Ordnungsruf
Das „Geschäftsmodell Deutschland“ in der Kritik

Die deutsche Wirtschaft ist auf der Überholspur: Der starke Einbruch des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2009 ist überwunden. Seinerzeit führte die Finanzkrise dazu, dass das deutsche BIP um 5,1% schrumpfte. Besonders betroffen war die Industrieproduktion. Sie brach hierzulande um 13,7% ein. Die deutsche Wirtschaft erholte sich jedoch zügig und erreichte schnell wieder das Vorkrisenniveau. Auch die Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt war während und nach der Krise positiv: Während in den meisten anderen Industrieländern die Arbeitslosigkeit im Zuge der Finanzkrise stark anstieg, blieb sie in Deutschland mit einem Zuwachs von 0,3 Prozentpunkten nahezu konstant. In den beiden folgenden Jahren 2010 und 2011 sank die Arbeitslosenquote deutlich und ist mittelweile europaweit eine der niedrigsten.

Trotz der guten Performance ist das Geschäftsmodell Deutschland nationaler und internationaler Kritik ausgesetzt. Allem voran wird kritisiert, dass das deutsche Wirtschaftswachstum stark von der Entwicklung des deutschen Außenbeitrags abhängt (vgl. nachfolgende Abbildung). Die damit einhergehenden Handelsbilanzüberschüsse werden insbesondere im Zuge der Eurokrise stark kritisiert.

Wachstumsbeiträge
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In dem Zeitraum 1970 bis einschließlich 2011 wies Deutschland ein durchschnittliches jährliches reales BIP-Wachstum von 2,1% auf. Hiervon sind 1,8 Prozentpunkte auf eine gestiegene Binnennachfrage zurückzuführen und 0,3 Prozentpunkte auf die Veränderung des Außenbeitrags.

Um eine Vergleichbarkeit mit anderen Ländern zu ermöglichen, wird das durchschnittliche jährliche BIP-Wachstum der betrachteten Länder in der folgenden Abbildung auf 100% normiert. Die Wachstumsbeiträge der Binnennachfrage und des Außenbeitrags werden als Anteile dargestellt.

Wachstumsbeiträge
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Es zeigt sich, dass der Außenbeitrag in Deutschland rund 13% zum jährlichen BIP-Wachstum beisteuerte. Dies ist mehr als in den anderen dargestellten Ländern. In Großbritannien und den USA war der Wachstumsbeitrag des Außenbeitrags negativ. Allerdings gibt es auch Länder, die ähnlich hohe oder noch höhere Werte als Deutschland aufweisen. So trug der niederländische Außenbeitrag durchschnittlich 15% zum niederländischen BIP-Wachstum bei. In Schweden waren es 21% und in Irland gar 31%.

Betrachtet man lediglich die Jahre nach der Euroeinführung (1999-2008), nimmt der Wachstumsbeitrag des deutschen Außenbeitrags sowohl relativ als auch absolut zu. Durchschnittlich 0,76 Prozentpunkte trug die Veränderung des Außenbeitrags in diesem Zeitraum zum deutschen Wirtschaftswachstum von 1,58% bei. Somit ist nahezu die Hälfte des BIP-Wachstums in diesem Zeitraum auf eine Veränderung des Außenbeitrags zurückzuführen (vgl. folgende Abbildung). Auch in Japan erklärt die Veränderung des Außenbeitrags einen großen Teil des BIP-Wachstums. In den restlichen vier Ländern beruht das BIP-Wachstum allein auf einer Veränderung der Binnennachfrage, da der Wachstumsbeitrag des Außenbeitrags negativ ist.

Wachstumsbeiträge
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Eine Ursache für den hohen Anteil des Außenbeitrags am deutschen Wirtschaftswachstum ist der hohe Industrieanteil, denn Länder mit einem hohen Industrieanteil weisen in der Regel auch Exportüberschüsse auf. Aktuell steuert das Verarbeitende Gewerbe hierzulande 21% zur Bruttowertschöpfung bei (vgl. nachfolgende Abbildung). Der Anteil liegt damit teils merklich über dem in vergleichbaren Ländern. Es ist klar erkennbar, dass das Ausgangsniveau hierbei eine wesentliche Rolle spielt. So entspricht der deutsche Anteil des Verarbeitenden Gewerbes im Jahr 2010 ungefähr dem von Frankreich im Jahr 1970, obgleich der Anteil in den vergangenen 40 Jahren hierzulande merklich gesunken ist.

