„Leinen los“-Kommando von Jean-Claude Juncker, das den neuen „Wind in den Segeln“ Europas nutzen soll, müsste eigentlich „Leinen fest“ genannt werden. Denn seine Vision ist die ever closer union, in der die EU-Mitglieder in der Krise immer stärker unter sich und über eine Zentrale fest aneinander gebunden werden müssen. Wenn schon Juncker die maritime Metapher bemüht, dann sollte er wissen, dass ein Geschwader von Schiffen, die zu eng miteinander und mit einem Flaggschiff vertäut sind, bei Sturm und Wellengang die Leinen lockern und nicht anziehen müssen, um mehr unabhängigen eigenen Bewegungsspielraum zu bekommen, der sie nicht über zu enge Leinen in eine Kollektivhavarie mit hineinzieht.
- Eigentlich muss ja nicht immer wieder betont und begründet werden, dass der Euro, in den Juncker nunmehr alle EU-Mitglieder hineinbringen möchte, die am wenigsten geeignete Institution ist, die deren Zusammenhalt nach dem Brexit bewirken kann. Auch jeder Laie, der von währungstheoretischen Zusammenhängen nicht viel versteht, müsste doch stutzig werden angesichts des Faktums, dass der Euro nun schon seit 16 Jahren (!) immer noch und immer wieder neu „gerettet“ werden muss. In der Währungsgeschichte erscheint dieser Tatbestand der politischen Dauerrettung einer Währung als einmalig, und es ist nicht abzusehen, dass sich daran für die Zukunft des Euro etwas ändert, wenn Junckers Pläne durchgesetzt werden sollten. Im Gegenteil soll die Rettungsintensität noch dadurch verschärft werden, dass nun auch alle anderen EU-Staaten die ständig rettungsbedürftige Währung übernehmen. Die wegen ihrer institutionellen Instabilität dauerzurettende Währung soll also der rettende Anker für die zu rettende Einheit in der EU sein. Der extreme Problemfall Griechenland wird damit vom bedauerlichen Sprengsatz zur allgemeinen Regelerscheinung in der Euro-Zone, die – um im Junckerschen maritimen Bild zu bleiben – die Kollektivhavarie des Systems mit der Aufnahme Euro-unreifer Länder wie insbesondere Bulgariens und Rumäniens immer näher heranrücken lässt. Werden die Konvergenzkriterien nun endgültig mit Junckers als „Leinen los“ bezeichnetem eigentlichen „Leinen fest“-Manöver über Bord geworfen? Und ist zudem vergessen, dass schon bisher die Konvergenzhilfen für damalige Mittelmeerneumitglieder zur Bewältigung der Eintrittsbarrieren in den Euro, die Juncker nun auch wieder für die künftigen Neumitglieder ins Spiel bringt, als Hilfe zur Erfüllung der Eintrittskriterien nicht annähernd anreizeffizient gewirkt haben? Sie gingen ineffizient ins Leere.
- Junckers „Leinen los“- Vorstoß mit dem vermeintlichen neuen „Wind im Segel“ der EU ist die Inkarnation eines Fundamentalirrtums. Ihm liegt das subjektive Verdrängen der Tatsache zugrunde, dass zwischen eigener Vision und empirischer Evidenz in Bezug auf den europäischen Integrationsprozess eine steigende Diskrepanz besteht, die Juncker offensichtlich nicht wahrnehmen will: Der Wind in der EU hat sich merklich gedreht und weht neuerdings zunehmend in Richtung Subsidiarität und Dezentralisierung, also als Gegenwind zu den bisher als alternativlos mit Quasi-Ewigkeitscharakter ausgestattetem EU-Integrationspfad der Vertiefung, also auch gegen die Junckersche Zentralisierungs- und Harmonisierungsstrategie. Exit und voice bedrohen den Zusammenhalt der EU, und der (mögliche) Brexit mag nur der erste konkrete Fall sein, der dies bestätigt. Vor allem in den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten steigt die Intensität von voice, möglicherweise als hörbar bedrohliche Vorstufe von Exit– Optionen. Insbesondere diese Länder haben leidvolle Erfahrungen mit Systemen der Zwangszentralisierung hinter sich und wollen dies in der EU nicht ein weiteres Mal über sich ergehen lassen. Aufmerksam zu beobachten sind aber auch die Sezessions- und Opting-Out-Bestrebungen, wie sie sich etwa mit Schottland, Katalonien, in Belgien und anderen Regionen zeigen. Sie alle sind Ausdruck von möglichen Absetzbewegungen aus Unzufriedenheit mit den institutionellen Arrangements, die sie umgeben, also mit als zu hoch empfundenen Tolerierungskosten in einem zu stark zentral-homogenisierenden Politikansatz bei gleichzeitig zunehmender Heterogenität der Bürgerpräferenzen innerhalb der Mitgliedstaaten. Das Freiheitsstreben der Bürger ist politisch nicht dauerhaft einzuhegen.
