyalisten besetzt und missliebige Behörden aufgelöst. Justizministerium und FBI würden zur politischen Waffe umfunktioniert, um Widerstand zu unterdrücken und Trump-Gegner mit aller Härte zu verfolgen.
Ein derart massiver „Power Grab“ wäre, wie schon der von Trump gelenkte Sturm auf das US-Kapitol, ein beispielloser Angriff auf die Grundpfeiler der US-Demokratie. Offenen Flankenschutz dafür liefert zuletzt sogar das Oberste Gericht der USA: Einerseits durch erzkonservative und klar parteipolitisch gefärbte Rechtsprechung, andererseits durch neue Grundsatzurteile und „Persilscheine“, die einem Präsidenten Trump 2.0 selbst im Fall eines echten Staatsstreichs absolute Immunität zusprächen.
Folglich markieren die anstehenden Präsidentschaftswahlen einen historischen Wendepunkt in der amerikanischen Politik. Die derzeitige Fragilität des US-Systems ist ein ernstes Alarmsignal für die Zukunft westlicher Demokratien und darf in seiner Tragweite nicht unterschätzt werden.
Europawahl als erwartbarer Schock
Der rapide Verfall der politischen Kultur in den USA ist alarmierend, doch auch in Europa steckt die Demokratie in einer ernsten Krise. Viele Menschen fühlen sich von politischen Eliten gegängelt oder im Stich gelassen und wenden sich alternativen Bewegungen zu. Das Ergebnis zeigt sich im Aufstieg radikaler Kräfte in Italien, Österreich oder den Niederlanden. Ein klares Signal für eine politische Zeitenwende haben auch die Europawahlen 2024 gegeben – mit einem scharfen Rechtsruck, der sich besonders deutlich im Wahlverhalten der jüngeren Generation zeigt. Diese europaweite Tendenz wird zuletzt durch Fragen der inneren Sicherheit und die Herausforderungen einer unkontrollierten Migration maßgeblich geprägt. Besonders einschneidende Ergebnisse gab es in Frankreich, wo die rechtsnationale Partei Rassemblement National (RN) zur stärksten Fraktion aufstieg.
Speziell in Frankreich hat das politische Establishment dabei versagt, die drängenden Probleme des Landes zu benennen und zu lösen. Themen wie soziale Ungleichheit, die Diskrepanz zwischen Stadt und Land, schlechte Infrastruktur, verschleppte Digitalisierung, Inflation, Migration und die Bekämpfung der Kriminalität wurden unzureichend adressiert. Dieses Versäumnis hat das tiefe Misstrauen gegenüber den Eliten verstärkt. Umfragen zufolge glauben 71 Prozent der Franzosen nicht daran, dass ihre Interessen von den etablierten Parteien und Politikern wahrgenommen werden. Diese Entfremdung hat zur Bildung neuer politischer Milieus geführt, die das etablierte System scharf ablehnen und zunehmend rechtsgerichtete Tendenzen entwickeln. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist eng mit Fehlern der etablierten Politik verknüpft, die sich seit Jahren aufgestaut und potenziert haben.
Doch auch in Deutschland zeigt sich eine rapide zunehmende Abkehr der Bürger von etablierten Parteien. Entsprechend erleben „Altparteien“, die früher als staatstragend galten, zuletzt einen beschleunigten Abwärtstrend (vgl. Tab. 1).
Wie weit diese Entfremdung bereits fortgeschritten ist, belegen neuere Umfragen, nach denen 67 Prozent der Bundesbürger die deutsche Gesellschaft als „zerrüttet“ bezeichnen und sogar 70 Prozent den Staat für „überfordert“ halten. Das erkennbare Versagen des Staates in vielen seiner hoheitlichen Aufgaben wird primär den etablierten Parteien und deren Führungspersonal zugeschrieben, mit entsprechenden Konsequenzen an der Wahlurne. Sowohl AfD als auch BSW erfüllen inzwischen offensichtlich für viele Menschen das Kriterium einer „wählbaren Alternative“ – dies haben nicht zuletzt die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sehr klar gezeigt, wo beide Parteien gemeinsam in die Nähe einer Regierungsmehrheit gerückt sind.
