Mangelnde Subsidiarität in der EU

Subsidiarität bedeutet institutioneller Wettbewerb

Der Europa-Wahlkampf ist in vollem Gange. Die politischen Bewerber um einen Sitz im Europa-Parlament positionieren sich für den Fall ihrer Wahl mit Lautstärke zu ihren intendierten Europa-Aktivitäten. Wie könnte es in einer national-politökonomisch angelegten wählerorientierten Bewerberprogrammatik innerhalb der heterogenen EU anders sein, sind sie zumeist gefärbt durch nationale Präferenzschwerpunkte, die von der Idee einer  homogenen europäischen ever closer union mehr oder weniger weit entfernt sind. Im politisch korrekten Mainstream, jedenfalls in Deutschland, gilt dieses Faktum als historisch überholt, als rückständig, als europafeindlich, als nationalistisch. Für manchen Einzelfall der Bewerber mag diese Klassifikation zutreffen, wenn ihr Nationales zum Nationalistischen überschießt. Aber nationale Positionen, die die Werte des Artikels 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) – u. a. Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit – nicht verletzen, sollten  selbstverständlich auch dann als europakonform gelten, wenn sie in einzelnen  Auslegungen einer gewissen Interpretationsheterogenität unterliegen, die nicht notwendigerweise dem Homogenitätsverlangen z. B. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und/oder den Vorgaben der Europäischen Kommission entsprechen.

Zu erinnern sei etwa an die von Großbritannien artikulierte Interpretation von Teilen der Charta der EU-Grundrechte in Bezug auf die Menschenrechte der EU-Bürger, diese hätten weniger mit spezifischen EU-Menschenrechten zu tun, da ja die allgemeinen Menschenrechte im Grundsatz bereits in der UN-Menschenrechtscharta kodifiziert seien, sondern mit nationaler Sozialpolitik, die von den einzelnen Staaten in eigener Souveränität unterschiedlich ausgestaltet werden sollte. Die durchaus offenen Begriffe des Artikels 2 EUV laden geradezu ein zu juristischen, philosophischen, polit-ökonomischen Auslegungen, die aus den nationalen kulturgeprägten Interpretationen heraus nicht unbedingt zentral europaweit homogenisierbar sind. Sie sind allerdings auch nicht einer beliebigen Offenheit auszuliefern, wenn sie mit dem Grundkonsens der Wertebasis des Artikels 2 in sichtbar tiefen Konflikt geraten, der nur durch Verlassen des EU-Werteclubs, wie Großbritannien dies anstrebt, oder durch partielle Entbindung von der Teilnahme an institutionellen Arrangements wie z. B. dem Euro-System, gelöst werden kann.

Hier liegt der Einstieg in das Verständnis differenzierter Integrationsschritte in einem institutionellen heterogenen Mehrebensystem. In diesem Sinne sollte das Subsidiaritätsprinzip des Artikels 5 EUV implizieren, dass die durchaus mannigfaltigen Begriffsoffenheiten des Artikels 2 EUV auch durch nationale Rechtsprechungsinstanzen verbindlich geklärt werden können und nicht notwendigerweise auf die höhere europäische Ebene der Rechtsprechung (EuGH) abgegeben werden bzw. der politischen Vorgaben der EU-Kommission verbindlich unterliegen müssen.

Allerdings muss gesehen werden, dass auch Mitgliedstaaten an der Nichtrealisierung des Subsidiaritätsprinzips interessiert sind, wenn und weil sie sich dadurch dem inter-nationalen institutionellen Wettbewerb, der dem  Subsidiaritätsgedanken ja systeminhärent ist, entziehen können. Das trifft vor allem für Staaten zu, die auf den jeweils relevanten Politikfeldern komparative Wettbewerbsnachteile und mithin ein Interesse haben an einer EU-zentralisiert organisierten künstlichen Wettbewerbsegalisierung mit Hilfe der Strategie des raising rivals´ costs: Nicht die Beseitigung der eigenen komparativen Nachteile, sondern der komparativen Vorteile der Mitbewerber sind erwünscht. Da dies mit der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen leichter beschlossen werden kann, impliziert die Einschränkung von Einstimmigkeitsvoten faktisch eine zunehmende Tendenz zur Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip.