Verarbeitendes Gewerbe
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Gegenwärtig überbieten sich nationale und internationale Organisationen mit Vorschlägen, die darauf abzielen, die deutschen Handelsbilanzüberschüsse und mithin den Beitrag des Außenbeitrags zum deutschen Wirtschaftswachstum zu reduzieren.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Ein Teil der Maßnahmen zielt darauf ab, die Marktkräfte zu stärken und Hemmnisse, die sich durch staatliche Eingriffe und Regulierung ergeben, abzubauen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, dass die Allokation der Produktionsfaktoren durch den Markt koordiniert und nicht durch staatliche Vorgaben verzerrt wird. Solche Maßnahmen stärken also die Koordinierungsfunktion des Marktes und werden daher im Folgenden in die Gruppe „Marktgetriebene Anpassung“ eingeordnet.

Der andere Teil der Maßnahmen sieht vor, die deutschen Handelsbilanzüberschüsse durch politische Eingriffe abzubauen. Die Allokation der Produktionsfaktoren wird dabei nicht durch den Markt koordiniert, sondern durch die Politik gesteuert. Diese Maßnahmen fordern also ein aktives Eingreifen der Politik in den Markt. Sie werden im Folgenden in die Gruppe „Politikgetriebene Steuerung“ eingeordnet (vgl. Tabelle).

Handlungsvorschläge
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Zahlreiche der in Tabelle 1 dargestellten Vorschläge sind insbesondere vor dem Hintergrund der Eurokrise zu sehen, da die deutschen Handelsbilanzüberschüsse eng mit der Eurokrise verbunden sind (Vgl. Gerken/Kullas, 2011). Hierbei ist zu beachten, dass ein Abbau der deutschen Handelsbilanzüberschüsse nur dann zur Lösung der Eurokrise beiträgt, wenn er gegenüber anderen Euro-Staaten stattfindet. Findet der Abbau der deutschen Handelsbilanzüberschüsse in erster Linie gegenüber Nicht-Euro-Staaten statt, kann dies die Eurokrise vielmehr verstärken. So profitieren die südeuropäischen Euro-Staaten von den deutschen Exporten in Staaten außerhalb der Eurozone, denn deutsche Exporte des Verarbeitenden Gewerbes bestehen zu 38,1% aus importierten Vorleistungen. Ein Großteil davon wird aus den anderen Euro-Staaten importiert.

Vergleicht man die beiden Spalten, wird schnell deutlich, dass der Markt entscheiden sollte, ob und inwieweit die deutschen Handelsbilanzüberschüsse reduziert werden müssen. Zwar haben die Marktakteure in den ersten zehn Jahren nach der Euroeinführung die Risiken insbesondere in den südeuropäischen Mitgliedstaaten unterschätzt und somit die nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden innerhalb der Eurozone ermöglicht. Daraus sollte jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass nun die Politik den Abbau der Salden steuern soll.

Ein politikgetriebener Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden wäre ordnungspolitisch nur dann sachgerecht, wenn die Kapitalmärkte solche Risiken systematisch falsch und die Politik systematisch richtig einschätzten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr wurden die Risiken von beiden Akteuren unterschätzt. Die Marktakteure haben ihre Einschätzung jedoch schneller und früher korrigiert als die Politik. Viele Politiker gingen in der Anfangsphase der Eurokrise davon aus, dass es sich um Spekulationen handelt, denen keine realwirtschaftliche Ursache zu Grunde läge. Sie waren daher schnell bereit, Griechenland zu deutlich günstigeren Konditionen Kapital zu leihen als private Akteure. Die jüngsten Spekulationen über einen zweiten griechischen Schuldenschnitt belegen jedoch, dass die staatlich bereitgestellten Kredite zu Konditionen vergeben wurden, die das griechische Ausfallrisiko nicht adäquat widerspiegeln. Die Fähigkeit des Marktes, Fehleinschätzungen schnell zu korrigieren und rasch auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren, ist ein erster Grund, weshalb der Markt – und nicht die Politik – einen Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden koordinieren sollte.

