Die Zukunft der Pflege
Interaktion zwischen Gesundheits- und Pflegesystem

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe ist aktuell dabei, seiner Ankündigung Folge zu leisten und der Pflegereform, die sich als „Dauerbaustelle“herauskristallisiert hat, wieder neuen Schwung zu geben. Die Hausaufgaben scheinen vielfältig zu sein. Ein neues Begutachtungsverfahren soll künftig fünf Bedarfsgrade für Einstufung der Pflegebedürftigkeit erproben und damit den schon länger schwelende Auseinandersetzung ob der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes neuen Auftrieb geben. Gleichzeitig hat der Referentenentwurf den geplanten Beitragsanstieg berücksichtigt, der einer Dynamisierung der Pflegeleistungen Rechnung trägt. Jedoch gilt es an dieser Stelle, den grundsätzlichen (gesundheitsökonomischen) Grundlagen einer institutionalisierten Pflegeversorgung Beachtung zu schenken. Pflege ist im Gegensatz zur medizinischen Betreuung ein Bereich, der den gesamten Bereich des „Lebens“ umfasst und daher auch methodisch immer von verschiedenen Akteuren getragen werden muss. Im Gegensatz zur akutmedizinischen Versorgung charakterisiert sich Langzeitpflege eben gerade darin, einen anhaltenden Hilfebedarf zu organisieren und finanziell zu alimentieren und dies dauerhaft (vgl. etwa Lundsgaard 2005). Somit erfordert Langzeitpflege fortwährende organisatorische Strukturen, die in die verschiedenen Lebensbereiche des Sozialraums eingeflochten sind.

Gerade in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gilt es aber zu berücksichtigen, dass staatliche Unterstützung, sei diese finanziell oder auch durch (organisierte) Sachleistungen abgebildet, dort ihre Grenze findet, wo der Verantwortungsbereich des Einzelnen für seine normale Lebensführung beginnt. Somit orientierte sich die Politik in der Vergangenheit und auch gegenwärtig daran, dass der Hauptteil der Pflege „ehrenamtlich“ erbracht wird.  In der wissenschaftlichen Terminologie wird hier von informeller Pflege durch Angehörige und Verwandte gesprochen, die sich von professionell organisierter Pflege unterscheidet. Jedoch ist dieser ungeschriebene Hintergrund einer Pflegepolitik künftig nicht mehr in dieser Weise gegeben:

Schätzungen zu Folge kann bei einer Fortschreibung der derzeitigen alters- und geschlechtsspezifischen Pflegewahrscheinlichkeiten und unter Beibehaltung der derzeitigen Beschäftigungsstruktur spätestens nach 2025 der Bedarf an Pflegepersonal nicht mehr gedeckt werden. Andererseits erschweren demografische und gesellschaftliche Entwicklungen — wie die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen sowie der Trend zur Singularisierung der Haushalte ohne Familienanbindung — die informelle Pflege innerhalb sozialer Netze. Gerade an dieser Stelle greift die Diskussion um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff an. Bisher standen für die Einordnung der Pflegestufen primär somatisch orientierte Gründe zur Verfügung. Künftig soll es bei der Pflegeeinstufung, auch durch den Bedeutungsgewinn altersabhängiger Krankheiten wie etwa Alzheimer-Demenz, um den Grad der Selbständigkeit der betreffenden Person bei der Durchführung von Aktivitäten und der Gestaltung von Lebensbereichen gehen (vgl. Naegele/Bäcker 2011). Hier entsteht nicht nur ein Abgrenzungsproblem hinsichtlich des Umfangs der institutionell organisierten Pflege  – Teilkaskoprinzip der Pflegeversicherung – sondern auch eine Herausforderung bei der Gestaltung der Infrastrukturumgebungen in den Sozialraum. Gerade im Zusammenspiel zwischen formaler und informeller Pflege zeigt sich auch die Belastbarkeit des politisch propagierten Zieles „ambulant vor stationär“, das dort seine Grenze findet, wo auch die ökonomischen Belastungen der informell Pflegenden zu groß werden. Beispielsweise werden die informellen Kosten bei leichter und mittlerer Demenz auf 80 % der Jahreskosten von fast 50.000 Euro geschätzt (vgl. etwa Schwarzkopf et. al. 2011). Somit gewinnt die Einbindung des Wechselspiels zwischen organisierter und informeller Pflege- und Betreuungslösungen in eine organisierte Form der Versorgungssteuerung an Bedeutung und kann als Beitrag zur Effektivitäts- und Effizienzsteuerung der „Pflegeproduktion“ dienen. Diese Managementaufgabe an den Schnittstellen folgt aber gerade durch die hohe persönliche Dienstleistungskategorie von Gesundheit und Pflege weniger dem Bild einer klar strukturierten, linearen Versorgungskette, sondern fordert vielmehr ein kontinuierliches Problemlösungskonstrukt ein, das dem Bild eines Netzwerkes folgt, das verschiedene Wissenssysteme miteinander verknüpfen muss (vgl. Stabell/Fjeldstad 1998).

Somit stellen sich mit der neuen Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffes nicht nur organisatorische sondern mittel- bis langfristig auch institutionelle Fragen zur Ausrichtung des Gesundheits- und des Pflegeversicherungssystems. So wird die in Aussicht gestellte Neuformulierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu Verteilungseffekten mit Nettogewinnern und Nettoverlieren führen, soweit das Prinzip der Beitragssatzstabilität als konstituierendes Prinzip der Sozialversicherung gültig bleibt. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die politökonomisch motivierte Neigung weiterhin gilt, Leistungen zwischen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Pflegeversicherung zu verschieben, insbesondere Kosten aus der Krankenversicherung in die Pflegeversicherung zu verlagern. Dies gilt insbesondere für Versorgungsverläufe, die sowohl mit Krankheit als auch Pflege korrespondieren und deren Abgrenzung im Kontext altersabhängiger Krankheiten schwieriger wird, wie etwa bei der Demenz des Alzheimer Typs. Eine Externalisierung in die Pflegeversicherung erscheint zwar kurzfristig aus Sicht einer Krankenversicherung durchaus rational, da dort im Gegensatz zur Krankenversicherung ein allgemeiner Ausgabenausgleich zwischen den Kassen besteht, verschärft aber langfristig nur die ökonomische Nachhaltigkeit beider Versicherungssysteme. Eine ökonomisch orientierte Optimierungsaufgabe im Kontext der Pflege muss daher den Besonderheiten einer Pflegeumgebung in finanzieller wie in organisatorischer Sicht Rechnung tragen und fordert somit viel mehr Antworten ein als nur die Neuausrichtung der Finanzierung des Pflegesystems.

Literatur:

Lundsgaard, J. (2005): Consumer direction and choice in long-term care for older persons, including payments for informal care: how can it help improve care outcomes, employment and fiscal sustainability?. OECD Health Working Papers no. 20. Online verfügbar unter http://  www.oecd.org/dataoecd/53/62/34897775.pdf.

Naegele, G./Bäcker, G. (2011): Pflegebedürftigkeit aus sozialpolitischer Sicht. In: Schaeffer/ Wingenfeld (Hrsg): Handbuch Pflegewissenschaft. S. 199 ff. Weinheim: Juventa

Schwarzkopf, L. et. al. (2011): Costs of Care for Dementia Patients in Community Setting: An Analysis for Mild and Moderate Disease Stage, in: Value in Health, Jg. 14, pp. 827-835.

Stabell, C. B./Fjeldstad, O. D. (1998): Configurating Value for Competitive Advantage: On Chains, Shops, and Value Networks, in: Strategic Management Journal, Vol. 19 (5): 413-437.

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