Dieser Einschätzung stehen die im EU-Vertrag kodifizierten Institutionen der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage nur scheinbar entgegen. Bei der Rüge kann bekanntlich ein Drittel der Mitgliedstaaten die Kommission zwingen, ihre Gesetzentwürfe noch einmal zu überprüfen. Bei der Klage können die nationalen Parlamente beim EuGH Klage erheben, wenn sie bei EU-Entscheidungen das Subsidiaritätsprinzip verletzt sehen. Diese Regelungen sind jedoch in der faktischen Ausprägung nicht mit dem Geist der Subsidiarität kompatibel, weil die letzte Entscheidung über den Interventionserfolg bei den Gemeinschaftsorganen Kommission und EuGH liegt und nicht bei den nationalen (oder regionalen oder lokalen) politischen Ebenen, wie es dem Subsidiaritätsgedanken entsprechen müsste. Aus diesem Grunde stellt sich die Frage nach der Einrichtung einer – durchaus in Analogie zum ökonomischen Wettbewerb – unabhängigen Institution als Wettbewerbsaufsicht zur Wahrung des dem Subsidiaritätsprinzip innewohnenden politisch-institutionellen Wettbewerbs. Die Diskussion, wie eine solche aussehen könnte, ist beachtenswert und hat schon Friedrich August von Hayek beschäftigt: Sie geht vom Vorschlag der Einrichtung eines EU-Subsidiaritätsbeauftragten (Möschel) über die Einrichtung eines Subsidiaritätsgerichts (European Constitutional Group, Deutscher Sachverständigenrat) bis hin zu einer parlamentarischen Kammer als Europäischer Senat für Politischen Wettbewerb (Hayek, Vaubel).

BVerfG versus EuGH

An dieser Stelle sei der spezielle Casus hervorgehoben, dass das deutsche  Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bekanntlich die Anleihekäufe der EZB aus besten ökonomischen Begründungen heraus als vertragswidrige Kompetenzüberschreitung klassifiziert, weil sie das Verbot der Staatenfinanzierung durch die Zentralbank missachtet, während der EuGH die Vertragswidrigkeit nicht erkennen mag, vielmehr die EZB-Politik verbindlich als europarechtskonform beschließt. Diese Kontroverse wirft die Frage auf: Mangelt es innerhalb der personellen Besetzung des EuGH an genügend ökonomischer Beurteilungskompetenz der Juristen und/oder gab und gibt es kollusionsähnliche Verabredungen zwischen den zwei grundsätzlich Euro(pa) zentral-affinen Organisationen EZB und EuGH? Politökonomisch würde vor allem Letzteres in die Kategorie von Erhalt bzw. Erweiterung eigener institutioneller Machtbasis zu subsumieren sein.

So oder so, die Konsequenzen sind erheblich: Hätte das BVerfG anstelle des EuGH subsidiaritätsentsprechend das letzte Wort genommen, dann dürfte die Deutsche Bundesbank sich an den Anleihekäufen der EZB in Gänze nicht beteiligen. Dies entspräche auch ihren traditionellen evidenzbasiert erfolgreichen Grundsätzen einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, wie sie ja  formal auch für die EZB eindeutig kodifiziert sind. Würde Subsidiarität recht verstanden und auch praktiziert, hätte das BVerfG das EuGH-Urteil mit seiner  überraschenden Kommentierung, das Urteil entspreche zwar nicht seiner eigenen Auffassung, es sei aber immerhin nicht willkürlich, inhaltlich schwerlich hinnehmen müssen – auch und besonders unter Berücksichtigung des bekannten Rivalitätsverhältnisses zwischen beiden Rechtsprechungsinstanzen.

