In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juli 2020 (S. N4) findet sich ein Interview mit einer Doktorandin in Biochemie, die ein auf drei Jahre begrenztes Marie-Curie-Stipendium der Europäischen Union erhielt. Sie beklagt, daß sie durch den pandemiebedingten Lockdown ihre Untersuchungen nicht bis zum geplanten Zeitpunkt zu Ende führen könne und die EU es nicht vorsehe, „eine bezahlte Verlängerung des Stipendiums zu erhalten“. Daraufhin habe sie „eine formelle Beschwerde beim Ombudsmann der EU eingereicht und einen offenen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben.“ Eine Veröffentlichung des Briefes auf sozialen Medien habe gezeigt, daß viele andere Doktoranden in anderen Ländern ebenfalls von diesem Problem betroffen seien. Unabhängig davon, wie die Geschichte weitergeht (vermutlich wird die Behörde dem Ansinnen der Stipendiat nachgeben, da ja der eigentliche Financier – der Steuerzahler – nicht an der Entscheidung beteiligt wird, und nach Abschluß der Promotion wird sich vermutlich die Stipendiatin zum Forschen in die USA begeben, da dort die Rahmenbedingungen den europäischen überlegen seien), ist doch folgendes festzuhalten: Hier bekommt jemand nahezu ohne Gegenleistung finanzielle Mittel, beklagt sich, daß diese Geldleistungen zum vorher vereinbarten Zeitpunkt enden und setzt dann alle Mittel ein (Beschwerde, offener Brief, Interview in der FAZ, Posts in sozialen Medien), um die eigenen Interessen durchzusetzen. Freilich läßt sich das aus rein individueller Perspektive kaum kritisieren, versuchen doch die meisten Menschen, den eigenen Nutzen (ob finanziell oder nichtfinanziell ist dabei nicht von Belang, auch altruistisches Handeln kann Präferenzen befriedigen und dadurch Nutzen stiften) zu mehren.
Was an dieser Anekdote jedoch deutlich wird, ist, daß eine – zumindest von den Autoren subjektiv empfundene und anhand anekdotischer Evidenz belegbare Werteverschiebung im letzten Jahrzehnt stattgefunden hat. Man kann dabei folgende Sachverhalte feststellen:
1. Es werden unverblümt ausschließlich eigene Interessen mit extremer Vehemenz vertreten, in dem man eine Opferrolle einnimmt. Dies ist erkenntlich daran, daß von „allein gelassen“ oder „in Stich gelassen“ gesprochen wird.
2. Diese Interessensbekundungen werden nahezu begierig von politischen Unternehmern aufgenommen, die darin ein Betätigungsfeld finden, in dem hier eine bestimmte Klientel bedient wird und damit zum einen man sich deren Wählerstimmen versichert und zum anderen wirksam PR durch die eigene Unterstützungsleistung erhofft.
3. Es scheint für Protogonisten, die eigene Interessen vertreten – wenn diese Interessen bestimmte Merkmale haben –, offenbar eine große Anzahl an Claqueuren zu geben, die das Durchsetzen dieser Interessen wohlwollend bis massiv zustimmend begleiten. Dabei scheint es völlig unerheblich zu sein, daß das Durchsetzen dieser Interessen stets zu Lasten Dritter geht, die meist schlecht organisiert sind (wie etwa der Steuerzahler) und daher keine Stimme am Tisch haben.
Man gewinnt dabei den Eindruck, daß Werte wie Demut, Dankbarkeit und Eigenverantwortlichkeit zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer, an der eigenen – teilweise überzogen ausgeprägten – Bedürftigkeit orientierten ungebremsten Anspruchshaltung treten. Konsequent weitergedacht, begibt man sich damit auf den „Weg zur Knechtschaft“ (Hayek 1945) an dessen Ende der Nanny-Staat mit seiner Überbetonung distributiver Gesichtspunkte und einer völligen Aufweichung des Subsidiaritätsprinzips steht.
