Gastbeitrag
Standort Deutschland unter Druck
Aber die Politik zögert und zögert

Deutschland ist seit Jahren in wirtschaftlicher Stagnation gefangen. An den Fakten kann es keinen Zweifel geben. Schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme werden nicht reichen. Dennoch fehlt der Mut, Reformen anzugehen

Die Wachstumsschwäche in Deutschland hält seit nunmehr sechs Jahren an und sie ist allerorten zu spüren – Wohlstandsverluste beim Pro-Kopf-Einkommen, große Fehlbeträge und steigende Beitragssätze in den Sozialversicherungszweigen, steigende Arbeitslosigkeit. Millionen Menschen werden durch Arbeitslosenunterstützung und Bürgergeld aufgefangen, obwohl am Arbeitsmarkt Kräfte gesucht werden. An dem Ernst der Lage sollte es also keinen Zweifel mehr geben.   

Und auch bei den Ursachen sollte es eigentlich Klarheit geben. Die wirtschaftlichen Probleme sind großenteils hausgemacht. Deutschland hinkt im Vergleich zu allen vergleichbaren Volkswirtschaften hinterher. Weltweite Entwicklungen wie Covid, der Energiepreisschock von 2022 oder der aktuelle Zollkrieg haben ja alle Länder mehr oder weniger stark getroffen.  

Die Probleme der deutschen Wirtschaft liegen auch nicht allein an den über viele Jahre zu geringen öffentliche Investitionen, die man mit den Verschuldungspaketen kräftig anheben will. Wie in zahllosen Standortvergleichen dargelegt, sind es hohe Kosten (Energiekosten, Lohnkosten, Lohnzusatzkosten), ein zu geringes Fachkräfteangebot, mit die höchsten Steuern und lähmende Bürokratie, die die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland mindern und ihn zunehmend unattraktiv erscheinen lassen.  

Das wird auch von Mitgliedern der aktuellen Regierung häufig betont. Doch die Reformbemühungen bleiben zaghaft. Einzelmaßnahmen wie u.a. Abschreibungserleichterungen, Subventionen für die e-Mobilität und ein Industriestrompreis werden kaum ausreichen, um einen deutlichen Wachstumsschub auszulösen. Jedenfalls zeichnet sich trotz medienwirksamer Investitionsgipfel an den Indikatoren bisher nicht ab, dass die Unternehmen deutlich mehr investieren und Beschäftigung aufbauen wollen.  

Ein größerer Handlungsdruck wird in der Regierung offenbar nicht gesehen. Unbequeme Maßnahmen werden gemieden. Man gewinnt den Eindruck, dass es sich nicht in erster Linie um Umsetzungsprobleme, sondern eher um ein Erkenntnisprobleme handelt, warum in Deutschland so wenig passiert.  

Entrüstung über berechtigte Forderungen der Wirtschaftsministerin

Beispielhaft dafür waren die selbst im Regierungslager teilweise entrüsteten Reaktionen auf Aussagen der Wirtschaftsministerin zur Arbeitszeit in Deutschland. Katherina Reiche hatte mit Verweis auf die sehr niedrigen durchschnittlichen Arbeitsstunden in Deutschland gefordert, dass wir „mehr und länger arbeiten“. Was ist falsch an dieser Aussage? Nichts. Ein steigendes Arbeitsvolumen ist erforderlich, um Wirtschaftswachstum zu erzeugen und um die prekäre Finanzlage der Sozialversicherungen und des öffentlichen Haushalts zu verbessern. Es gibt verschiedene Wege, das zu erreichen – über eine geringere Teilzeitquote insbesondere bei Frauen, über längere Wochenarbeitszeiten, späteren Renteneintritt oder die Aktivierung bisher nicht erwerbstätiger Menschen etwa aus dem Arbeitslosenbezug oder dem Bürgergeld.  

Wohlfeile Kritiker wenden ein, der viel klügere Weg zu Wachstum sei eine Erhöhung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität ohne Steigerung des Arbeitsvolumens. Gute Idee! Nur leider widerspricht sie der Realität der letzten Jahre – wir schaffen es nicht die durchschnittliche Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Seit 2022 ist sie in Deutschland gar nicht mehr gestiegen, sondern sogar leicht gesunken. Um wieder mehr Produktivität zu erzeugen, bedarf es gerade der Reformen, die die Rahmenbedingungen für Investitionen, Innovationen und generell den technischen Fortschritt in Deutschland verbessern.  

