Am 15. Januar 2015 um 10.29 Uhr MEZ hat eine Meldung aus Zürich die globalen Finanzmärkte und die globale Politik wie selten bewegt: Notenbankpräsident Thomas Jordan gibt bekannt, dass die Schweizerische Nationalbank SNB ab sofort keine Stützungskäufe zur Verteidigung der Wechselkursuntergrenze von 1.20 Franken zum Euro mehr tätigen werde. Ein konsequenter und mutiger Entscheid, hatten sich doch die monetären Bedingungen so verändert, dass immer grössere Summen zur Verteidigung der Kursuntergrenze nötig wurden – und dies ohne Aussicht auf Entspannung. Reflexartig meldeten sich Politiker, Wirtschaftsführer und Experten und kommentierten die Entscheidung der SNB: Die einen wohlwollender – die anderen kritischer. Zur Einordnung dieses historischen Schrittes der SNB sind aus unserer Sicht zwei historische Parallelen von Bedeutung.
Der Euro Mindestkurs: Hoffnungen auf eine Wiederholung von 1978
Nachdem der Euro-Franken-Kurs im zweiten Quartal 2011 immer stärker gesunken war und die auf Überlegungen zur Kaufkraftparität basierende Überbewertung des Frankens ein immer grösseres Ausmass annahm, wurde das Risiko eines starken Konjunktureinbruchs und eines Preiszerfalls in der Schweiz immer grösser. Obschon die SNB den Leitzins praktisch auf null gesenkt und die Liquidität im schweizerischen Geldmarkt wiederholt massiv ausgebaut hatte, spitzte sich die Lage weiter zu. Grund waren akute Zahlungsschwierigkeiten einiger EU-Mitgliedsstaaten, die das Vertrauen in den Euro anhaltend schädigten. Immer mehr Anleger suchten einen sicheren Hafen für ihr Geld und investierten es in die Fluchtwährung Schweizer Franken. Mit anhaltender Frankenstärke wurde die Forderung nach einem Wechselkursziel immer lauter. Im Sommer 2011 stellten sich praktisch alle Parteien und Verbänden hinter diese Massnahme. Es wurde darauf verwiesen, dass die SNB 1978 mit einer solchen Intervention bereits einmal Erfolg hatte.
Blicken wir zurück: Am Anfang der Anbindung des Franken an den D-Mark-Kurs stand der Austritt der Schweiz aus Bretton-Woods im Jahr 1973 und damit das Ende des festen Wechselkurses für den Schweizer Franken. Mit dem Übergang zur Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen begann eine neue Ära. Der SNB gelang es, schnell Reputation aufzubauen und mit einer restriktiven Geldpolitik die Inflationserwartungen zu senken. Trotz starken Wechselkursschwankungen konnte sie die Preise in den folgenden Jahren stabil halten. Allerdings wurde der Franken in einem internationalen Umfeld, das stark von Inflation und Stagnation geprägt war, immer stärker. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stieg sein Kurs gegenüber den Währungen aller wichtigen Handelspartner der Schweiz zusehends an. Besonders stark war die Aufwertung gegenüber der Deutschen Mark: Während diese zu Beginn der 1970er Jahre noch bei rund 1.20 Franken notierte, fiel ihr Wert 1978 zeitweise unter 80 Rappen. Es entstand ein ausserordentlicher Druck auf die Schweizer Exportindustrie und den Arbeitsmarkt. Als Reaktion verschärften Bundesrat und SNB verschiedene „Devisenbann-Massnahmen“, die bereits vor dem Ausstieg aus Bretton-Woods eingeführt worden waren – darunter das Verbot ausländische Gelder in inländischen Grundstücken anzulegen, ein Verzinsungsverbot, Negativzinsen, Mindestreserven auf ausländischen Geldern und die Einführung einer Bewilligungspflicht für die Kreditaufnahme im Ausland.