Eine marktliche Koordinierung weist im Vergleich zu einem politikgesteuerten Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden einen zweiten Vorteil auf: Es ist sichergestellt, dass solche Salden tatsächlich abgebaut werden. Die Schwierigkeiten eines politikgesteuerten Abbaus werden bei einem Blick auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt deutlich. Dieser war noch nicht einmal in der Lage, die öffentlichen Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten abzubauen. Ernsthafte Sparbemühungen wurden erst dann eingeleitet, als die Zinsen für die staatliche Schuldenaufnahme in die Höhe schnellten. Überträgt man dieses Beispiel auf den deutlich schwierigeren – da mit realwirtschaftlichen Reformen verbundenen – Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden, wird klar, dass der Markt besser geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen.

Um einen marktgetriebenen Abbau nicht-nachhaltiger Handelsbilanzsalden zu unterstützen, müssen hierzulande

  • bestehende Investitionshemmnisse beseitigt werden,
  • die öffentliche Bildungs-, Forschungs- und Verkehrsinfrastruktur branchenneutral verbessert werden,
  • die Erwerbstätigkeit erhöht werden und
  • der Dienstleistungssektor dereguliert werden.

Der Erfolg dieser Maßnahmen hängt wesentlich vom unternehmerischen Engagement ab. Denn letztlich sind es Unternehmer, die investieren, neue Produkte oder Prozesse entwickeln, Arbeitnehmer einstellen und neue Märkte erschließen. Der Wirkungsgrad der genannten Maßnahmen kann somit vervielfacht werden, wenn Hemmnisse für unternehmerisches Engagement abgebaut werden. Hierzu zählen insbesondere bürokratische Hemmnisse und die geringe Flexibilität des deutschen Arbeitsmarktes.

Nicht geeignet zum Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden sind

  • eine expansive Fiskalpolitik,
  • deutschlandweite oder gar gesamteuropäische Eingriffe in den Lohnfindungsprozess und
  • eine staatliche Förderung einzelner Dienstleistungsbereiche.

Eine expansive Fiskalpolitik ist kein geeignetes Mittel, da die staatlichen Ausgaben schlicht zu klein sind, um wesentliche Effekte erreichen zu können. Denn von steigenden deutschen Staatsausgaben profitieren in erster Linie Länder, aus denen Deutschland viele Importe bezieht. Die südeuropäischen Krisenstaaten gehören nicht dazu. Der Sachverständigenrat kommt in einer Simulation zu dem Ergebnis, dass ein schuldenfinanzierter Anstieg der öffentlichen Ausgaben in Deutschland um ein Prozent zu einer Verringerung des griechischen Leistungsbilanzdefizits im Umfang von 0,05 Prozentpunkten führt. Ein vernachlässigbarer Wert, wenn man bedenkt, dass das griechische Leistungsbilanzdefizit im vergangenen Jahr bei 9,8% des griechischen BIP lag. Hinzu kommt, dass eine solche expansive Fiskalpolitik langfristig nicht haltbar wäre, da dadurch der deutsche Schuldenstand weiter ansteigen würde.

Die Forderung, die Löhne in Deutschland zu erhöhen, um die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Staaten anzugleichen, wird ebenfalls nicht zu einem Abbau der nicht-nachhaltigen Handelsbilanzsalden in der Eurozone beitragen. Grund hierfür ist, dass die südeuropäischen Euro-Staaten zum großen Teil standardisierte Güter herstellen und mithin nicht in direkter Konkurrenz zu deutschen Unternehmen stehen. Vielmehr profitieren die südeuropäischen Staaten aufgrund von deutschen Vorleistungsimporten von der hohen deutschen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nicht-Euro-Staaten. Lohnsteigerungen in Deutschland haben daher keine positiven Auswirkungen auf die Handelsbilanzdefizite der südeuropäischen Euro-Staaten.

Auch eine politische Steuerung des Strukturwandels hierzulande durch die Förderung einzelner Dienstleistungsbereiche ist nicht geeignet, die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Denn dahinter steht die Überzeugung, im Voraus über das Wissen zu verfügen, welchem Sektor, welchem Bereich, welcher Technologie oder gar welchem Unternehmen zur Steigerung des Allgemeinwohls zum Wachstum verholfen werden muss. Aus ordnungspolitischer Sicht ist dies eine Anmaßung von Wissen, da politische Entscheidungsträger vorgeben, über Wissen zu verfügen, dass sie tatsächlich nicht haben.

