Warum keine Minderheitsregierung?

Die nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen von fast allen Politikern und Beobachtern am wenigsten präferierte Lösung ist die einer Minderheitsregierung. Nahezu einhellig meint man, dass eine solche die Stabilität der Politik beschädige, gerade in einem Land, das international als Stabilitätsanker gilt. Zweifellos ging die politische Stabilität in Deutschland Jahrzehnte lang Hand in Hand mit festen Koalitionsmehrheiten im Bundestag. Aber das sagt über die Kausalität nichts aus. Vielleicht hatten wir stabile Verhältnisse im Bundestag, weil die jeweiligen Koalitionen über Mehrheiten verfügten. Vielleicht hatten die jeweiligen Koalitionen aber auch Mehrheiten, weil die Verhältnisse im Bundestag stabil waren. Egal wie herum, letzteres ist ohnehin vorbei, und daher lässt sich Stabilität im Nachhinein nicht dadurch verordnen, dass man so tut, als ob die Verhältnisse so wären wie früher.

Was ist geschehen? Die bürgerlichen Parteien, zu denen heute auch die Grünen gehören, haben es nicht zu verhindern vermocht, dass sich zunächst am linken und dann am rechten Rand jeweils eine populistische Partei im Bundestag etablierte. Ob sie dies durch eine klügere Politik hätten verhindern können, spielt keine Rolle und sei deshalb dahingestellt. Die beiden populistischen Parteien, deren Repräsentanten entweder eine Regierungsbeteiligung verweigern oder von den traditionellen Parteien von einer solchen ausgeschlossen werden oder beides, vereinigen jedenfalls knapp 23 Prozent und damit bald ein Viertel aller Sitze im Bundestag auf sich. Im Durchschnitt kommt damit jede der fünf übrigen Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne auf nicht einmal 15 Prozent. Unter diesen Bedingungen sind die traditionellen Fraktionen nun also aufgefordert, mit kaum mehr als drei Viertel der Sitze eine absolute Mehrheit aller Sitze zu einer Koalition zusammenzubringen. Das ist das Problem, und eine Minderheitsregierung wäre davon ein mögliches Symptom, das man zu kurieren sich bemühte, indem man vier höchst unterschiedliche Parteien oder drei Fraktionen zu einer Regierungsmehrheit zu verschmelzen versuchte. Das ist fürs erste gescheitert, und man darf hinzufügen: erwartungsgemäß gescheitert.

Und nun werden die Beteiligten und vor allem die Nichtbeteiligten nicht müde, nach Schuldigen zu suchen. Das ist wohlfeil, ob es aber nützt, steht auf einem anderen Blatt. Tatsache ist, dass der Wahlkampf voll war von Symbolen, deren inhaltliche Bedeutung unklar blieb und damit mehr verschleierte als zu klären verhalf. Dass sich dennoch viele der jeweiligen Parteirepräsentanten im Wahlkampf an feste Symbole gebunden haben, hat die Suche nach Kompromissen nicht einfacher gemacht.

Ein Blick auf die Graphik zeigt, was los ist. Sie ist abstrakt, und was dort „schwarz“, „gelb“ und „grün“ ist, hat erst einmal keine inhaltliche Bedeutung. Stellen wir uns nun zwei Dimensionen vor, welche jeweils irgendein Symbol repräsentieren. Eine Dimension könnte eine mehr oder weniger starke Begrenzung der Migration sein (Obergrenze), eine andere ein mehr oder weniger starkes Engagement in der Klimapolitik oder was auch immer. Dimension 1 ist auf der vertikalen Achse abgetragen, was bedeutet, dass weiter oben „mehr“ bedeutet. Dimension 2 ist auf der horizontalen Achse abgetragen, was bedeutet, dass weiter rechts „mehr“ bedeutet. „Mehr“ oder „weniger“ heißt dabei aber nur mehr oder weniger von der Wirkung des jeweiligen Symbols und nicht unbedingt mehr oder weniger eines bestimmten Inhalts. Die Lage des schwarzen Punktes oben links gibt die Kombination der beiden Dimensionen an, die mit Blick auf die nächste Wahl für die „schwarze“ Partei optimal wäre. Mit einer solchen Kombination glaubt die schwarze Partei also, in der nächsten Wahl die meisten Stimmen gewinnen zu können. Dabei ist es unerheblich, ob sie das zurecht glaubt oder nicht. Ganz entsprechend ist das mit dem grünen und dem gelben Punkt für die anderen beiden Parteien. Entlang eines Kreises um den jeweiligen Punkt – also beispielswiese dem schwarzen Kreis um den schwarzen Punkt – befinden sich die unterschiedlichsten Kombinationen der beiden Dimensionen, denen nur eines gleich ist: dass sie alle gleich weit entfernt sind von dem jeweiligen Optimum der Partei. Bewegt man sich also in einen solchen Kreis hinein, so kommt man dem Optimum der jeweiligen Partei näher, bewegt man sich davon weg, dann entfernt man sich von diesem Optimum.

