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„Im Stich gelassen“, „allein gelassen“ und der Nanny-Staat

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juli 2020 (S. N4) findet sich ein Interview mit einer Doktorandin in Biochemie, die ein auf drei Jahre begrenztes Marie-Curie-Stipendium der Europäischen Union erhielt. Sie beklagt, daß sie durch den pandemiebedingten Lockdown ihre Untersuchungen nicht bis zum geplanten Zeitpunkt zu Ende führen könne und die EU es nicht vorsehe, „eine bezahlte Verlängerung des Stipendiums zu erhalten“. Daraufhin habe sie „eine formelle Beschwerde beim Ombudsmann der EU eingereicht und einen offenen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben.“ Eine Veröffentlichung des Briefes auf sozialen Medien habe gezeigt, daß viele andere Doktoranden in anderen Ländern ebenfalls von diesem Problem betroffen seien. Unabhängig davon, wie die Geschichte weitergeht (vermutlich wird die Behörde dem Ansinnen der Stipendiat nachgeben, da ja der eigentliche Financier – der Steuerzahler – nicht an der Entscheidung beteiligt wird, und nach Abschluß der Promotion wird sich vermutlich die Stipendiatin zum Forschen in die USA begeben, da dort die Rahmenbedingungen den europäischen überlegen seien), ist doch folgendes festzuhalten: Hier bekommt jemand nahezu ohne Gegenleistung finanzielle Mittel, beklagt sich, daß diese Geldleistungen zum vorher vereinbarten Zeitpunkt enden und setzt dann alle Mittel ein (Beschwerde, offener Brief, Interview in der FAZ, Posts in sozialen Medien), um die eigenen Interessen durchzusetzen. Freilich läßt sich das aus rein individueller Perspektive kaum kritisieren, versuchen doch die meisten Menschen, den eigenen Nutzen (ob finanziell oder nichtfinanziell ist dabei nicht von Belang, auch altruistisches Handeln kann Präferenzen befriedigen und dadurch Nutzen stiften) zu mehren.

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Europäisches Licht oder nationale Finsternis?
Der Nationalstaat ist kein Auslaufmodell. Er wird weiter gebraucht.

„Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente“. (Ralph Dahrendorf)

Der Kampf um die Sitze im Europäischen Parlament ist geschlagen. Wie erwartet haben die Volksparteien, die EVP und S&D, verloren. Ohne die Hilfe der erstarkten Liberalen, der um La République en marche gedopten ALDE, oder der mit deutscher Hilfe leicht verbesserten Grünen haben sie keine Mehrheit mehr. Spürbar gewonnen haben die „rechten“ Populisten. Der populistische Tsunami blieb zwar aus. In Frankreich und Italien haben die Populisten aber die Nase vorn. Das neue Europaparlament ist fragmentierter. Die Wähler haben das konservativ-sozialistische Machtkartell aufgebrochen. Mehr politischer Wettbewerb ist möglich.

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Der Nationalstaat ist kein Auslaufmodell. Er wird weiter gebraucht.
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Populistische Teufelskreise
Ist wettbewerblicher Föderalismus ein Gegenmittel?

„Populism has had as many incarnations as it has had provocations, but its constant ingredient has been resentment, and hence whininess. Populism does not wax in tranquil times; it is a cathartic response to serious problems. But it always wanes because it never seems serious as a solution.” (George Will)

Wir leben in Zeiten des Populismus. Er ist in Europa weiter auf dem Vormarsch. Noch haben die „rechten“ mehr Zulauf als die „linken“ Populisten (hier). Bei Wahlen schneiden sie gut ab. Immer öfter lassen sie „alte“ Volksparteien hinter sich. Diese laufen Gefahr, zerrieben zu werden. In einigen Ländern sind die Populisten an der Regierung beteiligt, in anderen dominieren sie sogar die Regierung. Die „alten“ Volksparteien ahmen in ihrer Not die Populisten nach. In ihren Wahlprogrammen finden sich immer öfter anti-marktwirtschaftliche, fremdenfeindliche und national-soziale Elemente. Der Lauf, den die Populisten gegenwärtig haben, ist erstaunlich. Populismus verstärkt die wirtschaftliche Unsicherheit und verschreckt Investitionen. Das tut der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gut. Die politische Strafe müsste eigentlich spätestens bei den nächsten Wahlen erfolgen. Tut sie aber nicht. Wirtschaftliche Misserfolge populistischer Politik werden weiter erfolgreich dem politischen Establishment in die Schuhe geschoben. Offensichtlich gelingt es den Populisten immer wieder, bei den Wählern den Glauben zu stärken, dass Medien voreingenommen sind, Experten falsch liegen und Fakten keine Fakten sind (hier).  Der Teufelskreis von politischer Unzufriedenheit, wachsendem Populismus, noch mehr Unzufriedenheit und galoppierendem Populismus bleibt intakt, zumindest vorläufig.