Mit einer zunehmenden Überbewertung des Schweizer Frankens erreichte die Devisenbann-Politik 1978 ihren Höhepunkt, doch die Massnahmen blieben wirkungslos. Am 29. September 1978 entschloss sich die SNB nach intensiven internen Diskussionen schliesslich, ein Wechselkursziel bekanntzugeben: Der Kurs von 100 D-Mark sollte deutlich über 80 Franken liegen. Die SNB erklärte sich bereit, so lange am Devisenmarkt zu intervenieren, bis dieses Ziel erreicht wird. Das Experiment gelang: Innert weniger Tage gab der Franken nach und der Kurs stieg auf 90 Franken. Bis zur Einführung des Euro 1999 sank er nie wieder unter die 80 D-Mark-Grenze. Damit konnte die Wechselkursproblematik zwar gelöst werden, allerdings nahm die Geldmenge massiv zu. Sie stieg 1978 im Jahresmittel auf 16.6% und lag damit weit über dem Ziel des Direktoriums von 5%. Dies verursachte mit einer Verzögerung von drei Jahren einen starken Anstieg der Inflation.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen, war es naheliegend, 2011 das Experiment von 1978 zu wiederholen. Bei einer mittelfristigen Stabilisierung der Schuldenkrise in der Eurozone, könnte die Verkündung eines Mindestkurses der Wirtschaft temporär die notwenige Sicherheit vor abrupten Wechselkursschwankungen bieten. Diese Hoffnung war vor vier Jahren nicht unbegründet, denn die EU zeigte sich bereit, die institutionellen Vorkehren zu treffen, um die Lage zu stabilisieren – Stichworte waren: Sixpack im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, EFSF und ESM oder Bankenunion. Am 6. September 2011 war es schliesslich soweit. Die SNB gab bekannt, dass sie am Devisenmarkt keinen Euro-Franken-Kurs unter dem Mindestkurs von 1.20 mehr tolerieren wird. Sie signalisierte, dass sie mit unbeschränkten Devisenkäufen bereit ist, den Mindestkurs durchzusetzen. Innert Stundenfrist stieg der Euro über 1.20 Franken.
Erinnerungen an 1973: Aufwertung durch die Rückkehr zu flexiblen Wechselkursen
Seit dem 15. Januar 2015 wissen wir, dass sich die Hoffnungen auf eine Wiederholung des Szenarios von 1978 nicht erfüllt haben. Die Verunsicherung in der Eurozone hält immer noch an und die EZB ist bereit, alles zu tun, um den Eurokurs zu schwächen. Damit stiegen die Kosten der Durchsetzung des Mindestkurses und die damit einhergehenden geldpolitischen Risiken so stark an, dass sich die anhaltenden und stark gestiegenen Devisenkäufe durch die SNB nicht mehr länger rechtfertigen liessen. Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses ruft die Erinnerung an eine andere Episode aus der Geschichte des Schweizer Frankens wach, bei der die Nationalbank einen ähnlichen Entscheid treffen musste.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtete die neue internationale Währungsordnung von Bretton-Woods ihre Mitgliedstaaten, zu denen auch die Schweiz gehörte, den Wechselkurs ihrer Währung innerhalb einer eng begrenzten Bandbreite gegenüber dem US-Dollar zu halten. Dieser war als Leitwährung an Gold gebunden. Der wachsende Welthandel ging mit einer steigenden Dollar-Nachfrage einher, was zu einem konstanten Leistungsbilanzdefizit der USA führte und das Vertrauen in sie allmählich schwinden liess. In Erwartung einer Aufwertung der D-Mark floss in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre viel Kapital nach Deutschland. Die deutsche Regierung ergriff Gegenmassnahmen, die sich alle als unzureichend erwiesen und sie schliesslich Ende Oktober 1969 dazu veranlasste, die D-Mark um 9.3% aufzuwerten. Dies vermochte die Märkte nicht zu überzeugen. In Erwartung einer weiteren Aufwertung floss beständig Kapital nach Deutschland. Die Situation spitzte sich zu, als Berichte und Äusserungen anfangs Mai 1971 eine Kursfreigabe – und damit eine faktische Aufwertung – der