In Deutschland unterliegen Kapitalerträge seit 2009 der Abgeltungsteuer. Sie vereinfacht die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, die zuvor im Rahmen der Einkommensteuer erfolgte. Aufgrund des relativ niedrigen und einkommensunabhängigen Steuersatzes scheint die Abgeltungsteuer Kapitaleinkommen gegenüber Arbeitseinkommen zu bevorzugen. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Die Abgeltungsteuer belastet Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden, Kursgewinne), die den Sparerpauschbetrag von 1.000 Euro pro Person zur Abgeltung der Werbungskosten überschreiten. Der Steuersatz beträgt 25 % plus 5,5 % Solidaritätszuschlag, was zu einem scheinbar moderaten Gesamtsteuersatz von 26,375 % führt. Der Steuersatz bezieht sich allerdings auf nominale Kapitalerträge. Diese sind jedoch kein adäquater Indikator für die aus Kapitaleinkommen resultierende steuerliche Leistungsfähigkeit.
Einkommensbesteuerung bei Inflation
Die Reinvermögenszugangstheorie definiert alles als Einkommen, was dem Reinvermögen (Vermögen minus Schulden) eines Steuerpflichtigen innerhalb eines bestimmten Zeitraums zugeflossen ist, unabhängig von der Quelle oder Regelmäßigkeit des Einkommens. Über die steuerliche Leistungsfähigkeit des Einkommens entscheidet nicht der nominale, sondern der reale Reinvermögenszugang. Die steuerliche Leistungsfähigkeit ändert sich also nicht, wenn das Nominaleinkommen mit der Inflationsrate steigt, das Realeinkommen jedoch konstant bleibt. Die Fokussierung auf den realen Vermögenszugang empfiehlt sich unabhängig davon, ob eine synthetische Einkommensteuer vorliegt, die alle Einkommensarten erfasst, oder ob verschiedene Einkommensarten differenziert besteuert werden.
Allerdings lässt die Umsetzung des Konzepts zu wünschen übrig. Im Rahmen der persönlichen Einkommensteuer wird nur der Grundfreibetrag, der das Existenzminimum steuerfrei stellt, zum Ausgleich der kalten Progression jährlich angepasst. Leider gilt das nicht für alle Eckwerte des progressiven Einkommensteuertarifs, so dass oberhalb des Grundfreibetrags die reale Steuerbelastung auch bei unverändertem Realeinkommen steigt. Durch jährliche Inflationsbereinigung aller Tarifzonen (Tarif auf Rädern) sowie Anpassung aller nominal fixierten Frei- und Pauschbeträge ließe sich die reale Steuerbelastung relativ einfach stabilisieren. Daran haben Politiker aber kein großes Interesse, auch weil sie die partielle Rücknahme heimlicher Steuererhöhungen später als scheinbare Steuerreform verkaufen können.
Bei der Besteuerung der Kapitalerträge ist das Inflationsproblem noch gravierender. Als Bemessungsgrundlage dient der gesamte nominale Gewinn. Entsprechend der Reinvermögenszugangstheorie darf jedoch nur der tatsächliche reale Wertzuwachs besteuert werden. Soweit Kapitalerträge allein dem Erhalt der Kaufkraft dienen, liegt eine Scheinertragsbesteuerung vor. Hierdurch sinkt der reale Ertrag. Je nach Konstellation von Nominalzins und Inflationsrate kommt es sogar und keineswegs selten zu realen Vermögensverlusten.
Diskriminierende Besteuerung der Kapitalerträge
Diese Effekte sind nicht progressionsbedingt, sondern treten auch bei der (bis auf den Freibetrag) proportionalen Abgeltungsteuer auf. Die effektive reale Steuerbelastung lässt sich am Beispiel eines Nominalzinses von i = 4 % und einer Inflationsrate von ? = 2 % demonstrieren. In diesem Fall beträgt der Realzins:
r = (i – ? ) / (1 + ? ) = 1,96 %.