Im Bereich der Rentenversicherung laufen die jüngsten Maßnahmen dem Ziel von mehr Beschäftigung und höheren Investitionen sogar entgegen. Es wurde an Verbesserungen der Rente wie der sogenannten “Rente mit 63“ festgehalten und neue Steigerungen wie die Mütterente 3 und die Haltelinie bei 48 Prozent beschlossen. Mit letzterer setzt man frühere Reformen wie den Nachhaltigkeitsfaktor für einige Jahre außer Kraft, der die steigende Zahl an Rentenempfängern durch etwas geringere Zuwächse zugunsten der kleiner werdenden aktiven Generation an den demografischen Belastungen beteiligt. Dass diesen Beschlüssen zur Rentensteigerungen dann eine Diskussion über einen notwendigen „Boomer-Soli“ folgt, kann man nur als absurdes politisches Theater bezeichnen.  

Maßnahmen zur Steigerung des Rentenniveaus haben Folgen: Sie erhöhen den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung – schon ein Drittel des Bundeshaushalts – und steigern die Beitragsätze für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der Staat wird mit zusätzlichen konsumtiven Ausgaben belastet, den Beitragszahlern bleibt weniger Netto vom Brutto und die Arbeitsnachfrage der Unternehmen wird sinken. Mit einem Vorrang für öffentliche Investitionen und mehr Beschäftigung ist das nicht vereinbar.   

Deindustrialisierung wird politisch toleriert und verstärkt

Die nachteiligen Wettbewerbsbedingungen in puncto Kosten, Steuern und bürokratische Regulierung bekommt vor allem die Industrie zu spüren. Auch in 2025 hat sich der Prozess der Deindustrialisierung in Deutschland fortgesetzt. Die Industrieproduktion lag im Juni 2025 um nicht weniger als 18 Prozent unter dem entsprechenden Wert von 2018. Der Rückgang ist weitaus stärker als in anderen Ländern. Er wird auch nicht dadurch entschärft, dass in manchen Industriebereichen mehr Dienstleistungen mit den Waren verkauft werden.  

Zahlreiche Faktoren kommen in dieser Entwicklung zusammen. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die Energiepreise und damit energiepolitische Entscheidungen. Mit der Stilllegung der Atomkraft- und weiterer Kohlekraftwerke wurden den Unternehmen und privaten Haushalte eine kostengünstige Stromversorgung durch Sonne und Wind versprochen. Tatsächlich aber sind die Strompreise in Deutschland derzeit mit die höchsten unter den entwickelten Ländern und sie wären noch höher, wenn der Staat nicht bereits erhebliche Kosten vom Stromverbraucher auf den Steuerzahler verlagert hätte (z.B. EEG-Umlage, Netzumlagen). Es ist auch nicht absehbar, dass die Strompreise bald sinken werden, denn die Systemkosten der Energiewende sind beträchtlich und das hätte von Beginn an klar sein müssen. Sie umfassen nicht nur den Aufbau von Windparks und Solaranlagen, sondern auch die dringende Errichtung eines Verteilungsnetzwerks, die Schaffung ausreichender Speicherkapazitäten und die Kosten zusätzlicher Gaskraftwerke als Reservekapazitäten.  

Der Umbau des Energiesystems wird die Steuerzahler und Energieverbraucher noch viele Milliarde kosten, damit die erneuerbaren Energien effizient genutzt werden können und es, bildlich gesprochen, nicht dabei bleibt, dass Windparks bei hoher Solarstromproduktion abgeschaltet werden, weil der Strom nicht gebraucht wird, die Systeme überlastet sind oder dem Betreiber die Erträge nicht reichen. Die deutsche Energiewende ist alles andere als ein leuchtendes Beispiel für andere Länder. Vor allem tragen hohe Energiepreise seit Jahren wesentlich dazu bei, dass industrielle Produktionskapazitäten zurückgefahren oder ins Ausland verlagert werden und der CO2 Ausstoß eben dort stattfindet. Von dieser Warte aus entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Ampelregierung die Transformation zur Klimaneutralität als großen Wachstumskatalysator für die Wirtschaft verkauft hat. Der Wunsch war wohl Vater des Gedankens. Inzwischen ist die Energiewende sehr teuer geworden, und es bedarf, wie vom Wirtschaftsministerium angekündigt, eines Realitätschecks mit Kostenbewusstsein und Technologieoffenheit, um die Belastungen zu begrenzen.   

