Realpolitische Visionen

Helmut Schmidt sagte über Willy Brandt „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“; George H.W. Bush sprach mit weniger Witz aber ähnlich verächtlich von „the vision thing“, welches ihm im Gegensatz zu seinem Vorgänger Ronald Reagan abging. Im pluralen Rechtsstaat kann die Aufgabe der Politik nicht quasi-religiöse visionäre Sinnstiftung sein. Dennoch ist eine rechtsstaatliche Politik, die es nicht schafft, den Bürger auf die Seite des Rechtsstaates zu bringen, potentiell subversiv für den Rechtsstaat. Die Jamaika Koalition hätte das, so wie um sie verhandelt wurde, auch nicht geschafft. Was wir gebraucht hätten, wäre eine Jamaika-Koalition mit einer konstruktiven Vision gewesen.

  1. Rechtsstaatliche Verwaltung ist ein Segen, bloße Verwaltung der Rechtsstaatlichkeit nicht

Politik als gehobene Verwaltungstätigkeit im Interesse der Bürger – Schmidt-Schnauze und/oder Mutti-Politik – ist kurz und mittelfristig keineswegs die schlechteste. Die jüngere Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass sogar langfristige Ziele in dieser Weise verfolgt werden können. So hat in Deutschland die große Koalition von der breiteren Öffentlichkeit nahezu unbemerkt eine Verfassungsänderung auf den Weg gebracht, die der fundamentalen Strukturschwäche aller westlichen Demokratien, der Möglichkeit, in der Parteienkonkurrenz partikulare Interessen durch Defizitfinanzierung zu befriedigen, entgegenwirkt (vgl. Buchanan, collected works, vol. 1, chap.3, vol. 2 und vol. 8). Ob eine Verfassungsänderung zugunsten ausgeglichener Haushalte ausreicht, um das langfristige Ziel einer Selbstbindung der Politik zu erreichen, hängt zwar davon ab, inwieweit das Bundesverfassungsgericht seiner Aufgabe gerecht werden wird. Dass das Vorhaben im Parlament abgesegnet wurde, ist ein in jedem Falle beachtliches Zeichen ordnungspolitischer Einsicht und Weitsicht. Das alles ist extrem positiv, aber leider gibt es keine positive Vision her, die den Bürger begeistern könnte.

Die Selbstbindung der Politik durch Aufnahme einer Verfassungsnorm zur Haushaltsdisziplin ist keineswegs nur christdemokratischen nostalgischen Erinnerungen an den Juliusturm des früheren Finanzministers Schaeffer entsprungen. Wie auch im Falle der früheren sogenannten Hartz IV Reformen des Arbeitsmarktes hat vielmehr vor allem die SPD ihre Verlässlichkeit als Partei des Rechtsstaates und der Verteidigung der finanzpolitischen Grundlagen des Staates erwiesen. Das ist eine große Leistung, doch keine, die sich in der politischen Münze von Wählerstimmen ausgezahlt hätte – im Gegenteil. Welche Lehren die SPD nun in der Opposition aus dem Misserfolg an der Wahlurne ziehen wird, ist absehbar: Sie wird sich von langfristigen Zielsetzungen, jedenfalls soweit diese sich nicht in unmittelbar populäre Visionen umsetzen lassen, abwenden.

Grundsätzlich erscheinen der deutsche demokratische Rechtsstaat und die Privatrechtsgesellschaft, die er stützt und möglich macht, als stabil. Die sogenannte Jamaika Koalition wäre gewiss nicht stabilitätsgefährdend gewesen. Hätten die Bürger mit ihrer Wahlentscheidung am Wahltag intendiert, diese Koalition zu installieren — was fast keiner von ihnen getan haben dürfte –, wären sie nicht schlecht beraten gewesen. Dass sich die Körner-FDP der Grünen mit den ordnungspolitisch bewussten Teilen der Christ- und der Frei-Demokraten auf eine vernünftige Wirtschaftspolitik verständigen konnten, durfte erwartet werden. Weder die Melonen (inside pink outside green), noch die Nostalgiker der Deutschland-AG, noch die weltanschaulich gefestigten Gegner des Wohlfahrtsstaates, die diesen durch Steuersenkungen in die Knie zwingen möchten, dadurch aber nur neue Staatsschulden erzeugen würden, schienen sich durchzusetzen. Aber ein weiterer Jamaika-Urlaub von der unruhigen politischen Realität fällt aus.

