„Auch der Grundsatz, die vier Freiheiten als ein zusammengehöriges Ganzes und nicht als Steinbruch je nach politischen Vorlieben zu betrachten, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren.“ (Eric Gujer)
In der EU geht die Angst um, die Angst vor dem Populismus. Mit dem Ausgang der Wahlen in den Niederlanden erhielt die EU zwar eine Atempause, mehr aber auch nicht. Keines der drängenden ökonomischen, sozialen und politischen Probleme ist abgeräumt. Es ist ein Markenzeichen der EU, dass sie seit langem meist nur an Symptomen kuriert. Oft maskiert sie mit (deutschem) Geld temporär die Ursachen. Selbst wenn die französischen Präsidentschaftswahlen „gut“ ausgehen, sind die Probleme, mit denen die EU konfrontiert ist, noch lange nicht ausgestanden. Es führt kein Weg daran vorbei, die EU muss sich erneuern, an Haupt und Gliedern. Das hat auch die EU-Kommission erkannt. Mit dem Weißbuch (hier) hat sie eine reichlich diffuse Plattform für die überfällige Diskussion installiert. Es sind vor allem drei Herausforderungen, mit denen die EU fertig werden muss: Das wirtschaftliche Problem anämischen Wachstums und persistent hoher Arbeitslosigkeit, das soziale Problem unterschiedlicher nationaler Gesellschaftsmodelle und das politische Problem des Umgangs mit nationaler Souveränität.
Ökonomische Herausforderungen
Das wirtschaftliche Wachstum dümpelt vor sich hin. Damit ist Europa allerdings nicht allein. Überall in den reichen Ländern ist das Wachstum seit Anfang des Jahrhunderts anämisch. Das begünstigt die Arbeitslosigkeit auf wenig wettbewerblichen Arbeitsmärkten in Europa. Bei inflexiblen Arbeitsmärkten könnte wirtschaftliches Wachstum für Abhilfe sorgen. Das kommt aber nur in Schwung, wenn Güter- und Faktormärkte offener und wettbewerblicher werden. Die „Vier Grundfreiheiten“ des Europäischen Binnenmarktes sind essentiell für eine positive wirtschaftliche Entwicklung in der EU. Trotz einiger Fortschritte auf Güter- und Kapitalmärkten, hinken vor allem Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte der nötigen wettbewerblichen Entwicklung hinterher. Es wäre für den wirtschaftlichen Wohlstand fatal, wenn die „Vier Grundfreiheiten“ zur Disposition gestellt würden. Ein Kandidat ist die Personenfreizügigkeit. Noch halten Kommission und EuGH dagegen. Tut sie es nicht mehr, gerät die EU wettbewerblich auf die schiefe Bahn. Der Virus der Intervention steckt die anderen Grundfreiheiten an (hier).
Ob der Binnenmarkt wettbewerblich bleibt, steht und fällt auch damit, wie effizient wirtschaftspolitische Kompetenzen in Europa verteilt werden. Gegenwärtig herrscht das Chaos. Die Kompetenzen sind zwischen den mehreren Ebenen der EU kreuz und quer verteilt. Effizient verteilte Verantwortung hat zwei Vorteile: Zum einen machen die verschiedenen Ebenen das, was sie am besten können. Zum anderen fallen Handlung und Haftung nicht mehr auseinander. Wie die Kompetenzen verteilt werden sollten, ist aber nicht einfach. Die ökonomische Theorie des Föderalismus hat ein Raster entwickelt, um Kompetenzen besser zuzuteilen. Verantwortung sollte stärker zentral angesiedelt werden, wenn wirtschaftspolitische Aktivitäten über Ländergrenzen hinweg wirken und Größenvorteile solcher Handlungen existieren. Stärker dezentral sollte Wirtschaftspolitik organisiert sein, wenn die individuelle Präferenzen sehr heterogen sind und man lernen will, wie die Besten ihre wirtschaftspolitischen Aktivitäten organisieren. Es gilt das Prinzip der Subsidiarität (hier).
