Im Gefolge des wahrscheinlich stärksten Wirtschaftseinbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden mittlerweile Staatseingriffe exekutiert, die vor nicht allzu langer Zeit nicht diskutabel waren. Dazu gehören direkte staatliche Hilfen für in Not geratene Unternehmen. Mittlerweile gehen die Rettungsmaßnahmen über die notwendige Stabilisierung des Finanzsystems hinaus. Vor dem Eindruck, dass die Finanzmärkte versagt haben, wird auch in andere Märkte – etwa durch staatliche Hilfen für Industrieunternehmen – interveniert. Dies geschieht mit dem Ziel, angeschlagene Unternehmen, die durch ihre Größe auf viele andere Unternehmen einwirken, zu stützen und die realwirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzmarktkrise zu mindern.
Damit steht zum Ersten ein Wirtschaftsmodell auf dem Prüfstand, das unter anderem durch eine auf offene und private Märkte gegründete Wettbewerbswirtschaft geprägt ist. Zum Zweiten geraten wichtige Reformbaustellen in Deutschland mehr und mehr aus dem Blick. Ordnungspolitische Grundsätze, die eine bessere Funktionsfähigkeit der Märkte zum Ziel haben, drohen in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ausgehebelt zu werden. Vergessen wird dabei, dass gerade in der Krise die Wirtschaftspolitik durch eine weitere Entfesselung des Gütermarktes und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Anpassungsfähigkeit einer Volkswirtschaft stärken kann.
Anpassungskapazität steht im Vordergrund
Erteilt man einer Politik der Strukturgestaltung eine Absage, dann bedeutet dies für die Politik noch lange keine Inaktivität. Vielmehr stellt sich die Frage nach den Alternativen, um gerade in der Krise den Strukturwandel zu erleichtern und die mit ihm einhergehenden Anpassungslasten zu vermindern. Dabei stehen ordnungspolitische Maßnahmen im Vordergrund. Der institutionelle Rahmen muss stimmen, damit Strukturwandel möglichst reibungslos verläuft. Nachfrageänderungen, neue Organisationsformen zur intersektoralen und internationalen Arbeitsteilung, eine wachsende Konkurrenz auf vielen Feldern und die derzeit schwere Krise der Weltwirtschaft erhöhen die Notwendigkeit zur Anpassung für Unternehmen und ihre Mitarbeiter. Staatliche Institutionen dürfen die Vorstöße und Reaktionen der Unternehmen und Arbeitnehmer nicht behindern. Vor allem müssen diejenigen staatlichen Regelungen, die im Gefolge des Strukturwandels selbst Anpassungslasten auslösen, identifiziert und abgebaut werden.
Dabei ist es wichtig, den strukturellen Wandel als ein Zusammenspiel der verschiedenen Märkte zu verstehen. Die Bedeutungsveränderungen im gesamtwirtschaftlichen Branchengefüge ergeben sich aus Entwicklungen auf dem Güter-, Arbeits- und Kapitalmarkt. Die Funktionsweise dieser drei Märkte entscheidet über die Richtung und das Tempo des Strukturwandels sowie über die Anpassungslasten im wirtschaftlichen Entwicklungsprozess. Eine Diskussion, welche Politikmaßnahmen die Bewegungsfreiheit aller Branchen erleichtern, und zwar in jede Richtung, kann deshalb an der folgenden Frage ansetzen: Wie funktionsfähig sind der Güter-, Arbeits- und Kapitalmarkt hierzulande überhaupt?
Angesichts der großen Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten, die seit dem Sommer 2007 mehr und mehr sichtbar werden, scheint eine grundlegende Reform der Kapitalmarktordnung unabdingbar. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema erfolgt hier nicht. Im Folgenden steht vielmehr die Funktionsfähigkeit der Güter- und Arbeitsmärkte im Vordergrund. Das Versagen der Finanzmärkte bedeutet nicht, dass die Arbeits- und Gütermärkte auch versagt haben. Notwendige neue und bessere Regulierungen auf den Finanzmärkten bedingen keine neuen und zusätzlichen Regulierungen auf den Arbeits- und Gütermärkten. Möglicherweise ist hier sogar das Gegenteil angesagt, um mit den realwirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzmarktkrise besser zurechtzukommen.