  1. Alles ist in Butter, funktioniert die Landesmutter?

Das Bewusstsein, dass wir womöglich etwas dafür tun müssen, damit der Westliche Rechtsstaat, der sich als außergewöhnlicher historischer Glücksfall erwiesen hat, nicht in einem nach historischen Maßstäben gewöhnlichen Unglücksfall untergeht, scheint im unaufgeregten und daher auch wenig aufregenden Erfolg dieser Staatsform zunehmend verloren gegangen zu sein. Das Glück ist auch in Deutschland so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden, dass viele es nicht mehr zu schätzen wissen (das sogenannten Dritte Reich ist nur ein Beispiel für eine generelle, gern verdrängte Gefahrenlage; anschaulich dazu, was alles schiefgehen kann und auch in der Regel schief geht, Acemoglu und Robison 2013).

Zu Zeiten des real verblichenen Sozialismus gab es, zumal in Deutschland, neben den Erinnerungen an die Nazizeit lebhaftes Anschauungsmaterial dafür, wie viel besser es „im Westen“ ist. Das wirkte der tief in der menschlichen Seele verankerten Skepsis gegenüber unkontrollierten und zentral unkontrollierbaren (privat-vertraglichen) Prozessen, deren Duldung uns der freiheitliche Rechtsstaat auch zumutet, entgegen.

Die Erinnerungen daran, wie furchtbar die Alternativen zum freiheitlichen Rechtsstaat und der von ihm getragenen Privatrechtsgesellschaft sein können, sind heute weitgehend verblasst. Schlimmer noch, der gegenüber empirischer Evidenz vollkommen groteske Gedanke, dass es früher — unter Bedingungen weniger schrankenloser Freiheit — besser war (vgl. Norberg 2017 und https://ourworldindata.org/), feiert fröhliche Urständ. Vor allem die Gleichheit habe, so heißt es, Schaden genommen gegenüber früheren Zeiten (was man ergänzen möchte um den Halbsatz, „in denen es allen gleichermaßen schlechter ging“). Dass in unserer Gesellschaft alles einen Preis und nichts einen Wert mehr hat, teilen uns Radio und Fernsehen mit. Die Litanei nimmt kein Ende…und wer keine Probleme hat, der macht sich welche, damit er diese lösen kann.

Nicht nur die Kapitalismuskritik der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wird in kulturkritisch aufgehübschter Form erneut salonfähig. Wie nach der Finanzkrise in den dreißiger Jahren des letzten hat nach der Finanzkrise dieses Jahrhunderts die Diskreditierung des Erfolgsmodells der westlichen Marktwirtschaft eine scheinbare realökonomische Rechtfertigung erfahren. Die Institutionen, denen wir unseren Wohlstand und unsere Freiheit verdanken, finden „durch die Bank“ nurmehr halbherzige Unterstützung. Die im und mit dem System erfolgreichen Individuen verstehen die institutionellen Grundlagen des Erfolges nicht mehr. Sie halten den Fortbestand des Erfolges für selbstverständlich. Die weniger erfolgreichen begreifen sich überhaupt nicht mehr als Stakeholder des Systems, obwohl gerade sie im Vergleich zu Systemalternativen profitieren. Lethargie macht sich breit und selbst die Tatsache, dass Deutschland wirtschaftlich von Erfolg zu Erfolg eilt, wird keineswegs dem System gutgeschrieben. Ein weiter so ist keine Vision, die zur Identifikation einlädt.

  1. Was tun?

Der nachfolgende Vorschlag  ist als Denkanstoß gedacht, der dazu anregen soll, über neue Möglichkeiten nachzudenken, die Wohlfahrtswirkungen der Rechtsstaatlichkeit für alle Bürger erfahrbar zu machen. Es muss allen „veranschaulicht“ werden, dass sie Stakeholder des Rechtsstaates und insoweit im gleichen Boot sind. Man sollte versuchen, unintelligenten durch intelligenten Populismus zu ersetzen. Das sogenannte Bürgergeld taugt in abgespeckter Form womöglich dazu.