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Neben der Handels-, Kapital- und Niederlassungsfreiheit zählt auch die Personenfreizügigkeit (PFZ) zu den „Vier Grundfreiheiten“ des EU-Binnenmarktes. Hier liegen die Kernkompetenzen der EU. Zwei Bereiche kommen dazu. In der Terrorismusabwehr können europäische Lösungen spürbare Skalenerträge einspielen. Und eine zentrale Flüchtlingspolitik kann die aktuellen Anreize der Länder verringern, Trittbrett zu fahren. Jürgen Stehn vom IfW in Kiel ist der Meinung, die PFZ nicht als Kernkompetenz der EU zu definieren (hier). Diese Meinung teile ich nicht. Richtig ist, die Präferenzen in den EU-Ländern unterscheiden sich auf diesem Felde, teilweise sogar erheblich. Gibt man aber die Personenfreizügigkeit auf, kommen die anderen drei Grundfreiheiten ins Rutschen. Mögliche negative Auswirkungen der PFZ auf Löhne und Beschäftigung einfacher Arbeit bleiben über Handel und Kapitalbewegungen erhalten (hier). Will man sie verhindern, müssen auch diese Freiheiten beschränkt werden. Die Einschränkung der PFZ destabilisiert den Europäischen Binnenmarkt. Das spricht gegen die Re-Nationalisierung der Personenfreizügigkeit.
Wie die EU mit den ökonomischen Herausforderungen fertig wird, hängt auch entscheidend davon ab, ob es ihr gelingt, die währungspolitische Baustelle der EU zu schließen. Bricht die EWU auseinander, ist die Gefahr groß, dass auch die EU in schwere Wetter kommt. Wer verhindern will, dass die EU Schiffbruch erleidet, muss die EWU wetterfest machen. Der Euro ist in Schwierigkeiten, weil drei Krisen, die sich wechselseitig verstärken, an ihm nagen: Eine Banken-, eine Staatsschulden- und eine Zahlungsbilanz-Krise. Gemeinsam ist allen dreien, dass Handlung und Haftung auseinanderfallen. Multiples „moral hazard“ ist die unangenehme Folge (hier). Das gilt es einzudämmen. Höhere Eigenkapitalquoten und Entflechtungen der Banken senken die Gefahr von Bankenkrisen. Wirksame Schuldengrenzen (Schuldenobergrenzen; No-Bail-Out-Klausel) und eine Insolvenzordnung für Staaten verringern das Risiko staatlicher Schuldenkrisen. Umfassende Strukturreformen und konsolidierte Staatshaushalte machen Zahlungsbilanzkrisen unwahrscheinlicher. In dem gegenwärtigen institutionellen Arrangement „Geld ohne Staat“, an dem sich auf absehbare Zeit nichts ändern wird, führt an einem gehärteten Maastricht 2.0 kein Weg vorbei.
Soziale Herausforderungen
Mit dem Europäischen Binnenmarkt wuchs auch der soziale Widerstand. Vor allem Gewerkschaften und Linke forderten, offene Märkte in Europa um zentral organisierte soziale Leitplanken zu ergänzen. Dem Binnenmarkt sollte eine Sozialunion zur Seite gestellt werden. Diese Forderung wurde nie erfüllt. Heterogene soziale Präferenzen in den Mitgliedsländern sind ein Grund. Es ist ein Irrtum zu glauben, in der EU gäbe es nur ein Sozialmodell. Auf dem Felde des Sozialen herrscht eine große Vielfalt. Mindestens vier Varianten des Sozialstaates lassen sich ausmachen: Eine angelsächsische, eine nordische, eine kontinentale und eine mediterrane Spielart (hier). Die einen setzen mehr auf den Markt, andere stärker auf den Staat, wieder andere huldigen dem Korporatismus und einige präferieren stärker die Familie. Deshalb sollten der EU keine Kernkompetenzen auf dem Feld des Sozialen eingeräumt werden. Heterogene Nationalstaaten sollten weiter das Sagen haben. Ein intensiver Wettbewerb der Systeme hilft ihnen, von den Besten zu lernen.
Es ist weiter umstritten, welche Aufgaben der Sozialstaat erfüllen soll (hier). Er konkurriert mit Kapital- und Versicherungsmärkten, das Gut „Soziale Sicherheit“ zu produzieren. Bei der Absicherung gegen die Risiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter hat er keine komparativen Vorteile gegenüber dem Markt. Anders sieht es bei der Absicherung gegen das Arbeitslosigkeitsrisiko aus. Dort ist er marktlichen Lösungen überlegen. Märkte sollten nicht europaweit koordiniert werden, wenn es um private Kranken-, Pflege- und Altersversicherungen geht. Auch beim Risiko der Arbeitslosigkeit spricht wenig dafür, vielfältige nationale, staatlich organisierte Arbeitslosenversicherungen durch eine zentrale europäische Lösung zu ersetzen (hier). Es ist zwar denkbar, dass sie einen besseren Schutz gegen asymmetrische Schocks bietet. Die Gefahr ist aber groß, dass sie asymmetrische Trends verstärkt und den Weg zu einer Transferunion in Europa weiter ebnet. In der Arbeitsmarktpolitik wäre ein Lernen von den Besten, wie etwa im Fall der „Flexicurity“, nicht mehr möglich.