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Mangelnde Subsidiarität in der EU

Subsidiarität bedeutet institutioneller Wettbewerb

Der Europa-Wahlkampf ist in vollem Gange. Die politischen Bewerber um einen Sitz im Europa-Parlament positionieren sich für den Fall ihrer Wahl mit Lautstärke zu ihren intendierten Europa-Aktivitäten. Wie könnte es in einer national-politökonomisch angelegten wählerorientierten Bewerberprogrammatik innerhalb der heterogenen EU anders sein, sind sie zumeist gefärbt durch nationale Präferenzschwerpunkte, die von der Idee einer  homogenen europäischen ever closer union mehr oder weniger weit entfernt sind. Im politisch korrekten Mainstream, jedenfalls in Deutschland, gilt dieses Faktum als historisch überholt, als rückständig, als europafeindlich, als nationalistisch. Für manchen Einzelfall der Bewerber mag diese Klassifikation zutreffen, wenn ihr Nationales zum Nationalistischen überschießt. Aber nationale Positionen, die die Werte des Artikels 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) – u. a. Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit – nicht verletzen, sollten  selbstverständlich auch dann als europakonform gelten, wenn sie in einzelnen  Auslegungen einer gewissen Interpretationsheterogenität unterliegen, die nicht notwendigerweise dem Homogenitätsverlangen z. B. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und/oder den Vorgaben der Europäischen Kommission entsprechen.

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Freiheit, Schutz und Fortschritt
„Neues“ vom französischen Troubadour

„Folgt Europa Macrons wettbewerbsfeindlichen Schalmeienklängen, wird es schwächer werden, nicht stärker.“ (Heike Göbel)

Der französische Präsident Emmanuel Macron bringt sich europapolitisch in Erinnerung. Vor fast eineinhalb Jahren forderte er in einer Rede an der Pariser Sorbonne, Europa „neu zu gründen“ (hier). Nun wendet er sich in einem Brief an alle europäischen Bürgerinnen und Bürger (hier). Er plädiert noch einmal für einen Neubeginn in Europa. Seine Ideen stellt er unter den Dreiklang von „Freiheit, Schutz und Fortschritt“. Die nationalistische Abschottung, die Populisten in ganz Europa propagierten, mache ihm große Angst. Europa sei in ernsthafter Gefahr, der größten seit dem 2. Weltkrieg. Der Brexit sei das Zeichen an der Wand. Lug, Trug und Verantwortungslosigkeit von Kritikern der EU zerstörten die europäische Integration. Damit ist der Ton des Briefes gesetzt. Unwahrheiten, Verleumdungen und falsche Behauptungen seien für den jämmerlichen Zustand der EU verantwortlich. Kritische Töne gegen die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen in der EU, Kommission, Rat und Parlament, sucht man in dem Brief vergebens.

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Straßburg, Florenz und Paris
Drei Reden zur Zukunft Europas

„Der Staat muss natürlich stets eine zentrale Rolle spielen. Diese Rolle muss sogar verstärkt werden, denn auf vielen Gebieten brauchen wir viel mehr Staat“. (Emmanuel Macron)

Europa ist nach wie vor in keinem guten Zustand. Das wirtschaftliche Wachstum erholt sich zwar leicht, ist aber weiter anämisch. Die Arbeitslosigkeit geht geringfügig zurück, ist aber immer noch sehr hoch. Allerdings hat die Fassade der EU schon länger Risse (hier). Der Euro, Schengen, der Brexit und Sezessionen sind die wichtigsten Ursachen. In der nach wie vor instabilen Euro-Zone ist der Süden dem Norden nicht grün. Die EWU ist noch nicht über den Berg. Es droht weiter der Zerfall. Die Flüchtlingskrise schwelt weiter. Sie spaltet Ost und West. Daran kann auch der EuGH nichts ändern. Mit Großbritannien verlässt das zweitgrößte Mit-gliedsland die EU. Der Austritt soll Ende März 2019 abgeschlossen sein. Es kann aber auch ein bißchen später werden. Schließlich greift der Virus des regionalen Separatismus in der EU um sich. Er hat aktuell nicht nur Katalonien und Schottland infiziert. Auch wenn der Zentralstaat repressiv reagiert, er hat gegen ausgeprägte regionale Präferenzen keine Chance. Das ist der Hintergrund, vor dem die politischen Führer in Europa versuchen, den Absturz abzuwenden. Drei Reden markieren den europäischen Weg in die Zukunft. Den Auftakt machte Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Theresa May skizzierte in einer Grundsatzrede in Florenz den möglichen Weg des Vereinigten Königreichs aus der EU. Schließlich legte Emmanuel Macron in Paris seine Pläne vor, wie er sich die Zukunft der EU vorstellt.