Wir wissen zum einen, dass ein sogenanntes Bürger-Geld in weiten Kreisen populär ist. Wir wissen zum zweiten, dass ein Bürger-Geld, von dem jedes Einzelindividuum leben könnte, jenseits des finanzierbaren Rahmens liegen würde. Es wäre jedoch durchaus denkbar, dass ein Anteil der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung als Subjektförderung monatlich an jeden Bürger, ob reich oder arm, bar ausgezahlt werden könnte.

Es gibt sogar recht plausible ordnungspolitische Gründe für ein solches Vorgehen. Wenn wir die Erhaltung des Rechtsstaates als genuines Gemeinschaftsprojekt ansehen und wenn wir davon ausgehen, dass der Rechtsstaat mit dem Schutz der Privatrechtsgesellschaft von ausschlaggebender Bedeutung für die Produktivität der Bürger und den Wohlstand der Gesellschaft ist, dann kann man alle Bürger zunächst als Teilhaber an diesem gemeinsamen Projekt betrachten. Das kann ein vernünftig konzipiertes Bürgergeld allen Bürgern veranschaulichen und für sie elementar als Teilhaberecht erfahrbar machen.

Würde man beispielsweise an einen Betrag von ca. 100 € monatlich für Kinder und 200 € für Erwachsene denken, um konkrete Zahlen zur Veranschaulichung heranziehen zu können, dann wäre das unter bestimmten Anpassungen anderer Umverteilungssysteme machbar. Die Einzelheiten wären auszuarbeiten, z.B. eine Senkung aller staatlichen Renten und Pensionszahlungen um 100 € könnte durch 200 € Bürgergeld überkompensiert werden. Das gleiche könnte im Falle der Hartz IV Unterstützung vollzogen werden.

Man könnte und sollte zudem den auszuzahlenden Betrag proportional davon abhängig machen, welchen Anteil seines Lebens eine Person im Lande verbracht und insoweit an der Bestandswahrung des Rechtsstaates teilgenommen hat. Eine Einschränkung der Bezugsberechtigung für jene, die straffällig wurden, etwa für die Zeit der Haftstrafe, läge ebenfalls wegen des Verstoßes gegen die Rechtsordnung nahe (für eine Einbettung in die Diskussion um die Erneuerung der Demokratie vgl. Kliemt 2017).

Die Wirkung, dass nur Inländer, die von Ihren Eltern das Geburtsrecht, Bürger zu sein, erhielten und die kein fundamental den Rechtsfrieden störendes Verhalten zeigten, voll bezugsberechtigt sind, scheint nur fair. Selbstverständlich nehmen die Alteingesessenen es als unfair wahr, wenn Neuankömmlinge ohne weiteres an den Früchten eines historisch akkumulierten Sozialkapitals teilhaben dürfen (dass die Ressentiments gegen Zuzug in der vormaligen DDR und auch unter den dortigen Rentnern, die als „Neuankömmlinge“ in der Bundesrepublik besonders von der Wiedervereinigung profitiert haben, besonders stark zu sein scheinen, scheint zwar grotesk, doch muss es als Tatsache ernst genommen werden).

  1. Schlussfolgerungen?

Es geht hier nicht um Details und noch nicht einmal um den Vorschlag des minimalen Bürgergeldes als solchen. Es geht darum, dass wir endlich darüber nachdenken, wie wir für jeden Bürger konkret und praktisch (und nicht nur theoretisch abstrakt) erfahrbar werden lassen, dass er erstens als autonomes Subjekt, das selbst über sein Einkommen befinden kann, respektiert wird – dazu gehört auch, dass der Bürger sein Geld in kalten Schnaps anstatt einer warmen Suppe anlegen darf – und dass zweitens anerkannt wird, dass jeder Bürger Teil des großen Gemeinschaftsprojektes des Erhalts der Rechtsordnung ist.