Etwas anders ist der Fall gelagert, wenn es um die Produktion von „Sozialer Gerechtigkeit“ geht. Bei der inter-personellen Gerechtigkeit hat der (Sozial-)Staat komparative Vorteile gegenüber dem Markt. Gelten die „Vier Grundfreiheiten“, gerät allerdings die Solidarität mit den Armen unter Druck. Die Gefahr eines „race to the bottom“ sozialer (Gerechtigkeits-)Standards in reichen Ländern ist zwar gering. International mobile Arbeit kann allerdings dem Sozialstaat finanzielle Lasten aufbürden. Relativ hohe Leistungen der Grundsicherung reicher Mitglieder wirken wie Magnete auf arbeitslose gering Qualifizierte aus ärmeren EU-Ländern. Die Personenfreizügigkeit kann die Sozialstaaten wohlhabender Länder erheblich belasten. Das ist der Humus, auf dem Populismus prächtig gedeiht. National ungleiche Wohlstandsniveaus und heterogene Präferenzen verbieten eine zentrale Kompetenz der EU. Die Grundsicherung muss national bleiben. Offene Grenzen und ein Sozialstaat sind möglich, wenn das Heimatland-Prinzip bei der Grundsicherung installiert wird. Hier irrte der Nobelpreisträger Milton Friedman.
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Die Produktion von „Sozialer Gerechtigkeit“ hat noch eine andere, inter-regionale Komponente. Das gilt für die nationale, wie die europäische Ebene. Überall in Europa wird versucht, die regional recht unterschiedlichen Lebensverhältnisse einander anzugleichen. Regional ähnliche Lebensverhältnisse sollen helfen, Einkommen gleichmäßiger zu verteilen und Armut zu verringern. Das Mittel der Wahl ist inter-regionale Umverteilung. Ein wichtiger Baustein ist die Regional- und Strukturpolitik. Die Kompetenz liegt gegenwärtig bei der EU. Das ist ungerechtfertigt. Mit inter-regionaler Umverteilung inter-personelle Verteilungsziele zu erreichen, mutet an wie Akupunktur mit der Gabel. Empirisch ist nicht auszumachen, wo die europaweiten inter-regionalen Spillover-Effekte herkommen sollen. Es ist ein weiterer Schritt hin zu einer Transferunion in der EU. Wenig effizient ist auch die gegenwärtige Umverteilung der Mittel der Strukturfonds. Fast die Hälfte der Mittel wird in den Ländern in den Regionen und zwischen ihnen umverteilt. Eine stärkere Re-Nationalisierung der Regional- und Strukturpolitik in der EU tut Not.
Politische Herausforderungen
Die EU schleppt von Anfang an ein Problem mit sich herum: Wie halten es die Mitglieder mit der nationalen Souveränität? Sie hat es bis heute nicht gelöst. Für die Art der europäischen Integration ist aber entscheidend, wie weit die Mitglieder bereit sind, auf Souveränität zu verzichten. Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Ein Pol sind die „Vereinigten Staaten von Europa“. Supranationale Institutionen, wie das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, sollen zu Lasten nationaler gestärkt werden. Diese Variante hat Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede im Jahre 1946 vertreten. Er schloss aber schon damals Großbritannien davon aus. Den Gegenpol vertrat Charles de Gaulle. Ihm schwebte ein „Europa der Vaterländer“ vor. Die Länder sollen zwar kooperieren, wo es ihnen vorteilhaft erscheint. Einen Verzicht auf nationale Souveränität schloss er aber aus. Nationale Regierungen sollen weiter das Sagen haben. Der Europäische Rat sollte gestärkt, die Beschlüsse des Rats sollten konsensual getroffen werden.