Offenheit der Gütermärkte stärken
Strukturwandel ist wie die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in Anlehnung an J. A. Schumpeter ein permanenter Akt der „schöpferischen Zerstörung“. Die Offenheit und der Wettbewerb auf den Gütermärkten bestimmen das Ausmaß und das Tempo der Neuerungen im volkswirtschaftlichen Güterportfolio. Alle Branchen und Unternehmen kommen irgendwann einmal unter Druck – durch Veränderungen in der Gunst der Kunden, durch neue Organisationsformen und durch die internationale Konkurrenz. Dieser andauernde Erneuerungsprozess kann allerdings an zwei Stellen blockiert werden: zum einen, wenn nicht in einem ausreichenden Maß neue Produkte und neue Unternehmen entstehen, zum anderen, wenn veraltete Güter und Unternehmen konserviert werden.
Zutritts- und Expansionsschranken: Zum Ersten behindern Produktmarktregulierungen, die sich in hohen Eintrittsbarrieren niederschlagen, das Entstehen von neuen Unternehmen. Länder mit einem hohen Regulierungsniveau weisen dann geringe Unternehmensgründungen auf. Zum Zweiten können hohe Produktmarktregulierungen zu einem geringeren Wettbewerb und damit zu höheren Preisen führen. Zum Dritten können sich Produktmarktregulierungen negativ auf die Diffusion neuer Technologien und damit auf das Produktivitätswachstum in den stärker regulierten Volkswirtschaften auswirken.
Eine vor einigen Jahren gestartete und regelmäßig erfolgende Erhebung der Weltbank und der International Bank for Reconstruction and Development für mittlerweile 181 Länder zeigt für verschiedene Kategorien, welche Position die beteiligten Länder hinsichtlich der Rahmenbedingungen für Unternehmensgründung und Expansion haben: Beim Teilbereich „starting a business“ erreichte Deutschland im Jahr 2008 unter den 181 Ländern gerade einmal Platz 102. Gegenüber dem Vorjahr hatte sich Deutschland sogar um 27 Plätze verschlechtert. Dabei bestehen vor allem hinsichtlich der Verfahrensschritte und des Zeitaufwands bei der Gründung und Registrierung einer neuen Firma deutliche Unterschiede zu den OECD-Ländern. Auch bei der Eigentumsregistrierung wurde im Jahr 2008 mit dem 52. Platz keine gute Position erreicht. Zudem war auch hier in den letzten Jahren eine Verschlechterung zu beobachten. Bei den Baugenehmigungen und dem Bau eines Gebäudes erreichte Deutschland nach Verbesserungen in den letzten Jahren immerhin den 15. Platz und schneidet nunmehr besser ab als die OECD-Länder im Durchschnitt.
Austrittsschranken: Nicht nur die Gründung eines Unternehmens ist für einen erfolgreichen und möglichst reibungslosen Strukturwandel von Bedeutung. Auch die Art und Weise, wie aus der Mode gekommene oder nicht mehr wettbewerbsfähige Produkte und erfolglose Unternehmen eingestellt werden können, bestimmt über die Funktionsfähigkeit der Gütermärkte. Wird die Schließung von Unternehmen durch Regulierungen und bürokratische Hindernisse in die Länge gezogen, dann bindet dies Ressourcen, die für eine Expansion an anderer Stelle möglicherweise fehlen. Von 181 Ländern erzielte Deutschland im Jahr 2008 auf Basis der Datenbank der Weltbank „Doing Business 2009“ unter der Rubrik „closing a business“ den 33. Rang. Die Position hat sich auch hier zuletzt verschlechtert. Dabei geht es zum Beispiel um die rechtlichen und administrativen Regelungen bei Konkursverfahren. Eine Reihe von anderen Ländern hat demnach Vorteile bei der Re-Allokation der Produktionsfaktoren, wenn etwa bestehende Produkte und Unternehmen unter dem Einfluss von Nachfrage- und Organisationswandel, internationaler Konkurrenz oder in der derzeitigen Weltwirtschaftskrise unter Druck kommen und letztlich aus dem Markt scheiden.
