Europäisches Licht oder nationale Finsternis?
Der Nationalstaat ist kein Auslaufmodell. Er wird weiter gebraucht.

„Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente“. (Ralph Dahrendorf)

Der Kampf um die Sitze im Europäischen Parlament ist geschlagen. Wie erwartet haben die Volksparteien, die EVP und S&D, verloren. Ohne die Hilfe der erstarkten Liberalen, der um La République en marche gedopten ALDE, oder der mit deutscher Hilfe leicht verbesserten Grünen haben sie keine Mehrheit mehr. Spürbar gewonnen haben die „rechten“ Populisten. Der populistische Tsunami blieb zwar aus. In Frankreich und Italien haben die Populisten aber die Nase vorn. Das neue Europaparlament ist fragmentierter. Die Wähler haben das konservativ-sozialistische Machtkartell aufgebrochen. Mehr politischer Wettbewerb ist möglich.

Der Wahlkampf war eigenartig. Er folgte einer manichäischen Schlachtordnung: Das europäische Licht der Demokraten gegen die Kräfte der nationalen Finsternis der Populisten (Eric Gujer). Die Wahlen wurden zu einer Schicksalswahl der „Guten“ im Kampf gegen die „Bösen“ stilisiert. Das waren sie sicher nicht. Der Scheinkonflikt um den Populismus dominierte. Die Diskussion um den richtigen Weg der europäischen Integration trat in den Hintergrund. Die (existentiellen) Probleme der Europäischen Union verkamen zur Nebensache. Europäische Themen spielten nur eine Nebenrolle. Nationale und lokale Probleme standen im Vordergrund.

Die Europäische Union steht auf der Kippe. Es ist nicht gelungen, die Europäische Währungsunion zu stabilisieren. Das Haftungsproblem trennt den europäischen Norden vom mediterranen Süden. Die Flüchtlingsfrage ist noch immer ungeklärt. Ein Riss spaltet die Europäische Union in Ost und West. Der Brexit schwelt weiter. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreiches wird die europäische Integration zu einem Projekt auf Widerruf. Der verrückte Donald Trump testet aus, wie einig sich die Europäer handelspolitisch sind. Es wird sich zeigen, dass sie es nicht sind. Ein neuer Systemwettbewerb fordert Europa zusätzlich heraus. Der unvermeidliche Streit um die Industriepolitik wird die Europäische Union weiter spalten.

Der Kern der europäischen Integration ist lokal und national. Europa war und ist heterogen, ökonomisch, sozial und politisch. Es ist ein Kontinent der Vielfalt. Alles über einen Kamm zu scheren, stößt auf nationale und lokale Widerstände. Die Strategie der Europäischen Union ist viel zu zentralistisch. Das Prinzip der Subsidiarität ist für die EU-Kommission und das Europäisches Parlament nicht mehr als ein totes Wort. Der Trend zur Zentralisierung ist ungebrochen. Kein Wunder, dass die Populisten in der Europäischen Union so viel Zulauf haben. Er ist auch ein Grund, weshalb sich das Vereinigte Königreich von der Europäischen Union trennen will.

Der Widerstand gegen zentralistische Tendenzen ist allerdings kein Plädoyer gegen die Europäische Union. Das haben inzwischen selbst die europäischen Populisten aller Couleur eingesehen. Es ist aber ein Weckruf an die europäische Politik, die vertikalen Kompetenzen in der Europäischen Union endlich klar zu regeln. Bisher sind sie oft kreuz und quer verteilt, manchmal stehen sie auch auf dem Kopf. Auf europäischer Ebene sollte nur entschieden werden, was einen Mehrwert für alle bringt. Das ist nicht wenig, aber weniger als gegenwärtig verwirklicht. Alles andere sollte wieder auf die nationale und lokale Ebene rückverlagert werden.

Der Nationalstaat wird auch weiter gebraucht. Er ist kein Auslaufmodell. An nationalen Souveränitäten führt in Europa auch künftig kein Weg vorbei. Mindestens so wichtig sind allerdings Regionen und Kommunen. Sie sind die Kraftwerke für die wirtschaftliche Entwicklung, eine Quelle des sozialen Zusammenhalts und der Ort der politischen Willensbildung. Die Kommunen müssen wieder mehr Handlungsspielräume bekommen. In der Vergangenheit wurden ihnen Kompetenzen weggenommen und auf nationale und europäische Ebene verlagert. Das war in vielen Fällen falsch. Eine Korrektur ist dringend erforderlich.

Wer die Europäische Union weiter voranbringen und die populistische Bewegung in die Schranken weisen will, muss die Strategie der europäischen Integration ändern. Es kann nicht darum gehen, dem bisherigen Weg einer „immer engeren Union“ zu folgen. Auf die heterogenen nationalen Bedürfnisse muss stärker Rücksicht genommen werden. Eine Strategie „unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ ist eine Alternative. Eine noch bessere ist ein „Europa à la carte“. Kombiniert mit einem wettbewerblichen Föderalismus kommt die europäische Integration voran. Sie bringt allen einen Mehrwert und nimmt den Populisten den Wind aus den Segeln.

Hinweis: Der Beitrag erschien als Leitartikel in Heft 7/8 (48, 2019) der Fachzeitschrift WiSt.

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