Die vielen Sanktionspakete haben Russland nicht „ruiniert“, der Krieg wurde nicht beendet, und das Putin-Regime ist weiter an der Macht. Zwar können Sanktionen die Wirtschaft der Ziellandländer lähmen und viele Bürger verarmen lassen. Doch können sie zugleich deren Regime stärken und stabilisieren. Aus polit-ökonomischer Sicht ist es deshalb naiv anzunehmen, Autokraten fürchteten sich vor Sanktionen. Vielmehr können sie diese strategisch zu Machterhalt im eigenen Land nutzen.
Sanktionen stärken ein Regime über wenigstens zehn Mechanismen:
Erstens wirken Sanktionen wie verordneter Protektionismus. Dieser schwächt bekanntlich die Wirtschaft insgesamt, aber es gibt auch Gewinner. Sanktionen erschweren Importe sowie Aktivitäten ausländischer Firmen, was den inländischen Anbietern zugutekommt. Diese gehören oft Regimemitgliedern oder werden von ihnen kontrolliert.
Zweitens verschafft die Sanktionierung dem Regime einen Freipass, selbst Importe und Exporte zu beschränken und gezielt Ausnahmebewilligungen an Freunde zu vergeben.
Drittens kann das Regime knappe Güter rationieren. Wer das wenige Vorhandene verwalten und zuteilen kann, hat Macht und kann die Kollaboration vieler Bürger erzwingen.
Viertens bringen Preisunterschiede zwischen dem Inland und dem Weltmarkt Schmuggel mit hohen Gewinnen. Die Sanktionen erleichtern es dem Regime den Schmuggel zu kontrollieren und die Gewinne abzuschöpfen.
Fünftens verkaufen ausländische Unternehmen, die sich aus sanktionierten Ländern zurückziehen, ihre Anlagen und Beteiligungen. Käufer sind zumeist regimetreue Kreise oder sogar staatliche Akteure.
Sechstens schränken Sanktionen oft den persönlichen Austausch und die Auswanderungsmöglichkeiten in den Westen ein. Dadurch sind die Bürger noch stärker dem Regime ausgeliefert.
Siebtens wird der ehemals freie Handel mit dem Westen durch einen staatlich kontrollierten Handel mit anderen Ländern ersetzt, im Falle Russlands oft mit China. Das ist für die Regierungen der beteiligten Länder interessant und lukrativ.
Achtens spielen auch gezielte „smart sanctions“ dem Regime oft in die Hände, etwa wenn Finanztransaktionsverbote die anvisierten Oligarchen und Unterstützer des Regimes von diesem noch abhängiger machen.
Neuntens erschweren es Sanktionen der Opposition, aktiv gegen das Regime aufzutreten. Sie leidet besonders unter Rationierung, internationaler Kontrolle des Schmuggels und eingeschränkten Finanzierungs- und Migrationsmöglichkeiten.
Zehntens lähmen die sanktionsbedingte Verarmung bei gleichzeitiger Stärkung des Regimes die Anreize der Bürger, gegen das Regime aufzubegehren. Sie wissen, dass auf ein autokratisches Regime selten eine demokratische, bürgerorientierte Regierung folgt. Stattdessen drohte bei einem Sturz des Regimes ein institutionelles Vakuum mit unabsehbaren Folgen bis hin zum Bürgerkrieg. Daher arrangieren sich die Bürger oft mit dem Regime.
Dass Sanktionen ein Regime stärken können, heißt nicht, dass sie für den Westen unattraktiv sein müssen. Sie können längerfristig das militärische Potential des Ziellandes senken. Allerdings erleichtern sie es dem Regime, die Armee für seine Zwecke zu missbrauchen. Gleichwohl könnte im konkreten Fall von Russland der militärische Konflikt mitunter dank den westlichen Sanktionen auf die Ukraine beschränkt bleiben. Zudem dürfte auch der Westen ein stabiles Regime gegenüber einem institutionellen Vakuum in Russland vorziehen.
Eine Alternative zu Sanktionen wäre, ein Regime gezielt zu schwächen. Im Falle des Putin-Regimes böten sich mehrere Wege an. Mittels einer Art Kronzeugenregelung könnte mutmaßlichen russischen Regimeunterstützern die Möglichkeit geboten werden, sich vom Regime loszusagen, sich ins Ausland abzusetzen und dabei wichtige Informationen über das Handeln des Regimes preiszugeben. Allgemein könnte die Emigration für das Regime besonders systemrelevanter Personen aktiv gefördert werden. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, mit ihren Füßen gegen den Kreml zu stimmen und das Regime so zu schwächen. Zuletzt wäre auch eine militärische Schwächung ohne Waffen möglich: Wenn Soldaten glauben, dass sie in Gefangenschaft human behandelt werden, sind sie eher bereit, sich zu ergeben. Daher könnte der Ukraine angeboten werden, gefangene russische Offiziere für die Dauer des Konflikts im Ausland in Obhut zu nehmen. Schlecht motivierte russische Offiziere dürften gerne von dem Angebot einer Kriegsgefangenschaft im Westen Gebrauch machen.
Hinweis: Der Kommentar erscheint als Leitartikel in Heft 4 (2023) der Fachzeitschrift WiSt.
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