Auf dem Weg in ein autoritäres Jahrhundert
Die Welt erlebt derzeit eine tiefgreifende, multidimensionale Transformation, die sich über Jahre hinweg entwickelt hat und durch globale Megatrends weiter an Dynamik gewinnt. Vor allem die Effekte der Globalisierung, aber auch technologischer Fortschritt und demografische Veränderungen haben erhebliche Verschiebungen bewirkt. Diese Entwicklungen haben die gesellschaftliche Dynamik – und damit auch politische Prozesse – nachhaltig verändert. Entscheidend ist dabei meist die Reaktion der Mittelschicht auf die Auswirkungen struktureller Transformationsprozesse – wie etwa Globalisierung oder Energiewende. Weil immer mehr Wähler mit Wut und Frustration auf politische Eliten reagieren, verlieren traditionelle Parteien an Einfluss, während radikale und autoritäre Kräfte erstarken.
Als Konsequenz wird heute in vielen Gesellschaften zunehmend Freiheit für vermeintliche Sicherheit geopfert, in Form eines politischen „Trade-off“ (vgl. Abb. 3). Dieser Prozess einer Einschränkung von Freiheit ist jedoch nicht nur vorübergehend, sondern steht generell für den drohenden Übergang in ein autokratisches Zeitalter. Neben den Bedrohungen der Demokratie „von innen“, also durch im wesentlichen selbstverschuldete Fehler der etablierten Politik, sind es vor allem auch zunehmende Angriffe „von außen“, die zur „Globalen Rezession der Freiheit“ beitragen.
Insbesondere strikt autoritär geführte Länder wie China und Russland erweitern kontinuierlich ihren weltweiten Einfluss und setzen – zusammen mit Diktaturen wie Iran und Nordkorea – westliche Demokratien systematisch unter Druck. Die Ziele dieser vier Länder – auch als CRINKs bezeichnet – richten sich dezidiert gegen den Westen, westliche Werte und das Grundprinzip der Demokratie. Immer unverhohlener agieren die CRINKs dabei als globale „Front gegen die Freiheit“. Deren Druck wird weltweit immer stärker spürbar – und er zeigt zunehmende Erfolge: Mittelmächte wie die Türkei, aber auch aufstrebende bevölkerungsreiche Länder (und nominelle Demokratien!) wie Brasilien und Indien rücken immer stärker in Richtung Autokratie und tragen dazu bei, dass demokratische Werte weltweit an Bedeutung verlieren. Damit droht der Welt, vor allem aber den westlichen Demokratien, der Übergang in ein „autoritäres Jahrhundert“, das viele bislang als sicher geglaubte Freiheiten immer stärker einschränken könnte.
Ein „Superzyklus der Unsicherheit“ – und die Rolle der KI
Eine wichtige Rolle bei der „Rezession der Freiheit“ spielt auch die technologische Entwicklung. Vor allem Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, den bestehenden Trade-off zwischen Freiheit und Sicherheit weiter zu verschärfen. Am Beispiel Chinas zeigt sich schon heute, wie leistungsfähige KI-Systeme genutzt werden, um einen digitalen Überwachungsstaat aufzubauen, der selbst eine Milliardenbevölkerung umfassend kontrolliert und bei Bedarf effizient in Schach hält. Doch KI kann nicht zur Überwachung und Kontrolle genutzt werden, sondern impliziert bereits im Rahmen der eigenen Entwicklungsdynamik eine zunehmende Einschränkung von Freiheiten. KI-Vordenker gehen davon aus, dass eine Beherrschung dieser inhärent komplexen und zugleich exponentiell voranschreitenden Technologie nur möglich sein wird, wenn im Gegenzug individuelle und kollektive Freiheiten immer stärker begrenzt oder gar zurückgedrängt werden.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Westliche Demokratien stehen am Beginn eines „Superzyklus der Unsicherheit“, in dem politische, wirtschaftliche und soziale Instabilitäten zunehmen. Treiber dieser Unsicherheit sind sowohl strukturelle politische Verwerfungen im Innern als auch die immer offener geführten Angriffe autokratischer Kräfte von außen. Ohne entschlossenes Handeln zum Schutz demokratischer Werte droht der Übergang in ein autoritäres Zeitalter, das die Fundamente der liberalen Demokratie ernsthaft gefährden könnte. Die im November 2024 anstehenden Wahlen in den USA könnten dazu bereits eine sehr wichtige Vorentscheidung sein.
Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrags basiert auf einer aktuellen Studie des FERI Cognitive Finance Institute mit dem Titel „Globale Rezession der Freiheit – Die Selbstaufgabe der Demokratie und ihre gefährlichen Folgen“, abrufbar unter https://www.feri-institut.de/content-center.
- Gastbeitrag
Globale Rezession der Freiheit - 14. September 2024 - Gastbeitrag
Echo der Geschichte? - 14. März 2024 - Gastbeitrag
Der Dreifach-Schock einer verfehlten EZB-Politik - 22. Juli 2022