Welche Bereiche zur Förderung „auserwählt“ werden, hängt zudem in großem Umfang von der Fähigkeit der Branchenvertreter ab, politische Entscheidungen zu beeinflussen oder aber von der Klientel-Politik eines Politikers, der sich damit seine Wiederwahl sichern möchte. Die Auswahl ist daher regelmäßig willkürlich. Sie ist mit einer „Fehllenkung“ von knappen Ressourcen (wie Kapital oder menschliches Know-how) verbunden und führt somit in der Regel zu Wachstumsverzicht.

Nicht nur theoretische Überlegungen, auch zahlreiche praktische Beispiele belegen, dass politische Entscheidungsträger hierbei in der Regel falsch liegen. Zu nennen sind hier die staatliche Förderung des Cargolifters, des Nürburgrings oder des Transrapids. Die selektive Förderung einzelner Absatzmärkte oder Technologien unter Verwendung von Steuergeldern ist daher abzulehnen.

Alles in allem zeigt sich, dass es auch in der gegenwärtigen Situation sinnvoll ist, die Marktkräfte hierzulande zu stärken. Die Finanz- und auch die Eurokrise haben zwar deutlich gezeigt, dass sich Marktakteure irren können. Hieraus sollte jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass nun die Politik das Heft in die Hand nehmen sollte. Die Lernfähigkeit des Marktes, also die Fähigkeit Fehleinschätzungen schnell zu korrigieren, führt dazu, dass der Markt der Politik noch immer überlegen ist.

Hinweis: Der Beitrag ist die Kurzfassung einer Studie für das 1. Ordnungspolitische Kolloquium („Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells Deutschland“) der Impuls-Stiftung des VDMA, das am 18. und 19. September 2012 im Kloster Neresheim stattfand.

 

5 Antworten auf „Ordnungsruf
Das „Geschäftsmodell Deutschland“ in der Kritik“

  1. Der deutsche Exportüberschuss kann nur beseitigt werden durch eine externe oder interne Aufwertung. Ersteres setzt den Austritt Deutschlands aus dem Euro voraus und ist mit interner Stabilität vereinbar. Letzteres geht nur über Lohn- und Preissteigerungen oberhalb des EU-Durchschnitts, ist also mit interner Stabilität unvereinbar. Es wird Zeit, der Pro-Euro-Mafia in deutscher Exportwirtschaft und Politik eine politische Initiative entgegenzusetzen, die klar auf eine letztlich verbraucher- und europafreundliche Rückkehr zur DM abzielt.

  2. Auch wenn der Markt in der Auswahl und Bewertung vieler Investitionen dem Staat überlegen sein mag, so führen auch Marktpreise nicht immer zum Gleichgewicht und zur Effizienz. Gerade Löhne sind starr und passen sich nur langsam an. Betrachtet man die durchschnittlichen Lohnsteigerungen in Deutschland und anderen Eurostaaten, so verlaufen diese beinahe linear steigend und reagieren kurzfristig kaum auf das wirtschaftliche Umfeld. Auch weisen sie eine Tendenz dazu auf nicht nominal zu sinken, was eine Anpassung von Löhnen nach wirtschaftlichen Schocks problematisch macht. Daher macht es Sinn bedacht im Fall steigender Ungleichgewichte bei Lohnentwicklungen auf eine bestimmte Richtung zu drängen. Langfristig dürfte die Leistungsbilanz eines Staates gegen 0 tendieren und derart hohe Überschüsse wie sie Deutschland jetzt aufweist sprechen nicht für eine nachhaltige Wirtschaftsstruktur. Lohnsteigerungen in Deutschland hätten darüberhinaus auch eine Abwertung des Euros zur Folge, was wiederum den südlichen Staaten entgegenkommen würde.

  3. „Das Ausland“, das unseren Exportüberschuß kritisiert, hat doch eine ganz einfache Möglichkeit, ihn zu beeinflussen: Nichts mehr, bzw. weniger aus Deutschland zu kaufen.

    Wer hat „mehr Schuld“ an unserem Exportüberschuß? Die Käufer oder die Verkäufer?

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