Lokführer schaffen sich ab

Die Lokführer streiken. Doch je heftiger sie streiken, desto heftiger sägen sie an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen.

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ – diese Zeilen aus dem Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein aus dem Jahr 1863 würde gut als Motto für die aktuellen Streiks der Lokführer taugen. Denn die Räder der Bahn stehen ja im wörtlichen Sinne still, und der Arm von Claus Weselsky vermittelt  tatsächlich den Eindruck der Stärke. Wir erleben gerade den fünften Warnstreik in der gegenwärtigen Tarifrunde, und weitere „Wellenstreiks“ stehen offenbar in Vorbereitung.

Dabei wäre die Deutsche Bahn natürlich unbeeindruckt, wenn Weselsky allein in den Streik treten würde. Offenbar steht die Mehrheit der Mitglieder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) immer noch hinter ihrem Vorsitzenden. Seine Beschlüsse werden von den allermeisten Lokführern befolgt. Und bei der letzten Urabstimmung am 19. Dezember 2023 stimmte eine überwältigende Mehrheit von 97 Prozent der GDL-Mitglieder für unbefristete Streiks. Der Verdruss der Bahnreisenden geht also nicht allein auf die Person Weselsky zurück, sondern auf die Gruppe der Lokführer.

Die Lokführer sind sich offenbar nicht recht im Klaren darüber, dass sie  eifrig an dem  Ast sägen,  auf dem sie selbst sitzen. Die Bahn  wird sich wohl kaum dauerhaft in Geiselhaft einer einzelnen Berufsgruppe nehmen lassen.  Dabei wird ihre Gegenwehr aller Voraussicht nach eine starke technologische Komponente aufweisen. Vermutlich ist der weitverbreitete Hype um die künstliche Intelligenz (KI) übertrieben (Erinnerungen an die Dotcom-Blase der späten 1990er Jahre werden wach), aber das Potential, knappe Fachkräfte durch IT-gestützte Automatisierungstechnologien zu ersetzen, dürfte immens sein.  Dies gilt vermutlich auch und gerade für den Verkehrsbereich.

In der  öffentlichen Debatte um das  autonome Fahren stehen die Perspektiven für den Straßenverkehr im Vordergrund. Hier tut sich viel, aber bis zur  breiten Anwendung in der Praxis dürfte noch einige Zeit vergehen. Im Bahnverkehr dagegen sind die technischen Hürden beim Einstieg in das autonome Fahren erheblich niedriger. Die Anforderungen an Fahrzeuglenker sind  im Schienenverkehr ungleich niedriger als im Straßenverkehr. Salopp ausgedrückt liegen die Aufgaben eines Lokführers im Kern beim Beschleunigen und Bremsen sowie bei der angemessenen Beachtung der verschiedenen Streckensignale. Die Automatisierung dieser Tätigkeiten dürfte von überschaubarer technologischer Komplexität sein, zumal die automatische Signalerfassung und –verarbeitung im Fernverkehr der Bahn schon heute weit fortgeschritten ist.

Vielleicht  ist diese Einschätzung der Kernaufgaben eines Lokführers allzu salopp, denn es wird gute Gründe dafür geben, dass die  Ausbildung zu diesem Beruf regulär auf drei Jahre angelegt ist und selbst für Quereinsteiger rund ein Jahr beträgt. Die Lizenz zum Führen eines Straßenfahrzeugs ist deutlich schneller zu erlangen, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass die Komplexität der Lokführung doch etwas höher sein dürfte. Dennoch liegen schon heute die anspruchsvollsten Aufgaben im Bahnverkehr vor allem bei den Stellwerken und weniger beim Fahrbetrieb.

Im November 2022 konnte der französische Lokomotivhersteller Alstom zusammen mit dem niederländischen Infrastrukturbetreiber ProRail und der belgischen Güterbahn Lineas eine vollautomatische Rangierlok vorführen. Und in Nürnberg (wo die legendäre „Adler“ im Jahr 1835 den Beginn des Eisenbahnzeitalters in Deutschland einläutete) sind die  Arbeiten der Technischen Hochschule zum autonomen Fahren im Rangierdienst weit fortgeschritten. Eine bereits im Jahr 2017 vorgelegte Machbarkeitsstudie der TH Nürnberg zeigt, dass die autonom fahrende Rangierlok keineswegs eine ferne Zukunftsvision ist.

Dem Vernehmen nach ist die Automatisierung des Zugverkehrs auf dem größten Rangierbahnhof Europas in Maschen bei Hamburg schon so weit vorangeschritten, dass sich eine erste Rangierlok bereits im Dickicht des dortigen Schienennetzes hoffnungslos verirrt hat und seitdem unauffindbar verschwunden ist. Besser belegt sind dagegen fahrerlose U-Bahnen, die seit dem Jahr2008 in Nürnberg und seit dem Jahr 2022 unter anderem auch in Hamburg im regulären Fahrbetrieb im Einsatz sind.

Wie rasch die Deutsche Bahn den führerlosen Zugverkehr vorantreiben wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie groß der Problemdruck für das Unternehmen im Zuge der aktuellen Tarifauseinandersetzungen ausfällt. Im Sommer 2024 wird GDL-Führer Claus Weselsky voraussichtlich in Rente gehen. Wenn er seinen gegenwärtigen Kurs in bisheriger Härte fortführt, dürften ihm bald viele der von ihm vertretenen Lokführer in den (allerdings unfreiwilligen) Ruhestand folgen.

Henning Klodt

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