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„Leinen los“ für Europa?
Juncker ist kein guter Euro-Kapitän

„Leinen los“-Kommando von Jean-Claude Juncker, das den neuen „Wind in den Segeln“ Europas nutzen soll, müsste eigentlich „Leinen fest“ genannt werden. Denn seine Vision ist die ever closer union, in der die EU-Mitglieder in der Krise immer stärker unter sich und über eine Zentrale fest aneinander gebunden werden müssen. Wenn schon Juncker die maritime Metapher bemüht, dann sollte er wissen, dass ein Geschwader von Schiffen, die zu eng miteinander und mit einem Flaggschiff vertäut sind, bei Sturm und Wellengang die Leinen lockern und nicht anziehen müssen, um mehr unabhängigen eigenen Bewegungsspielraum zu bekommen, der sie nicht über zu enge Leinen in eine Kollektivhavarie mit hineinzieht.

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Juncker ist kein guter Euro-Kapitän
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Subsidiarität, Solidarität und Souveränität
Wie geht es weiter mit der europäischen Integration?

„Auch der Grundsatz, die vier Freiheiten als ein zusammengehöriges Ganzes und nicht als Steinbruch je nach politischen Vorlieben zu betrachten, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren.“ (Eric Gujer)

In der EU geht die Angst um, die Angst vor dem Populismus. Mit dem Ausgang der Wahlen in den Niederlanden erhielt die EU zwar eine Atempause, mehr aber auch nicht. Keines der drängenden ökonomischen, sozialen und politischen Probleme ist abgeräumt. Es ist ein Markenzeichen der EU, dass sie seit langem meist nur an Symptomen kuriert. Oft maskiert sie mit (deutschem) Geld temporär die Ursachen. Selbst wenn die französischen Präsidentschaftswahlen „gut“ ausgehen, sind die Probleme, mit denen die EU konfrontiert ist, noch lange nicht ausgestanden. Es führt kein Weg daran vorbei, die EU muss sich erneuern, an Haupt und Gliedern. Das hat auch die EU-Kommission erkannt. Mit dem Weißbuch (hier) hat sie eine reichlich diffuse Plattform für die überfällige Diskussion installiert. Es sind vor allem drei Herausforderungen, mit denen die EU fertig werden muss: Das wirtschaftliche Problem anämischen Wachstums und persistent hoher Arbeitslosigkeit, das soziale Problem unterschiedlicher nationaler Gesellschaftsmodelle und das politische Problem des Umgangs mit nationaler Souveränität.

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Wie geht es weiter mit der europäischen Integration?
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Nationalstaat, Subsidiarität und Wettbewerb

1. Der Nationalstaat, überhaupt das Nationale, ist ins Gerede gekommen. Erstens wohl, weil manche glauben, im Zeitalter der Globalisierung mache es keinen Sinn mehr, in nationalen Kategorien zu denken, vielmehr sei die zunehmende Entgrenzung der Lebensbereiche die adäquate Basis modernen polit-ökonomischen Denkens. Auf Europa bezogen leitet sich daraus die Forderung mancher Protagonisten nach „mehr Europa“ ab, also nach weniger nationalen und mehr europa-zentrierten Regulierungs-Kompetenzen. Diese Forderung wurde auch insbesondere und unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung der Briten erhoben – vor allem vom Präsidenten der EU-Kommission Juncker, aber auch von manchen europa-engagierten Kommentatoren, die die Einführung des Austrittsrechts von Nationalstaaten aus der EU auf Basis des Artikels 50 des Lissabon-Vertrages für einen gravierenden Fehler halten, weil er zum Verfall der EU beitrage. Zweitens wird dem nationalen Denken in der politischen Arena sichtbare Priorität gegenüber international orientierten Denkkategorien aufgrund des sich verbreiternden Entstehens von Parteien gegeben, die ihre Existenz weniger auf polit-ökonomisch rationalen Konzeptionen als vielmehr auf protestgeschwängerten Aktivitäten gegen die herrschenden politischen Establishments basieren. Es ist zu vermuten, dass „Zweitens“ mit „Erstens“ inhaltlich kausal verbunden ist.
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