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Die bisherige Politik wird annahmegemäß durch den blauen Punkt wiedergegeben, der ungefähr in der Mitte liegt. Von dort aus verhandeln nun die Parteien über eine neue Kombination der beiden Dimensionen, die dann die Grundlage für eine Koalition sein soll. Wenn nun beispielsweise die Schwarzen mit den Gelben verhandeln, dann finden sie zwischen dem gelben und dem schwarzen Kreisabschnitt einen Bereich links vom blauen Ausgangspunkt. Jeder Punkt in diesem Bereich liegt für beide Parteien näher an ihrem jeweiligen Optimum als der Ausgangspunkt. Das ist ein Potenzial für Verhandlungslösungen, für Kompromisse, zwischen Partei „Schwarz“ und Partei „Gelb“. Deshalb ist das der „schwarz-gelbe“ Bereich. Ganz analog dazu finden die Schwarzen und die Grünen oben und leicht rechts vom blauen Ausgangspunkt einen „schwarz-grünen“ Bereich, und auch der führt sie beide näher heran an ihr jeweiliges Optimum. Schließlich gilt das auch für die Grünen und die Gelben, die rechts unten einen „grün-gelben“ Bereich finden.

Eine Einigung zwischen zweien der drei Parteien ist in der Situation, die die Graphik wiedergibt, immer möglich, und zwar in allen drei Kombinationen von jeweils zwei Parteien. Denn für jedes Paar von Parteien gibt es Kombinationen der beiden Dimensionen, für die sich beide Parteien mit Blick auf die kommenden Wahlen verbessern – und sei es nur in ihrer subjektiven Einschätzung. Dagegen gilt dies für eine Kombination von drei Parteien in der Situation der Graphik nicht. Es gibt nämlich keinen Bereich, der, ausgehend vom blauen Ausgangspunkt, alle drei Parteien besserstellt. Das bedeutet: Wo immer man sich hinbewegt, was immer auch verhandelt wird, wie lange und intensiv man auch verhandelt und wie gut auch immer der Wille ist: Es wird jeder Kompromiss immer mindestens eine Partei weiter weg von ihrem Optimum führen. Und weil alle Parteien einem Koalitionsvertrag zustimmen müssen, gibt es folglich auch keine Verhandlungslösung. Wenn das die aktuelle Lage korrekt beschreibt, dann haben die Beteiligten es nicht an Ernsthaftigkeit und Mühen fehlen lassen. Vielmehr haben sie die Kompromisslösung deshalb nicht gefunden, weil die Kompromisslösung nicht existiert. In der Sprache der Verhandlungstheorie heißt das: Die Verhandlungsraum hat einen leeren Kern; und vieles spricht dafür, dass genau hierin tatsächlich das Problem liegt. Da hilft keine Häme und es helfen keine Schuldzuweisungen. Denn jeder nur denkbare Kompromiss wäre für mindestens eine Partei ein Himmelfahrtskommando gewesen. Gewiss kann man dennoch an die Parteien appellieren, ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden und zu diesem Zwecke im Zweifel sogar ihren Untergang in Kauf zu nehmen. Aber realistisch ist das nicht.

Natürlich ist das Beispiel in der Graphik konstruiert, denn bei anderen Anordnung tritt das Problem des leeren Kerns nicht auf. Aber die sehr unterschiedliche Positionierung im Raum der jeweiligen politischen Dimensionen in der aktuellen Situation macht das Problem eines leeren Verhandlungskerns sehr wahrscheinlich. Generell gilt: Je größer die Zahl der Verhandelnden und je heterogener ihre Verhandlungsziele, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Verhandlungskern leer ist. Und hiermit sind wir wieder bei dem tieferen Problem angelangt: der Zusammensetzung des Bundestages mit zwei populistischen Parteien, die für sich bereits fast ein Viertel der Sitze vereinen, und mit nicht weniger als fünf weiteren Parteien, die sich an einander widersprechende Symbole gebunden haben.