Die Abbildung zeigt die nominale und reale Steuerbelastung der Kapitalerträge durch die Abgeltungsteuer. Bereits bei der gewählten moderaten Konstellation von Nominalzins und Inflationsrate ist der reale Steuersatz mehr als doppelt so hoch wie der nominale Steuersatz. Der reale Steuersatz erreicht schon bei nominalen Kapitalerträgen von 6.110 Euro mit 45 % das Niveau des Spitzensatzes der Einkommensteuer. Geringere Nominalzinsen oder höhere Inflationsraten können das Problem noch einmal deutlich verschärfen. So steigt der reale Durchschnittssteuersatz bei i = 2,6 % und ? = 2 % bereits auf knapp über 100 %.
Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip lässt sich die Besteuerung von Scheinerträgen nicht vereinbaren. Vielmehr ist „steuersystematisch und hinsichtlich der ökonomischen Effekte zu beachten, dass der in der nominalen Rendite enthaltene Inflationsausgleich keinen Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit darstellt, sondern lediglich den inflationsbedingten Wertverzehr der Ersparnis kompensiert“ (Bundesbank 2017, 77). „Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt daher, dass der Staat bei der Kapitalbesteuerung den inflationsbedingten Substanzverlust berücksichtigt und steuerfrei stellt“ (DSi 2017, 19).
Diese Argumente sprechen für die Inflationsbereinigung der Bemessungsgrundlage einer Kapitalertragsteuer. Die Relation zwischen dem realen und dem nominalen Kapitalertrag (Er / E) stimmt mit der Relation zwischen Realzins und Nominalzins (r / i) überein. Daher gilt für den realen Kapitalertrag als Bemessungsgrundlage einer inflationsbereinigten Abgeltungsteuer:
Er = (r / i) E = [ (1 – ? / i) / (1 + ?) ] E.
Im oben verwendeten Szenario mit i = 4 % und ? = 2 % beträgt der reale Kapitalertrag nur knapp die Hälfte des nominalen Kapitalertrags, was die annähernde Verdoppelung des realen gegenüber dem nominalen Steuersatz erklärt.
Eine realwertbezogene Besteuerung privater Zinseinkünfte mag in der Praxis mit Umsetzungsproblemen bei der Ermittlung der steuerrelevanten Rendite und der Inflationsrate verbunden sein (Bundesbank 2017, 77). Angesichts der schwerwiegenden Defekte des heutigen Systems wäre allerdings selbst bei vorsichtiger Schätzung des Nominalzinses am oberen und der Inflationsrate am unteren Rand eine grundlegende Verbesserung der Kapitaleinkommensbesteuerung erreichbar.
Fazit
Eine Abgeltungsteuer, die sich auf reale Erträge bezieht, wäre hinsichtlich der Bemessungsgrundlage mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar. Dann und nur dann könnte man sogar eine Reintegration der Kapitalerträge in die persönliche Einkommensteuer in Erwägung ziehen. Derzeit werden Kapitalerträge jedoch steuerlich eindeutig diskriminiert. Bei Sparern aus den unteren und mittleren Einkommensschichten, die risikoarme geringverzinsliche Anlagen bevorzugen, führt die scheinbar moderate Abgeltungsteuer häufig zu Eingriffen in die Vermögenssubstanz. Dass real nicht existente Kapitalerträge auch noch ungerechtfertigterweise dem Solidaritätszuschlag unterliegen, kommt erschwerend hinzu und unterstreicht die fundamentale Reformbedürftigkeit der Kapitaleinkommensbesteuerung.
Literatur
Deutsche Bundesbank, Zur Verzinsung privater Finanzanlagen unter Berücksichtigung von Inflation und Steuern, Monatsbericht Juli 2017, S. 71-77.
Deutsches Steuerzahlerinstitut (DSi), Abgeltungsteuer erhalten – Mehrbelastungen für Sparer vermeiden, Bonn 2017.
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