Nun mag es sicher im Einzelfall sinnvoll und auch nachvollziehbar sein, daß man bestimmten Bevölkerungsgruppen von staatlicher Seite über eine solide soziale Grundabsicherung hinaus hilft. Freilich darf aber nicht der Preis dessen vernachläßigt werden: Zum einen muß die Umsetzung dieses Helfens finanziert werden. Erfolgt dies mit Steuern (freilich kann man auch eine Finanzierung mit Schulden wählen), so werden verstärkt die Leistungsträger belastet, die ab einer bestimmten Schwelle mit Leistungsverweigerung reagieren werden. Damit wird die überbordende Distribution zum Allokations- und weiter zum Wachstumsproblem. Zum anderen werden die individuellen Freiheitsspielräume sukzessive verengt: Der Nanny-Staat hilft nicht nur den „im Stich Gelassenen“, die diese Hilfe gern in Anspruch nehmen, er „hilft“ auch denjenigen mit entsprechenden Regulierungen, die diese Hilfe gar nicht wollen. Und damit wendet er sich auch letztlich gegen die Protagonisten des o.g. Lebensentwurfs, die doch eigentlich auf der einen Seite möglichst umfassende Freiheitsspielräume genießen wollen, ohne auf der anderen Seite für die Konsequenzen der eigenen Handlung zur Verantwortung gezogen zu werden, die also eine Umkehrung des Euckenschen Prinzips (Eucken 1952), nämlich Handlung ohne Haftung, propagieren.
Was muß also passieren? Im Prinzip sind zwei Sachverhalte vonnöten, die uns von diesem Weg in die Knechtschaft abbringen: Zum einen muß der Verteilungsspielraum des Staates erheblich eingeengt werden. Es ist aus ökonomischer Sicht doch in den allermeisten Fällen besser, wenn die Individuen nach eigenem Gusto und nach den eigenen Präferenzen über die Verwendung der eigenen Mittel entscheiden, als wenn das am runden Tisch oder in Form anderer kollektiver Entscheidungsprozesse erfolgt, die so transparent wie Milchglas sind. Zum anderen bedarf es eines Wertewandels. Werte wie Demut, Dankbarkeit und Eigenverantwortlichkeit müssen einen höheren Stellenwert gewinnen. Ersteres kann vielleicht erfolgen, wenn sich politische Unternehmer dieses Sachverhalts annehmen. Letzteres ist wohl ein langandauernder Prozeß, der bei der Erziehung der Kinder beginnen müßte.
Eucken, W. (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen.
Hayek, F. A. v. (1945), Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach, Zürich.
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Ich weiß nicht, ob sich alle obigen Schlussfolgerungen zwangsläufig ergeben, aber es irritiert auch mich zunehmend, dass Unterstützte oder gar Beschenkte sich ihre Unterstützung nach Art und Ausmaß glauben aussuchen zu können – und damit zumindest teilweise erstaunlichen Erfolg haben. Man denke nur daran, dass Flüchtlinge (nicht Auswanderer!) nicht nur völlig zu Recht einen sicheren Platz für eine neue Existenz oder die Wartezeit bis zur Heimkehr erwarten, sondern gleich ein besonders prosperierendes Aufnahmeland, oder dass EU-Staaten nicht nur finanzielle Unterstützung in Corona-Zeiten fordern, sondern diese sogar ablehnen, wenn sie nicht ihren öffentlichkeitswirksam formulierten Wünschen entspricht.
Es steht außer Frage, dass Solidarität ein Grundpfeiler unserer Kultur ist, aber auch Grundpfeiler kann man durch Überlastung zum Einsturz bringen. Dies wird spätestens dann geschehen, wenn das Einfordern genehmer Unterstützungen das eigene Erwirtschaften der Existenzgrundlage als dominierendes Geschäftsmodell der sozialen Marktwirtschaft abgelöst hat.