D-Mark als möglich erscheinen liessen. Die Devisenströme wurden so gross, dass sich die Bundesbank am 5. Mai dazu entschied, den Devisenmarkt zu schliessen. Mit dem zunehmenden Misstrauen dem Dollar gegenüber wurde auch der Schweizer Franken vermehrt zum Ziel von Währungsspekulationen. Zwischen dem 1. April und dem 5. Mai 1971 übernahm die SNB Dollars im Gegenwert von rund 6 Milliarden Franken, was damals eine ausserordentlich hohe Summe war. Als dann allein in der ersten halben Stunde nach der Bekanntgabe der Schliessung des deutschen Devisenmarktes Dollar im Gegenwert von 2.6 Milliarden Franken zur SNB flossen, sah man sich auch in der Schweiz dazu veranlasst, den Devisenmarkt zu schliessen. Die Bundesbank entschied sich, ihre Dollarkäufe zu sistieren, wodurch der Wechselkurs der D-Mark faktisch flexibel wurde. Während andere Zentralbanken diesem Beispiel folgten, hielt die Schweiz am System fester Wechselkurse fest und wertete den Franken um 7% auf. Die Aufwertung fand innerhalb des Vororts – des Schweizer Wirtschaftsdachverbands – scharfe Kritiker, welche die Paritätsänderung als zu starke und übereilte Panikmassnahme werteten. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass die Aufwertung nicht hoch genug war. Bereits im August 1971 verzeichnete die SNB wieder massive Dollarzuflüsse.
Am 15. August 1971 erklärte Präsident Nixon ohne vorangegangene Absprache mit den anderen Bretton-Woods-Mitgliedern die Goldkonvertibilität des US Dollars für aufgehoben und führte gleichzeitig einen Einfuhrzoll in der Höhe von 10% ein. Nixon bestand auf eine Neufestsetzung der Wechselkurse, die nach langen Verhandlungen am 18. Dezember 1971 im Rahmen des sogenannten Smithsonian Agreement festgelegt wurden. Der Dollar erfuhr gegenüber Gold eine Abwertung von 7.9%. Die Schweiz wertete um 6.4% gegenüber dem Dollar auf, was es ihr ermöglichte, die Goldparität unverändert zu lassen. Doch die Lage beruhigte sich nur vorübergehend. Bereits 1972 kam es zu weiteren schweren Krisen. Aufgrund der guten konjunkturellen Situation floss weiter ausländisches Geld in die Schweiz, was die Inflationsrate weiter ansteigen liess. Der Bundesrat und die SNB versuchten, die Lage mit diversen Devisenbann-Massnahmen wieder in den Griff zu bekommen, Â mussten aber bald feststellen, dass sich die Situation damit nicht beruhigen liess.
Schliesslich entschied die SNB in Einvernehmen mit dem Bundesrat am 23. Januar 1973 ihre Käufe am Devisenmarkt einzustellen. In den folgenden Monaten liessen anhaltende Schwankungen auf dem Devisenmarkt eine Rückkehr zu festen Wechselkursen immer unwahrscheinlicher werden. Was von der SNB ursprünglich als temporäre Massnahme gedacht war, entpuppte sich als historischer Kurswechsel: Die Schweiz war zu flexiblen Wechselkursen übergegangen, ein Schritt, den noch zuvor noch kein kleines europäisches Land gewagt hatte. Dies ermöglichte es der SNB erstmals in ihrer Geschichte, eine unabhängige Geldpolitik zu verfolgen. Und sie verstand es, die sich bietende Chance zu nutzen. Â Mit der markanten Drosselung des Geldmengenwachstums vollzog die Nationalbank einen entschiedenen Kurswechsel, der ihre Entschlossenheit signalisierte und ihr ein hohes Mass an Glaubwürdigkeit verschaffte. Dadurch gelang es ihr, innert kürzester Zeit die Preise zu stabilisieren.
Als es dann zum Ölpreisschock kam, dessen negative Auswirkungen durch den monetären Restriktionskurs der SNB verstärkt wurden, brach das reale Wirtschaftswachstum ein. 1975 und 1976 war das reale BSP sogar negativ. Dies hatte starke Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. Rund 340“˜000 Stellen mussten abgebaut werden, davon waren zwei Drittel Ausländer, die in der Folge die Schweiz verlassen mussten.
Ist 1973 mit heute vergleichbar?