Was lernen wir daraus? Wir lernen, dass Neuwahlen mit höchster Wahrscheinlichkeit dieselbe Lage erneut erzeugen, wie wir sie derzeit haben; und wir lernen, dass der Appell an die Verhandlungspartner sprichwörtlich ins Leere gehen muss. Wir sollten aber auch im Blick behalten, dass der Verhandlungskern wohl vor allem deshalb leer sein dürfte, weil die politischen Symbole so heterogen sind. Denn die sind wichtig für die Wiederwahl. Die inhaltlichen Differenzen dürften dagegen bei weitem weniger stark ausgeprägt sein: Niemand aus dem Lager der traditionellen Parteien wird jenseits von Kameras bestreiten, dass Deutschland und die EU die Außengrenzen dauerhaft sichern muss, gerade um bedrohten Menschen gezielt und effektiv helfen zu können. Allein die Instrumente sind noch zu entwickeln und zu verfeinern. Die Symbole tragen hierzu nichts bei. Dasselbe gilt für den Klimaschutz, bei dem es schon wegen internationaler Verpflichtungen nicht um das ob, sondern nur um das wie, also um die geeigneten Instrumente geht. Und so geht das weiter.

Wenn wir das festhalten, dann liegt auf der Hand, worin die Lösung besteht und worin nicht. Erstens: Nicht eine Minderheitsregierung ist die Ursache von Instabilität, sondern die Zusammensetzung des Parlaments. Da daran aber nichts zu ändern ist und da man realistischer Weise keiner Partei den politischen Selbstmord aufschwatzen kann, müssen sich zweitens so viele Parteien einigen, wie sich Parteien einigen können; vielleicht nicht weniger, aber gewiss nicht mehr. Zwei Fraktionen mit drei Parteien, schwarz und grün oder grundsätzlich auch schwarz und gelb, haben höchstwahrscheinlich einen nicht-leeren Verhandlungskern. Also muss aus dem einen oder dem anderen heraus eine Minderheitsregierung entstehen. Realistischer erscheint zur Zeit schwarz-grün. Was ist das Besondere daran? Erstens erhalten nur jene Parteien Ministerposten, welche sich auch an der Regierung beteiligen. Ein Problem? Nein, im Gegenteil. Zweitens muss die Regierung mit jeder einzelnen parlamentarischen Beschlussvorlage die noch fehlenden Stimmen zur Mehrheit im Bundestag mitdenken, in den Vorschlag einbauen und eventuell zuvor mit Parteien, Fraktionen und Abgeordneten außerhalb der Regierung verhandeln. Ein Problem? Natürlich nicht, dafür ist ein Parlament geschaffen. Und weil die inhaltlichen Differenzen kleiner sind als die symbolischen, sollte es in jedem Einzelfall auch möglich sein, eine Mehrheit zu finden. Vorausgesetzt, die Beschlussvorlagen sind durchdacht und ausgereift – und das hoffen wir Bürger doch.

Überlegen wir uns als Bürger einmal, was ein Koalitionsvertrag eigentlich ist, dann finden wir, dass er nichts ist als ein Kartellvertrag, der den Wettbewerb der Ideen und die Intensität des Ringens um Lösungen einschränkt. Gerade so, wie das jeder Kartellvertrag tut. Konkret verpflichtet er die Vorsitzenden der beteiligten Fraktionen dazu, „ihre“ jeweiligen Abgeordneten auf ein zentral verordnetes Abstimmungsverhalten festzulegen. Daher sind Fraktionsvorsitzende auch als „Zuchtmeister“ bekannt, welche das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten auf Linie bringen, obwohl letztere doch allein ihrem Gewissen verpflichtet sind. Die Instrumente der Zuchtmeister sind bekannt, auch wenn es nirgendwo geschrieben stehen darf, dass ein „Abtrünniger“ stets um seinen Listenplatz bei der nächsten Wahl fürchten muss, sofern der Fraktionsvorsitzende nicht die Güte hatte, den „Fraktionszwang“ aufzuheben – was grundsätzlich nur in parteipolitisch unbedeutenden Fragen geschieht. Dieses Kartell wird durch eine Minderheitsregierung geschwächt. Das ist alles. Ein Problem? Im Gegenteil, aus Sicht der Demokratie ist es erfreulich.

Aber was ist mit der Stabilität? Wie gesagt, ist die Stabilität bereits durch die Zusammensetzung des Bundestages geschwächt. Zusätzlich dazu würde es eine Minderheitsregierung mit sich bringen, dass die konstruktive Opposition wahrscheinlich aus zwei Parteien bestehen würde: vermutlich der SPD und der FDP. Während beide Parteien in durchaus nachvollziehbarer Weise um ihre Existenz für den Fall fürchten, dass sie einer Koalition beitreten, haben sie aus der Opposition heraus beste Chancen, sich als kritisch-konstruktive Parteien für die nächste Wahl zu empfehlen. Sie können jedes Entscheidungsverfahren begleiten, ihre Position darlegen und im Einzelfall entscheiden, ob sie den jeweils anstehenden Vorschlag unterstützen oder ihn ablehnen. Das gibt ihnen beste Möglichkeiten, ihr Profil zu schärfen.