Von diesen extremen Polen der Zentralisierung und Nationalisierung hat sich die EU spätestens mit dem Vertrag von Lissabon verabschiedet. Und das ist gut so. Allerdings müssen den Worten erst noch Taten folgen. In Lissabon wurde vereinbart, das Prinzip der Subsidiarität strikt anzuwenden. Das ist in einer EU mit heterogener europäischer Bevölkerung und historisch gewachsenen unterschiedlichen nationalen Institutionen auch nicht anders denkbar. Ideal wäre, wenn sich die Länder der EU nur an Projekten beteiligen würden, von denen sie sich einen Vorteil versprechen. Und die EU-Kommission agiert nur dort, wo nationale Regierungen der Meinung sind, dass sich ihr Land bei zentralen Lösungen besserstellt. Die Mitglieder verzichten auf diesen Feldern auf nationale Souveränität. Nach welchen Regeln die Subclubs arbeiten würden, bliebe ihnen selbst überlassen. Das ist auch der beste Weg, auf dem sich das beklagte gegenwärtige Demokratiedefizit in der EU verringern lässt. Die Gefahr, dass Mitglieder die EU verlassen, wird geringer.
Die schwere Krise der EU befeuert die Diskussion um Formen flexiblerer Integration in Europa. Das jüngste Weißbuch der EU-Kommission zeugt davon. Es werden vor allem zwei Varianten diskutiert: Ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und ein „Europa à la carte“. In der ersten Variante haben alle Mitglieder die gleichen Integrationsziele. Die Länder können sich aber für unterschiedliche Tempi entscheiden. Bei der zweiten Variante verfolgen nicht alle Mitglieder dieselben Ziele. Es bilden sich „Koalitionen von Willigen“, die „mehr tun wollen“ als der Rest. Der Euro und Schengen sind zwei Beispiele für diese Art der flexibleren Integration, die heute schon existieren. Der Knackpunkt dieser Diskussion ist: Was ist die gemeinsame Basis? Für die einen sind die „Vier Grundfreiheiten“ weiter die Magna Carta der europäischen Integration. Dieses ordnungspolitische „Grundpaket“ ist nicht verhandelbar. Anderen ist dieser „acquis communautaire“ seit langem ein Dorn im Auge. Für sie stehen in den „Wahlpaketen“ (Subclubs) die „Vier Grundfreiheiten“ zur Disposition. Das wäre eine neue Qualität der Integration.
Eine solche Integrationsstrategie würde Europa umkrempeln. Der institutionelle Wettbewerb erhielte ein neues Design. Die Handlungsspielräume der Akteure in einer flexibleren EU würden sich verändern. Das Europäische Parlament verlöre an Bedeutung, nationale Parlamente gewännen. Der Einfluss der EU-Kommission würde schrumpfen, der des Rates der EU nähme zu. Auch der EuGH verlöre seine exponierte Stellung. Er hat die Römischen Verträge konstitutionalisiert. Die in den Verträgen kodifizierten „Vier Grundfreiheiten“ haben in Europa quasi Verfassungsrang. Nationale Abweichungen werden nicht akzeptiert. Das können die Mitglieder der EU zwar ändern. Die Gemeinschaftsmethode sieht aber sehr hohe Erfordernisse bei den Mehrheiten in Rat und Parlament vor. Damit sind Veränderungen faktisch kaum möglich. Mit einem flexibleren Europa würde sich der institutionelle Wettbewerb in Europa ändern. Es wäre vieles möglich, was der EuGH bisher verhindert. Grundsätzlich könnte auch von den „Vier Grundfreiheiten“ abgewichen werden. Davon ist allerdings abzuraten. Die Gefahr ist groß, dass Gresham’s Gesetz zuschlägt. Interventionistische Subclubs können sich gegen marktfreundliche durchsetzen.
Fazit
Die EU steht vor großen Herausforderungen. Auf die wirtschaftlichen Herausforderungen ist es notwendig mit einer Stärkung des Binnenmarktes zu reagieren. Das reicht allerdings nicht aus. Vertikale Kompetenzen müssen in der EU effizient verteilt werden. Subsidiarität muss mehr sein als ein totes Wort. National heterogene Präferenzen für unterschiedliche Sozialmodelle verbieten zentrale europäische Lösungen. Eine Sozialunion kommt nicht in Frage. So lässt sich Solidarität nicht herstellen. Notwendig ist institutioneller Wettbewerb im Bereich des Sozialen. Die EU muss dafür einen adäquaten Ordnungsrahmen installieren. Das wäre eine adäquate Antwort auf die soziale Herausforderung. Die politische Herausforderung besteht schließlich darin, auszuloten, wie weit die Länder der EU bereit sind, auf nationale Souveränität zu verzichten. Eine politische Union bleibt auf Sicht eine Illusion. Die mangelnde Bereitschaft der Länder der EU, nationale Souveränität abzugeben, spricht dagegen. Eine flexiblere EU ist dagegen eine reale Möglichkeit. Das Konzept eines „Europa à la carte“ liefert eine Blaupause.
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