Die Frage, ob sich mit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses der Erfolg von 1973 wiederholen lässt, kann heute noch nicht schlüssig beantwortet werden – zu verschieden waren die Ausgangslagen und zu hoch die ist die Ungewissheit, die mit einem solchen Entscheid verbunden ist. Entscheidend ist die Tatsache, dass die SNB 1973 ihre Unabhängigkeit erlangte und diese Unabhängigkeit im Sinne einer stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik interpretierte. Die diskretionäre Geldpolitik ist nämlich mit grossen Risiken verbunden – dies geht in der aktuellen Diskussion gelegentlich in Vergessenheit. Die übliche Ankündigung, für Preisstabilität zu sorgen, ist bei einer den politischen Einflüssen ausgesetzten Zentralbank grundsätzlich nicht sehr glaubwürdig. Ex post, also nach der Ankündigung, sind die Anreize zu gross, von diesem Ziel abzuweichen, weshalb das Publikum solchen Versprechen bereits bei der Ankündigung kaum Vertrauen schenkt. Eine kluge Regelbindung erlaubt es allerdings, dass eine dauerhafte Sicherung des Geldwerts gewahrt werden kann, dass zeitinkonsistentes Verhalten der Zentralbank vermindert wird und das Publikum den Ankündigungen Glauben schenkt. Es geht um Fragen der klugen Selbstbindung, der Steuerung des Geldmengenwachstums durch eine externe Regel zur Verhinderung von Inflation und Destabilisierung durch fehlgesteuerte Schwankungen der Geldversorgung. Die SNB hat die Kraft der Regelbindung schnell erkannt. 1973 bis Ende 1999 befolgte sie eine auf Kontrolle monetärer Aggregate ausgerichtete Geldmengenpolitik. Mit dem Übergang zum neuen geldpolitischen Konzept im Jahr 2000 wurden die Inflationsprognose und die klare Definition von Preisstabilität zur Regelbindung. Mit der Aufhebung des Mindestkurses hat die SNB ihre Unabhängigkeit erneut eindrücklich unter Beweis gestellt. Der Entscheid vom 15. Januar ist in dieser Beziehung ein starkes Signal ihrer Autonomie. Durch den Schutz des Schweizer Frankens hat die SNB das getan, was gemäss ihres verfassungsmässigen Auftrag sollte: als unabhängige Institution eine im Gesamtinteresse des Landes liegende Geld-Â und Währungspolitik zu verfolgen. Denn Zeitinkonsistenz ist das zentrale Problem der Geldpolitik.
Literatur
Baltensperger, Ernst (2012), Der Schweizer Franken. Eine Erfolgsgeschichte. Die Währung der Schweiz im 19. Und 20. Jahrhundert. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.
Baltensperger, Ernst (2007), Die Geldpolitik der Schweiz seit den sechziger Jahren. Gefunden am         20. Jan. 2015 unter http://www.seco.admin.ch/dokumentation/publikation/02640/02642/index.html?lang=de
Bernholz, Peter (2007), “Die Nationalbank 1945–1982: Von der Devisenbann-Wirtschaft zur Geldmengensteuerung bei flexiblen Wechselkursen,“ in Schweizer Nationalbank (Hrsg.), Die Schweizerische Nationalbank 1907 – 2007, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 225-256.
Halbeisen, Patrick und Tobias Straumann (2012), „Die Wirtschaftspolitik im internationalen Kontext“, in Patrick Halbeisen, Margrit Müller und Béatrice Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Basel: Schwabe, S. 983-1130.
Straumann, Tobias (2010), Fixed Ideas of Money. Small States and Exchange Rate Regimes in Twentieth-Century Europe. New York: Cambridge University Press.
Zurbrügg, Fritz (2012), Fiskal- und Geldpolitik im Spannungsfeld stabilitätsorientierter Wirtschaftspolitik, Luzerner Universitätsreden Nr. 25.
Blog-Beiträge aus der Serie “Ordnung in der Währungspolitik“:
Wolf Schäfer: Die Schweiz: Nicht mit dem Euro in die Krise!
Dieter Smeets: Schweizer Nationalbank löst Tsunami an den Finanzmärkten aus