Keine Subsidiarität in der Euro-Zone

Die Euro-Zone ist ohnehin ein exzellentes Beispiel für die durch die  Nichtbeachtung des Subsidiaritätsprinzips  generierten negativen Auswirkungen einer Währungsunion zwischen heterogenen Nationalstaaten. Die Euro-Zone ist, wie die empirische Evidenz zeigt, keine Institution einer von der Politik so gern artikulierten Integrationsförderung, sondern ganz im Gegenteil der Integrationsspaltung. Kein Wunder: Der gemeinsamen Währung mit der allen Mitgliedern EZB-zentral verordneten einheitlichen Zinspolitik widerspricht das dem Subsidiaritätspostulat inhärente Prinzip der politischen komparativen Gestaltungsvorteile für differenzierte Lösungen in heterogenen Währungsräumen: Zinsen und Wechselkurse sind den notwendigen nationalen Gestaltungsdifferenzierungen der Geldpolitik entzogen und damit systematisch verzerrt: Für einige Mitgliedsländer ist der Euro-Wechselkurs zu hoch, für  andere zu niedrig. Innerhalb des Euro-Raumes weichen die festgezurrten nominalen Wechselkurse von den realen Wechselkursen, die den internen  Wechselkursanpassungsbedarf im Euro-Raum  indizieren, ab. Sie können aber nicht durch subsidiaritätsentsprechende nationale Ab- und Aufwertungen korrigiert werden.

Die Euro-Zone ist mithin eine durch und durch instabile Institution als Folge der politisch entschiedenen Abschaffung des national orientierten Subsidiaritätsprinzips in der Geld- und Währungspolitik zugunsten einer zentralisierten Einheitlichkeit. Diese ist nach wie vor politisch gewollt, obwohl ihr die grundlegende ökonomische Statik fehlt. Daran ändern auch die ausufernden Rettungsschirminstitutionen, Transferzahlungen und Initiativen der institutionellen Vergemeinschaftungen (z. B. Euro-Budget) nichts: Sie sind langfristig erfolglose, aber kostspielige Hilfssubstitute für die Verweigerung von mehr währungspolitischer Subsidiarität im Euro-Raum. Erinnert sei an die  realitätsbasierte Einsicht: Was ökonomisch nicht trägt, kann politisch nicht sinnvoll sein. Wenn Subsidiarität bei Heterogenität verweigert wird, kann Zentralisierung nicht erfolgreich helfen.

Subsidiarität als Weckruf

Das haben Dänemark, Großbritannien und Schweden dadurch, dass sie von Anfang an nicht der Euro-Zone beigetreten sind, obwohl sie die  Beitrittsbedingungen erfüllten, damals bereits erkannt. In den sich gegenwärtig abzeichnenden national-politischen Paradigmenwechseln innerhalb der EU dämmert es ähnlich: Die als neue „Hanse“ inoffiziell bezeichnete Allianz von gegenwärtig sieben EU-Mitgliedern vornehmlich nördlicher Provenienz unter Führung der Niederlande wendet sich ab von der weitgehenden Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene und plädiert für Reformen in der EU und auf nationaler Ebene, die sich vornehmlich auf Haushaltsdisziplin und Eigenverantwortung beziehen und den französischen Vorschlägen für mehr Zentralisierung entgegentreten. Die deutsche Bundesregierung hat sich hier noch nicht positioniert, sie ist wohl noch gefangen in der franco-zentralistischen Umklammerung. Damit wird die traditionell enge inhaltliche stabilitätsorientierte geld- und fiskalpolitische Kooperation zwischen den Niederlanden und Deutschland geschwächt. Es ist zudem absehbar, dass die Zahl der „Hanse“-Mitglieder steigt, die sich einer weiteren zentralistischen Bevormundung entziehen wollen. Der Ruf nach mehr Subsidiarität in der EU ist mithin ein dringender Weckruf zur Abwehr ihrer internen Fliehkräfte und damit zur Stabilisierung des europäischen Integrationsraumes.

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