Und die Regierung? Sie hat neben den beiden populistischen Parteien zwei recht unterschiedliche Oppositionsparteien, deren Zustimmung sie wechselseitig gewinnen kann, eine davon aber mindestens gewinnen muss. Das schärft den Blick für die Probleme und lässt zusätzliche Aspekte einfließen. Diese Verfeinerung der Entscheidungsfindung tritt zumindest teilweise an die Stelle der Kartellierung durch die Zuchtmeister; vorausgesetzt freilich, dass die Opposition sich konstruktiv verhält. Genau das aber bewirkt der Wettbewerb der Oppositionsparteien untereinander, denn eine Fraktion, die sich destruktiv jeder Zustimmung verweigert, wird damit kein Profil gewinnen können; und eine Partei, die sich als Vasall der Regierungsfraktion geriert, ebenso wenig. Das schützt die Regierung und uns Bürger vor einer parlamentarischen Lähmung. Wir könnten im Gegenteil nach langer Zeit wieder konstruktiv-kritische Debatten im Bundestag erleben, aus denen heraus Gesetzesvorhaben erst einmal reifen, bevor sie die Gremien passieren.

Leute wie Gauland und Wagenknecht wird man für eine solch konstruktiv-kritische Parlamentsarbeit freilich nicht gewinnen können. Das ergibt sich aus deren Geschäftsmodell, das aus dem Gewinn von Wählerstimmen durch Bauernfängerei besteht. Im Lichte einer sichtbar konstruktiv-kritischen Arbeit der sonstigen Oppositionsparteien und eines dadurch wieder lebhafteren Parlamentsalltags dürfte genau diesem Geschäftsmodell der Populisten zumindest tendenziell das Wasser abgegraben werden. Ein Problem? Im Gegenteil!

Denn die Repräsentanten der nicht-populistischen Oppositionsfraktionen werden ihre künftigen Wählerstimmen damit gewinnen, dass sie glaubwürdige Signale ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung senden. Und das kann nur heißen: Sie werden sich einbeziehen lassen in ernsthafte Verhandlungen über anstehende Projekte und Entscheidungen – um dann im Einzelfalle Schlechtes zu verhindern und Gutes zu ermöglichen. So sollte es ja auch sein in einer Demokratie. Darauf sollten wir uns freuen!

Thomas Apolte
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2 Antworten auf „Warum keine Minderheitsregierung?“

  1. „Niemand aus dem Lager der traditionellen Parteien wird jenseits von Kameras bestreiten, dass Deutschland und die EU die Außengrenzen dauerhaft sichern muss …“

    Dann sind die Grünen offenbar keine „traditionellen Partei“.

  2. Falls – wie Sie zu anfangs betonen – CDU, CSU, FDP und die Grünen in die Gruppe der ‚bürgerlichen Parteien‘ einzuordnen sind, dürften sich ja auch die politischen Symbole mittelfristig annähern. Dann würde der ‚leere Kern‘ sich auffüllen.

    Die Übertragung der Kartelltheorie auf die Politik (und damit verbunden die Idee, durch einen stärkeren Wettbewerb der Ideen und Inhalte ein besseres Politikangebot zu erhalten) ist inhaltlich sicherlich richtig, allerdings auf dem medienpolitischen ‚Auge‘ blind. Jede für die Öffentlichkeit relevante Entscheidung würde dann bestimmt durch die Suche nach Schuldigen und Unschuldigen. Letztlich führt das auf eine weitere Hysterisierung der öffentlichen Debatten hinaus, welche dann wieder parteistrategisch genutzt werden kann (z.B. CDU: „Wir leben in sehr unruhigen Zeiten. Wir stehen aber für Stabilität“).

    Zuletzt noch ein Kommentar: Folgt man Ihrer Logik des stärkeren inhaltlichen Wettbewerbs, muss man sich auch ehrlich machen und von Begriffen wie „Bauernfängerei“ Abstand halten. Durch die Aufhebung des so genannten „Fraktionszwangs“ (oder besser der „Fraktionsdisziplin“) finden sich auch genügend konstruktive Parteimitglieder bei der Linken und der AfD.

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