Alle, die den Staat nicht aktiv umzustürzen und nur im Rahmen der dafür vorgesehenen Regeln zu verändern suchen, tragen letztlich dazu bei, dass die Quelle unseres Wohlstandes, der freiheitlich demokratische Rechtsstaat erhalten bleibt. Es scheint fair, dass die negativen Effekte der Privatrechtsgesellschaft, die in der innovativen Erschließung von neuen Einkommensquellen die Zerstörung von Einkommensquellen zulässt, grundsätzlich kompensiert werden. (Wer das Bürgergeld als Duldungsprämie zu diskreditieren sucht, verweist in jedem Falle auf die Tatsache, dass eine Unduldsamkeit möglich und vermutlich nicht in seinem Interesse wäre.)

Die empirische Hauptfrage bleibt, ob der Bartransfer eines für alle grundsätzlich gleichen Bürgergeldes tatsächlich die Erfahrung der Stakeholderschaft vermitteln kann. Wenn das so ist, könnte dies zu einer Veränderung des (expressiven) Wahlverhaltens führen, indem die Legitimitätsüberzeugungen gegenüber dem Rechtsstaat und den ihn tragenden Parteien gestärkt würden. Zuvor sollte die Vision eines Bürgergeldes Wähler anziehen können.

Die Verhandlungen um eine Jamaika Koalition standen standen für nüchterne Politik. Nüchterne ist grundsätzlich besser als visions-trunkene Politik. Die staatstragenden Parteien wären aber dennoch gut beraten, sich um konkrete Visionen wie das Bürgergeld konkrete Gedanken zu machen. Linke und rechte Populisten sind nicht nur erfolgreich wegen der negativen Protestgefühle, sondern auch wegen des Fehlens positiver konstruktiver Politikvorstellungen. Die Lücke muss endlich von konstruktiven Visionen rechtsstaatskonform geschlossen werden.

Literatur

Acemoglu, Daron, and James A. Robinson. Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. S. Fischer, 2013.

Buchanan, J. M. and Wagner, R., Public Principles of Public Debt, The Collected Works of James M. Buchanan, edited by H. Geoffrey Brennan, Hartmut Kliemt, and Robert D. Tollison. Indianapolis: Liberty Fund, 1999.

Kliemt, Hartmut, “Direct constitutional democracy: Comment on “Proposals for a Democracy of the Future“ by Bruno Frey, Homo Oeconomicus, 34(2), 237-242, DOI 10.1007/s41412-017-0052-5

Norberg, Johan. Progress: Ten Reasons to Look Forward to the Future. Reprint. Place of publication not identified: Oneworld Publications, 2017.

Blog-Beiträge zum Thema:

Pro&Contra: Bedingungsloses Grundeinkommen und soziale Marktwirtschaft

Norbert Berthold: Des Läba isch koin Schlotzer. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist grober Unfug

Eine Antwort auf „Realpolitische Visionen“

  1. Eine solche realpolitische Vision eines Bürgergeldes verfolge ich schon seit längerem; und zwar sowohl in der Höhe, die Sie hier ins Spiel gebracht haben als auch wegen der symbolischen Funktion. Die demokratischen Zerfallsprozesse in der Mitte der Gesellschaft finden aber nicht nur in Deutschland statt, sondern in vielen Ländern Europas. Insofern wäre ein solches Projekt eine gute Möglichkeit, den Desintegrationstendenzen entgegen zu wirken.

    Damit wir auch zukünftig die mehr oder weniger willkürlichen Ziele des Fiskalpakts formell erfüllen, sollte dieses Bürgergeld „schuldfrei“ unmittelbar von der EZB kommen. Wenn jeder Bürger von Euroland pro Monat 100 Euro erhielte, entspräche dies aktuell ca. 2 % des BIP und somit den längerfristigen durchschnittlichen Budgetdefiziten, die wiederum für die längerfristige Inflationsrate mitverantwortlich sind. Zahlreiche weitere Vorteile eines solchen niedrigen Bürgergeldes hatte ich vor einiger Zeit mal hier dargelegt: https://makronom.de/14-argumente-fuer-ein-zentralbankfinanziertes-buergergeld-17593.

    LG Michael Stöcker

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