Wenn der Staat der Eigentümer von Kernkraftwerken wäre, dann sollte er sich Gedanken machen über die Laufzeit der Kraftwerke. Wenn der Staat zugleich zuständig wäre für die Regulierung der Kernkraft, dann käme er in einen unguten Zielkonflikt. Denn eine schärfere Regulierung in Bezug auf Sicherheitsanforderungen würde die ökonomisch sinnvollen Restlaufzeiten vermutlich verkürzen, da sie die Grenzkosten der Stromgewinnung aus Kernkraft erhöhen würden. Der Staat wäre also hin- und hergerissen zwischen seinem Interesse an möglichst hohen Gewinnen aus den Kernkraftwerken einerseits und einer möglichst wirkungsvollen Durchsetzung der Regulierungen andererseits. Es trifft sich gut, dass dem deutschen Staat dieser Zielkonflikt erspart bleibt, denn er ist zwar Regulierer, aber nicht Betreiber der Kernkraftwerke. Er kann sich damit auf seine hoheitliche Aufgabe konzentrieren und kann die Entscheidung darüber, welche Kraftwerkslaufzeiten zu diesen Regulierungen passen, unbesorgt den Energieversorgungsunternehmen überlassen.
Ohne Not (und ohne Sinn und Verstand) hat sich der Staat aus dieser komfortablen Lage herausmanövriert. Natürlich ist er nach wie vor für die Regulierung der Kernkraft zuständig, aber er fühlt sich mittlerweile auch noch zuständig für die Laufzeit der Kraftwerke. Jetzt ist der Zielkonflikt da. Der Streit innerhalb der Politik geht jetzt nicht etwa darum, wie der Staat aus dieser selbst gestellten Zwickmühle wieder herauskommen kann, sondern nur noch darum, ob die Laufzeitverlängerung zehn, zwölf, fünfzehn oder zwanzig Jahre betragen oder ganz entfallen sollte. Es ist schwer nachvollziehbar, wie eine ganze Nation derart am Thema vorbei diskutieren kann.
In der Energiepolitik gilt, wie in anderen Lebensbereichen auch, dass die Rolle des Regelsetzers und Schiedsrichters nicht mit der des Mitspielers vermengt werden sollte. Wenn der Schiedsrichter ein Eigeninteresse daran bekommt, wer am Ende des Spiels der Gewinner ist, dann resultieren daraus zwangsläufig inferiore Spielregeln und fast zwangsläufig ein inferiores Spielergebnis.
Es ist übrigens keineswegs ausgemacht, dass bei einer Konzentration des Staates auf die Regulierung der Kernkraft längere Laufzeiten für die Atommeiler herauskommen würden. Insbesondere bei der Endlagerung des atomaren Restmülls sind nach wie vor derart viele Fragen unbeantwortet, dass eine ernsthafte und politisch mehrheitsfähige Regulierung in diesem Bereich sogar zu einer drastischen Reduzierung der Restlaufzeiten führen könnte. Möglicherweise fallen die Antworten, die auf die Frage nach der atomaren Endlagerung von Politik und Wirtschaft gegeben werden, auch deshalb so verschwommen aus, weil sich die Politik zu weit von ihrer eigentlichen Aufgabe als Regulierer entfernt hat und zu sehr die unternehmerischen Abläufe in der Energiewirtschaft mitbestimmen will.
Es ist auch keineswegs ausgemacht, dass der Staat weniger Steuereinnahmen erzielen würde, wenn er sich auf seine Regulierungsaufgabe beschränken und die Frage der Rest-laufzeiten den Unternehmen überlassen würde. Wenn Unternehmen aus längeren Lauf-zeiten höhere Gewinne erzielen und diese Gewinne letztlich Ausdruck unvollkommenen Wettbewerbs in einem politisch geschützten Markt darstellen, dann ist nichts Marktwidriges dabei, diese Monopolgewinne, die bei funktionierendem Wettbewerb gar nicht anfallen würden, mit höheren Steuern abzuschöpfen. Dies müsste nicht unbedingt, wie es derzeit diskutiert wird, mit einer Sondersteuer für die Energiewirtschaft geschehen, sondern könnte verfassungsrechtlich und steuersystematisch wesentlich unproblematischer mit Hilfe von Konzessionsabgaben erfolgen.
Auch das Argument, verlängerte Laufzeiten bei Kernkraftwerken würden die zarten Pflänzchen der erneuerbaren Energien niedertrampeln, erscheint nicht stichhaltig. Zwar ist es richtig, dass ein stärkerer Einsatz erneuerbarer Energien unabdingbar sein dürfte, um die klimapolitischen Ziele der CO2-Reduzierung nachhaltig erreichen zu können. Eine Politik, die sich diesem Ziel verpflichtet fühlt, sollte jedoch nicht direkt in die technologische Entwicklung eingrei¬fen, sondern möglichst marktkonforme Steuerungssignale einsetzen. Ein solches Signal wäre die konsequente Erhebung einer CO2-Steuer beziehungsweise die konsequente Begrenzung des CO2-Ausstoßes durch Emissionszertifikate. Wenn dies tatsächlich flächendeckend für alle Energieträger und für alle Wirtschaftszweige durchgesetzt würde, dann käme es vermutlich zu einer drastischen Verteuerung der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen, wodurch die regenerativen Energien (und natürlich auch die Kernkraft), die keine CO2-Steuer entrichten müssten und keine Emissionszertifikate benötigen würden, automatisch an relativer Wettbewerbsfähigkeit gewönnen. Eine solche integrierte Energie¬politik würde für den Klimaschutz mehr bewirken als alle Forschungsförderungsprogramme für die Förderung regenerativer Energien zusammengenommen.
Insgesamt erinnert die Debatte um die Laufzeiten der Kernkraftwerke fatal an die Abwrackprämie: Damals lobte der Staat Prämien dafür aus, funktionsfähige Autos zu zerstören – also dafür, Vermögenswerte zu vernichten. Auch diesmal geht es um die Vernichtung von Vermögenswerten, und zwar um Kernkraftwerke, die vom Netz genommen werden müssen, auch wenn sie technisch voll funktionsfähig sind und allen staatlichen Sicherheitsauflagen genügen. Das Kernproblem liegt vermutlich wieder einmal darin, dass Politiker sich selbst gern als kompetente Macher darstellen, die den Lauf der Dinge tatkräftig beeinflussen. Die Rolle des reinen Regulierers, der sich auf das Setzen effizienter Spielregeln beschränkt und die erfolgreiche Anpassung an diese Spielregeln den unternehmerischen Akteuren im Markt überlässt, ist wesentlich weniger beliebt.
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