- So offenbart der Junckersche Vorstoß zur EU-Vertiefung, dass er in der modernen Integrationsdebatte um die Effizienz der Institutionen „Zwang“ und „Anreiz“ einem rückwärtsgewandten Zwangsdenken frönt, das immer weniger positive Resonanz entfacht. Es gilt ja, dass in einer dynamisch sich wandelnden Welt mit steigender Heterogenität im EU-Integrationsraum die Institution des Zwangs der des Anreizes zur Freiwilligkeit klar unterlegen ist. Denn Exit-Optionen verhindert man dauerhaft nicht, indem man sie zwanghaft bestraft oder verbietet, sondern indem man den institutionellen Anreiz schafft, dass sie im Sinne von loyalty freiwillig nicht durchgeführt werden. Der große Liberale Ralf Dahrendorf hat schon als EU-Kommissar geäußert, dass Europa auch Spaß machen müsse. Für die EU bedeutet dies, dass sie reformiert werden muss durch institutionelle incentives, das Subsidiaritätsprinzip durch eine Politik der Dezentralisierung und Rückverlagerung von Zuständigkeiten, die keinen genuin EU-öffentlichen Charakter besitzen, von der EU-Kommission auf die Nationalstaaten, Regionen, Kommunen etc. zu realisieren. Das entmachtet natürlich die EU-Kommission und stärkt zugleich den institutionellen Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten, Regionen, Kommunen etc. Und gerade deshalb hat wohl der Kommissionspräsident Juncker im Sinn, durch seine „Leinen los zu Leinen fest“-Vorschläge in Richtung EU-Vertiefung seinen eigenen Machtverlust verhindern, vielmehr seine Machtvermehrung und die der Kommission gestalten zu wollen. Das verdeutlicht er höchst anschaulich durch die subsidiaritäts-averse Forderung, die Institution des EU-Ratspräsidenten abzuschaffen bzw. in Personalunion mit dem Kommissionspräsidenten aufgehen zu lassen.
- Mehr Subsidiarität impliziert mehr institutionelle nationale Eigenverantwortung. In diesem Sinne bedeutet Junckers Vorschlag eines Euro-Finanzministers die Abschaffung der nationalen parlamentarischen Souveränitäten über ihre eigenen Finanzen, also einen fundamentalen Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien der nationalen Parlamentshoheiten. Dieselbe Argumentationsebene gilt prinzipiell für alle weiteren Vorschläge Junckers zur finanziellen Ressourcen-Vergemeinschaftung: Fiskalkapazität für Strukturreformen, finanzielle Hilfen bei asymmetrischen Schocks, europäische Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen u. a. Für alle diese französischen Vorschläge bekommt Juncker nachhaltigen Rückhalt von den Mittelmeeranrainerstaaten. Präsident Macron wird diesbezüglich federführend seine Forderungen an Deutschland nach der Bundestagswahl nachhaltig   artikulieren. Spätestens dann wird die beklagenswerte Lücke evident, die mit dem Brexit entsteht: Großbritanniens paradigmatisches Gegengewicht der Subsidiaritätsaffinität fehlt, und die mehr oder weniger subsidiäraffinen – mindestens vier –  liberalen Länder inklusive Deutschland haben durch den Brexit ihr Vetorecht aufgrund deren verminderten EU-Bevölkerungsanteils verloren. Zu befürchten ist, dass nunmehr Deutschland nicht die fehlende britische Position paradigmatisch ersetzt, sondern sich dem franco-etatistischen Werben Macrons und Junckers um mehr „krisenrettende“ Vergemeinschaftung in der EU nachgibt. Hier kontrahieren dann sklerotisierende politische Kartellabsprachen gegen dynamischen ökonomischen Wettbewerb.
- „Leinen los“ in Europas neuem „Wind in den Segeln“? Man sollte dem offensichtlich maritim-metapher orientierten Jean-Claude Juncker einen seemännischen Navigationskurs anbieten, in dem man lernt, bei welchem Kurs und welcher (engen oder) lockeren Vertäuung ein buntes Geschwader unterschiedlicher Schiffstypen in Schlechtwetterzeiten am besten nicht auf Grund läuft und in einer Kollektivhavarie auseinanderbricht: Lange Leine mit erfahrenen nationalen Kapitänen ist der kurzen Leine mit einem einzigen Zentralkapitän für alle weit überlegen.
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Haben es Leute wie Juncker, die süffisant behaupten „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, nachdem man sie bei eben diesem Lügen ertappt hat, überhaupt verdient, dass man ihre Aussagen kommentiert? Leider ja, denn anstatt sie in die Wüste zu schicken, lässt man sie von einem EU-Amt zum nächsten hüpfen – wie sollte es bei einem „großen“ Europäer (vor seinem Lügenaphorismus mit dem Karlspreis prämiert!) auch anders sein? Das sagt allein schon unheimlich viel über die politische und intellektuelle Hygiene in der EU aus. Also muss man sich mit der „Leinen los“-Programmtik beschäftigen, denn in solchen Fällen droht leider, dass Herr Juncker durchaus das meint, was er sagt!