Arbeitsmarkt flexibilisieren
Die Bewältigung des Strukturwandels erfordert nicht nur Ideen für neue Produkte und Geld zu deren Finanzierung, sondern auch Mitarbeiter, um die Innovationen tatsächlich umzusetzen. Damit stehen auch die Arbeitsmarktinstitutionen und alle die diese beeinflussenden Regelungen – wie etwa das Sozialsystem – im Fokus. Vor allem am Arbeitsmarkt werden Probleme bei der Bewältigung des Strukturwandels wie durch eine Lupe deutlich. Hier zeigt sich zum einen, wie viele neue Arbeitsplätze entstehen, und zum anderen, wie viele freigesetzte Arbeitskräfte keinen neuen Arbeitsplatz finden und in die Arbeitslosigkeit wandern. Der Ausdruck „strukturelle Arbeitslosigkeit“ macht deutlich, dass ein nicht funktionierender Arbeitsmarkt im Gefolge des Strukturwandels zu lang andauernden Beschäftigungsproblemen führt.
Auf den Prüfstand und letztlich auf die Reformagenda müssen deshalb jene staatlichen Regelungen, die den Strukturwandel auf der Beschäftigungsebene behindern. Auf Basis der Weltbank-Erhebung „Doing Business 2009“ gelten die deutschen Arbeitsmarktregulierungen im internationalen Vergleich als hoch. Unter den 181 beobachteten Ländern konnte Deutschland im Jahr 2008 gerade einmal den 142. Platz erzielen. Auch im Vergleich mit den OECD-Ländern schneidet Deutschland bei jeder Teilrubrik schlechter ab als der Durchschnitt. Beim Einstellungsindex (Difficulty of Hiring Index) liegt Deutschland mit Blick auf die OECD-Länder im Mittelfeld, aber deutlich schlechter als der OECD-Durchschnitt. Hier wird zum Beispiel die Flexibilität der Arbeitsverträge und die Bedeutung von Mindestlöhnen berücksichtigt. Beim Entlassungsindex (Difficulty of Firing Index), der beispielsweise den gesetzlichen Kündigungsschutz erfasst, ist der Abstand Deutschlands zum OECD-Index stark ausgeprägt. Die Entlassungskosten sind zudem in Deutschland mit fast 70 Wochenlöhnen weit mehr als doppelt so hoch wie im OECD-Durchschnitt (26 Wochenlöhne). Auch hinsichtlich der Arbeitszeitregulierungen (Rigidity of Hours Index) liegt Deutschland mit 60 Punkten auf einer Skala von 0 bis 100 (höchste Regulierungsintensität) weit hinter dem OECD-Durchschnitt in Höhe von 42 Punkten. Hier werden zum Beispiel Einschränkungen bei der Wochenend- und Nachtarbeit, Vorgaben für die Arbeitszeit und Urlaubszeitregelungen betrachtet.
Ordnungspolitischer Handlungsbedarf
Eine wichtige Aufgabe der Wirtschaftspolitik in Deutschland ist gerade in der derzeitigen Krise eine Fortsetzung der Reformen mit dem Ziel, die Anpassungsfähigkeit der Gütermärkte, des Kapitalmarktes und des Arbeitsmarktes zu erhöhen. Bei Strukturreformen ist im Auge zu behalten, dass Einzelmaßnahmen möglicherweise ihre Wirkungen nicht oder nicht optimal entfalten. Partielle Produktmarktreformschritte laufen dann ins Leere, wenn sie nicht von Arbeitsmarktreformen begleitet werden. Insgesamt dürfen sich Reformen nicht auf einzelne Märkte beschränken, sondern das Zusammenspiel aller ökonomischen Märkte und damit auch die Komplementarität der Reformmaßnahmen müssen bei einer den Strukturwandel fördernden Wirtschaftspolitik im Vordergrund stehen. Dies verhindert auch, dass sich politische Maßnahmen in ein Stückwerk verlieren. Spezifischen Firmen- und Branchenhilfen ist generell eine Absage zu erteilen. Vielmehr muss auf Fragen nach strukturwandelerleichternden Maßnahmen mit einem ordnungspolitischen Antwortprofil reagiert werden, das eine bessere Funktionsfähigkeit der Märkte und ihr besseres Zusammenwirken zum Ziel hat.
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Eine Antwort auf „Keine Strukturpolitik – aber Politik für den Strukturwandel!“