In den kommenden Legislaturperioden vollzieht sich in Deutschland der demografische Wandel, denn die Babyboomer gehen in Rente. Das setzt die umlagefinanzierte Rente unter massiven Druck. Doch keine Partei bietet Lösungen.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 2023/24 alarmierende Zahlen vorgelegt. Wenn das heutige Rentensicherungsniveau von 48 Prozent – also die Rente eines „Durchschnittsrentners“ mit 45 Beitragsjahren im Verhältnis zum durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen – gehalten wird, steigt der Rentenbeitragssatz von derzeit 18,6 Prozent auf über 24 Prozent bis 2060. „Wir stehen zwei, drei Jahre vor einem richtigen Sprung bei den Rentenbeitragssätzen,“ sagte der Wirtschaftsweise Prof. Martin Werding im April 2024 gegenüber dem ZDF.
Die Quadratur des Kreises des Umlagesystems
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt die Dramatik: Seit Ende der 70er-Jahre ist das Rentenniveau von fast 60 Prozent auf heute 48 Prozent gesunken, während der Bundeszuschuss von 15 auf über 100 Milliarden Euro explodiert ist. Bernd Raffelhüschen, Professor an der Universität Freiburg, beziffert die implizite Verschuldung aus der gesetzlichen Rente auf 88 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist mehr als unsere Staatsschuldenquote.
Um das aktuelle Sicherungsniveau zu halten, müssten die Beitragssätze bis 2060 von derzeit 18,6 auf 24 Prozent ansteigen. Gleichzeitig würde der Bundeszuschuss von derzeit 3,1 Prozent auf 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Will man den Beitragssatz begrenzen, um eine Explosion der Lohnnebenkosten zu verhindern, würde der Bundeshaushalt noch stärker bluten. Bereits heute fließt gut ein Viertel des Bundeshaushalts in die Rente – Geld, das für Brücken und Schienen fehlt. Sollen Rentenniveau und Beitragssätze stabil gehalten werden, müssten im Jahr 2060 weitere 20 Prozent des Bundeshaushalts für das Rentendefizit aufgewendet werden.
Ohne Reform enden wir im steuerfinanzierten Umverteilsystem
Eine Rentenpolitik, die durch Haltelinien oder ähnliche Versprechungen ein hohes Rentenniveau bei gleichzeitig niedrigen Beitragssätzen sichern will, entfernt sich immer weiter vom ursprünglichen Äquivalenzprinzip des Systems. Denn sie hebelt die eingebauten Anpassungsmechanismen aus, die steigende Defizite begrenzen könnten. Implizit verfolgt die Politik damit die Vision eines steuerfinanzierten Umverteilungssystems zugunsten der Alterssicherung der Pflichtversicherten.
Entsprechend besteht die Gefahr, dass diese Defizite die Handlungsfähigkeit des Staates in Zukunft stark einschränken. Bei allem Lärm um den Stabilitätsgaranten der Schuldenbremse sollte klar sein: Langfristige Stabilität und Handlungsfähigkeit des Staates hängen auch vom Mut zu großen Reformen der sozialen Sicherungssysteme ab.
Was also sagen die Parteien zu den Reformoptionen? Die Auswertung der aktuellen Wahlprogrammentwürfe von Union, AfD, SPD, und Grünen ist einfach, da sie nur rund eine Seite diesem Thema widmen – die FDP nur eine halbe Seite, das Bündnis Sahra Wagenknecht zwei kurze Absätze.
Rentenpolitik der Verheißungen
Dabei ist weniger interessant, was die Parteien fordern, sondern was sie nicht tun. Die Koppelung des Renteneintrittsalters an die fernere Lebenserwartung, eine der zentralen Empfehlungen aller Rentenexperten, wird von keiner Partei thematisiert. In vielen anderen Ländern ist dies sogar automatisch der Fall – im oft als vorbildlich bezeichneten Schweden ebenso wie im oft belächelten Italien. Union und SPD sprechen sich ausdrücklich für die Beibehaltung des heutigen Renteneintrittsalters aus. Union, SPD, AfD und Grüne halten sogar an der „Rente mit 63“ fest.
Keine Partei thematisiert die Scharfstellung des Nachhaltigkeitsfaktors, der vor der Einführung der Haltelinien eine generationengerechte Verteilung der Alterungslasten zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern regelte. Der vom Sachverständigenrat angemahnte Reformbedarf bei den Erwerbsminderungs- und Witwenrenten wird in keinem Wahlprogramm erwähnt.
Das Warten auf ein Wunder
Dagegen wünschen sich alle Parteien eine hohe (Vollzeit-)Beschäftigung zu guten Löhnen. Die meisten Parteien wollen Anreize für einen flexiblen Renteneintritt und für das Arbeiten im Rentenalter setzen. Die Grünen und die FDP erwähnen den Einstieg in die Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Alle Parteien wollen Anreize zur privaten Altersvorsorge und Vermögensbildung setzen. Nichts davon ist falsch, nichts davon ist schmerzhaft, aber nichts davon kann – von einem (Wirtschafts-) Wunder abgesehen – für sich genommen die Rente langfristig auf eine tragfähige Basis stellen.
SPD, Union und Grüne thematisieren die teilweise Einbeziehung der 3,6 Millionen Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Die Grünen wollen auch die 2,1 Millionen Beamtinnen und Beamten einbeziehen und verfolgen die Vision einer für alle verpflichtenden Bürgerversicherung – wie in der Schweiz. Allerdings muss klar sein, dass der Ausweitung des Kreises der Beitragszahler später auch Leistungsansprüche gegenüberstehen. Die zusätzlichen Beitragseinnahmen müssten daher eigentlich zurückgelegt werden.
Zeit für eine Expertenkommission
Wie der Sachverständigenrat skizziert hat, müssen für eine zukunftsfeste Alterssicherung mehrere ineinandergreifende Maßnahmen kombiniert werden – und zwar in einer weit radikaleren Reformkur, als es die Wahlprogramme suggerieren. Im Parteienwettbewerb scheint eine solche umfassende Reformlösung nicht zu entstehen. Die nächste Bundesregierung sollte daher erneut auf das Instrument einer Expertenkommission zurückgreifen, um ein umfassendes und konkretes Reformkonzept zu erarbeiten und die fiskalische Überforderung des Staates abzuwenden.
Quellen:
Blog-Beiträge zum Thema:
Norbert Berthold (JMU, 2024): Rentenpolitische Raubüberfälle. Leben die Boomer auf Kosten der Kinder anderer Leute?
Podcast zum Thema:
Rentenreform à la Sachverständigenrat. Verteilungspolitische Vorschläge führen in die Irre
Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU Würzburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen (ALU Freiburg)