Infrastrukturprogramme greifen nicht ohne Reformen

Der Vorrang für Investitionen ist schon jahrzehntelang in der Bundesrepublik vernachlässigt worden, auch wenn er wahrscheinlich in jedem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien gestanden hat. Die öffentlichen Investitionen liegen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in etwa auf dem gleichen Niveau wie vor 30 Jahren, während der Anteil der Sozialausgaben stark gestiegen ist. Da den öffentlichen Investitionen keine Priorität gegeben wurde, ist die Infrastruktur veraltet und nicht mehr richtig wettbewerbsfähig. Man kann das schuldenfinanzierte Infrastrukturpaket der aktuellen Regierung dennoch nur unter der Bedingung rechtfertigen, dass es gelingt, wirklich zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur zu lenken und sie gezielt auf wachstumsrelevante Bereiche zu konzentrieren.  

Zu warnen ist auch vor der Vorstellung, dass allein eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur zu nachhaltigem Wachstum führen wird. Ohne strukturelle Reformen wird das nicht gelingen. Die Nachteile des Standorts Deutschland im Hinblick auf Kostenstrukturen, Steuern, Bürokratie und Arbeitsangebot müssen reduziert werden. Im Herbst dieses Jahres etwa stehen Sozialreformen auf der politischen Agenda, die dafür eine Chance bieten. Zum einen sollten Wege gefunden werden, die sehr hohen Sozialversicherungsbeiträge abzusenken, die zu einer Einkommens- und Beschäftigungsbremse geworden sind.

Zum anderen geht es darum, Arbeitsanreize und Arbeitschancen für diejenigen zu erhöhen, die über die Arbeitslosenversicherung und das Bürgergeld staatliche Transfers empfangen. Das Ziel sollte es sein, die inzwischen massive Belastung für die öffentlichen Haushalte zu reduzieren und zugleich die Angebotsengpässe am Arbeitsmarkt zu mildern. Ob das in der aktuellen Koalition möglich sein wird, bleibt abzuwarten. 

Immenses Potential mit marktwirtschaftlichen Reformen

Diejenigen, die sich in den Parteien der Mitte aus Unkenntnis über volkswirtschaftliche Zusammenhänge oder wegen politischer Zielprioritäten gegen marktwirtschaftliche Reformen stellen, sollten das dringend überdenken. Der Handlungsdruck in Deutschland ist immens, um einen weiteren wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands zu verhindern. Ohne wirtschaftliches Wachstum wird der Sozialstaat längerfristig in Gefahr geraten, und ohne Einkommenssteigerungen werden auch die politischen Ränder im Parteienspektrum weiter an Gewicht gewinnen.  

Der Stillstand ist auch deswegen enttäuschend, weil Deutschland ein so großes wirtschaftliches Potential hat. Es gibt exzellente Fachkräfte und enormes Knowhow in den Firmenbelegschaften, die zumeist eine hohe Loyalität zu ihren Unternehmen haben. Und Deutschland verfügt über eine große Zahl von wettbewerbsstarken Unternehmen, die oft in Clustern zusammenarbeiten. Dabei handelt es sich um kleine, mittlere und auch große Unternehmen, oft in traditionellen Branchen. Da nicht absehbar ist, dass in Deutschland Firmen wie Alphabet, Microsoft oder Nvidia heranwachsen werden, ist es umso wichtiger, die Bedingungen für die vorhandenen Unternehmensstrukturen in Deutschland zu verbessern und damit ihre Investitions- und Innovationsbereitschaft hier am heimischen Standort zu fördern.  

Wenn das geschieht, ist es durchaus möglich, dass Deutschland wieder auf einen Wachstumstrend von 2 Prozent kommt, was den Wohlstand und die Situation in den Sozialversicherungssystemen und den öffentlichen Haushalten grundlegend verbessern würde. Um zu einer solchen Wachstumsentwicklung zu kommen, braucht es vor allem Investitionen und Innovationen der Unternehmen am Standort Deutschland. Mit einem wachsenden und modernen Kapitalstock, dadurch steigender Produktivität und zusätzlichem Arbeitsvolumen wären solche Wachstumsraten keine Utopie. Es muss nur gehandelt werden.  

Hinweis: Der Beitrag erschien am 8. September 2025 im „The European“.

Podcast zum Thema:

Deutschland wächst nicht mehr. Was ist zu tun, was zu lassen?

Prof. (em.) Dr. Norbert Berthold (JUM) im Gespräch mit Prof. Dr. Oliver Holtemöller (IWH)

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